John J. Mearsheimer
John Joseph Mearsheimer (* 14. Dezember 1947 in Brooklyn, New York City) ist ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler an der University of Chicago. Er befasst sich hauptsächlich mit Internationalen Beziehungen. 2001 wurde er mit seinem Buch über offensiven Neorealismus bekannt, The Tragedy of Great Power Politics. Mearsheimer ist zusammen mit Stephen Walt Autor des New York Times Bestsellers The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy (2007). Seine Veröffentlichung von 2011 Why Leaders Lie: The Truth About Lying in International Politics kategorisiert die „Lügen, die Staaten einander erzählen“[1] Nach einem Interview mit Mearsheimer in The Boston Globe ist die Lehre des Buchs „Lüge selektiv, lüge gut und mach deine Sache so gut du kannst.“[2]
Leben
Mearsheimer wurde im Dezember 1947 in Brooklyn, New York geboren und wuchs bis zum achten Lebensjahr in New York City auf, bis seine Eltern nach Croton on Hudson umzogen.[3]
Im Alter von 17 Jahren ging Mearsheimer zur Armee. Nach einem Jahr entschied er sich, die Militärakademie in West Point zu besuchen, wo er von 1966 bis 1970 blieb. Nach seinem Abschluss diente er fünf Jahre als Offizier in der Luftwaffe.[4][5]
In dieser Zeit erwarb er den Master-Abschluss in Internationalen Beziehungen von der University of Southern California. Danach studierte er an der Cornell University und erwarb 1980 seinen Ph.D. in Regierungslehre mit besonderem Schwerpunkt auf Internationalen Beziehungen. Von 1978 bis 1979 arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Brookings Institution in Washington, D.C.; von 1980 bis 1982 war er Assistent am Center for International Affairs an der Harvard University. Von 1998 bis 1999 war er Mitarbeiter am Council on Foreign Relations in New York.[3]
Universität von Chicago
Seit 1982 ist Mearsheimer Mitglied der politikwissenschaftlichen Fakultät der University of Chicago.[6] Er wurde 1984 Privatdozent, 1987 ordinierter Professor und wurde 1996 zum „R. Wendell Harrison Distinguished Service Professor“ ernannt. Von 1989 bis 1992 war er Leiter der politikwissenschaftlichen Abteilung. Er ist auch Fakultätsmitglied des Graduiertenprogramms und zweiter Direktor des Programms für Internationale Sicherheitspolitik.[7]
Mearsheimers Publikationen umfassen Conventional Deterrence (1983), das den Edgar S. Furniss Jr.-Buchpreis erhielt, Nuclear Deterrence: Ethics and Strategy (co-editor, 1985); Liddell Hart and the Weight of History (1988); The Tragedy of Great Power Politics (2001), das den Lepgold Book Prize gewann; The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy (2007) und Why Leaders Lie: The Truth About Lying in International Politics (2011). Seine Artikel erscheinen in Fachzeitschriften wie International Security und Magazinen wie The London Review of Books. Er schreibt Gastbeiträge für The New York Times, die Los Angeles Times, und die Chicago Tribune.[7]
Mearsheimer hat mehrere akademische Auszeichnungen erhalten, 1977 den Clark Award für herausragende Leistungen in der akademischen Lehre, 1985 den Quantrell Award für herausragende Lehre an der University of Chicago. 2003 wurde er in die Akademie der Künste und Wissenschaften gewählt.[7]
John Mearsheimer ist Hauptvertreter einer Richtung der neorealistischen Theorie in Internationalen Beziehungen, die als Offensiver Neorealismus bezeichnet wird. Nach dieser Theorie sind Staaten mit einem gegebenen Maß an Macht nicht zufrieden, sondern streben aus Sicherheitsgründen nach Hegemonie.
Abschreckung
Mearsheimers erste Monografie Conventional Deterrence (1983) befasst sich mit der Frage, inwiefern die Entscheidung, einen Krieg zu beginnen, vom vermuteten Ausgang des Konflikts abhängig ist. Sein Hauptargument hinsichtlich der Wirksamkeit der Abschreckungspolitik, die zu seiner Zeit die Außenpolitik bestimmte, ist, dass sie nur dann wirksam ist, wenn der mögliche Angreifer den Erfolg seines Angriffs für unwahrscheinlich oder zu kostenintensiv hält. Im gegenteiligen Fall ist die Abschreckung unwirksam. Diese Annahme seiner Theorie wird allgemein geteilt. Im Besonderen hängt der Erfolg des Angreifers von der Strategie seines Gegners ab. Die erste von drei möglichen Strategien ist die des Erschöpfungskrieges, der ein hohes Maß an Ungewissheit über den Ausgang und hohe Kosten für den Angreifer mit sich bringt. Die zweite „Strategie der begrenzten Ziele“ ist risikoärmer und weniger aufwändig. Die dritte Strategie, die einen „Blitzkrieg“ plant, verspricht schnellen und entscheidenden Erfolg zu geringen Kosten. Mearsheimer schreibt die Misserfolge auf modernen Kriegsschauplätzen dem Irrtum des Angreifers zu, einen Blitzkrieg führen zu können.[8] Die anderen beiden Strategien führen kaum zum Versagen der Abschreckung, weil (beim Erschöpfungskrieg) die geringen Erfolgschancen und die hohen Kosten oder (bei der Strategie der begrenzten Ziele) die nur geringen Gewinne verbunden mit dem Risiko der Entstehung eines Erschöpfungskrieges dagegen stehen. Wenn der Angreifer jedoch eine schlüssige „Blitzkrieg“- Strategie besitze, sei ein Angriff wahrscheinlich, da die möglichen Vorteile die Kosten und Risiken überwögen.[9]
Neben Analysen des Zweiten Weltkrieges und des arabisch-israelischen Konflikts leitet Mearsheimer daraus Schlussfolgerungen für Mitteleuropa im Kalten Krieg ab. Ein Angriff der Sowjetunion erschien ihm 1983 unwahrscheinlich, da eine Blitzkriegstrategie nicht angewandt werden konnte. Das Mächtegleichgewicht und die Schwierigkeiten eines raschen Vorstoßes durch Mitteleuropa angesichts der NATO-Streitkräfte machten den Ausbruch eines konventionellen Krieges unwahrscheinlich.[10]
Atomare Abschreckung
1990 veröffentlichte Mearsheimer einen Aufsatz,[11] in dem er die These vertrat, dass Europa zu einer multipolaren Situation ähnlich der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückkehren könnte, wenn amerikanische und sowjetische Truppen sich nach dem Ende des Kalten Krieges zurückzögen. In einem anderen Artikel in The Atlantic vertrat er die These, dass diese multipolare Situation die Verbreitung von Atomwaffen fördern könnte, besonders in Deutschland.[12]
In diesem Aufsatz und in einem Artikel in Foreign Affairs von 1993 „The case for a Ukrainian nuclear deterrent“,[13] befürwortete er zur Verringerung der Kriegsgefahr, dass die USA Deutschland und die Ukraine ermutigen sollten, ein Nuklearwaffenarsenal aufzubauen, um der Gefahr durch einen extremen Nationalismus zu begegnen. Er stellte mehrere Szenarien für ein Europa ohne Anwesenheit amerikanischer und russischer Streitkräfte vor. Ein Europa mit Nuklearwaffen könne mit großer Wahrscheinlichkeit den Frieden bewahren; ohne eine nukleare Abschreckung würde Deutschland sicher wieder den Kontinent erobern (Seite 32–33).[11] Für die Ukraine wäre es strategisch unklug, ihr nukleares Arsenal aufzugeben, was 1994 aber beschlossen und bis 1996 verwirklicht wurde. 2006 auf seine erste Annahme angesprochen, vertrat er weiterhin die Auffassung, seine Voraussagen würden sich bewahrheiten, wenn die USA sich aus Europa zurückzögen.[14]
In Gastbeiträgen der Jahre 1998 und 2000 für The New York Times, verteidigte Mearsheimer das Recht Indiens, Nuklearwaffen zu erwerben, um Chinas und Pakistans Einfluss durch eine Abschreckungsstrategie auszugleichen und so den Frieden in der Region zu sichern. Er kritisierte die Nichtverbreitungspolitik der USA gegenüber Indien, weil er sie für unrealistisch und den amerikanischen Interessen in der Region zuwiderlaufend hielt.[15]
Offensiver Neorealismus
John Mearsheimer ist der führende Vertreter der Theorie des Offensiven Neorealismus. Diese Strukturtheorie legt anders als der klassische Realismus Hans Morgenthaus das Hauptgewicht auf die Konkurrenz der Großmächte um Sicherheit innerhalb des anarchischen internationalen Systems und nicht auf die Persönlichkeit von Politikern und Diplomaten. Im Unterschied zum defensiven Realismus von Kenneth Waltz betont er, dass Staaten mit einem gegebenen Maß an Macht nicht zufrieden sind, sondern aus Sicherheitsgründen Hegemonie anstreben, weil die anarchische Struktur des internationalen Systems große Anreize für Staaten schaffe, Gelegenheiten zur Machterweiterung auf Kosten anderer zu suchen.[16] Mearsheimer fasste seine Vorstellungen 2001 in dem Buch The Tragedy of Great Power Politics wie folgt zusammen:
„Unter der Voraussetzung, dass es kaum zu bestimmen ist, wieviel Macht heute und morgen genügen wird, erkennen die Großmächte, dass der beste Weg, ihre Sicherheit zu gewährleisten, darin besteht, jetzt eine hegemoniale Stellung zu erreichen, womit sie jede Möglichkeit einer Herausforderung durch eine andere Großmacht ausschließen. Nur ein fehlgeleiteter Staat würde die Gelegenheit, Hegemonialmacht zu werden, an sich vorbeigehen lassen, weil er denkt, er habe schon genügend Macht um zu überleben.“[17]
In dieser Welt gebe es keine Status-quo-Macht, da „eine Großmacht mit einem Machtvorteil sich gegenüber ihren Gegnern aggressiv verhält, weil sie die Fähigkeit und den Anreiz dazu hat.“ Er lehnt daher die demokratische Friedenstheorie ab, die postuliert, dass Demokratien nie oder nur selten Kriege miteinander führen.
Mearsheimer glaubt nicht an die Möglichkeit einer globalen Hegemonie. Staaten könnten nur regionale Hegemonie erreichen. Staaten versuchen, andere davon abzuhalten, regionale Hegemonie zu erreichen, weil sie sich in die staatlichen Angelegenheiten der Mitbewerber einmischen könnten. Staaten wie die USA, die regionale Hegemonie erreicht haben, wirken als Balancekräfte, die in anderen Regionen nur dann eingreifen, wenn die dortigen Mächte den Aufstieg eines Hegemons nicht verhindern können. 2004 lobte Mearsheimer den Historiker E. H. Carr für dessen Buch The Twenty Years' Crisis, da dieser behauptet hatte, internationale Beziehungen seien ein „Krieg aller gegen alle“, in dem jeder Staat seine Interessen für erstrangig hält.[18] Mearsheimer vertritt die Meinung, dass Carrs Argumente im Jahre 2004 wie für 1939 gültig sind und bedauerte die vorherrschende idealistische Auffassung über internationale Politik in akademischen Kreisen Großbritanniens.[19]
Zweiter Golfkrieg
1991 publizierte Mearsheimer zwei Gastbeiträge in der Chicago Tribune und der New York Times, in denen er darstellte, dass der Krieg zur Befreiung Kuwaits rasch zu einem siegreichen Ende geführt und weniger als 1000 Opfer auf amerikanischer Seite kosten könne. Diese Sicht der Dinge widersprach der allgemeinen Wahrnehmung zu Kriegsbeginn, nach der ein monatelanger Krieg mit mehreren tausend Opfern auf amerikanischer Seite zu erwarten war. Mearsheimer berief sich auf die rückständige Ausrüstung der irakischen Streitkräfte, die bessere Ausrüstung und Ausbildung der amerikanischen Truppen, besonders der Artillerie, die Luftüberlegenheit und die ungünstige Aufstellung der irakischen Truppen, die einen Durchbruch der amerikanischen Verbände ermöglichte. Der Kriegsverlauf bestätigte seine Annahmen.[20][21]
Aufforderung zu einer umfassenderen Entschuldigung an Elisabeth Noelle-Neumann
Mitte Oktober 1991 geriet Mearsheimer als Departementsleiter in eine Kontroverse mit der Gastprofessorin Elisabeth Noelle-Neumann um einen Artikel von Leo Bogart über ihre Tätigkeit als Autorin und Herausgeberin der Nazi-Zeitung Das Reich. Nach einem Gespräch mit ihr erklärte Mearsheimer öffentlich: „Ich glaube, dass Noelle-Neumann eine Antisemitin war.“[22] Er führte eine Kampagne an, in der sie aufgefordert wurde, sich zu entschuldigen.[23][24]
Noelle-Neumann hielt es für unangemessen, ihre Artikel aus heutiger Sicht losgelöst von ihrer Entstehungszeit zu beurteilen[22], worin sie von Lloyd Irving Rudolph unterstützt wurde: Erst nach dem Krieg hätte sich die im Übrigen falsche Meinung verbreitet, die USA hätten sich vor ihrem Kriegseintritt um das Schicksal der Juden Sorgen gemacht.[25]
Israelische Lobby
Im März 2006 veröffentlichten Mearsheimer und Stephen Walt ein Arbeitspapier[26] und einen Artikel im London Review of Books[27] über die Rolle der israelischen Lobby in der amerikanischen Außenpolitik. Sie definieren sie als „lose Koalition von Einzelpersonen und Organisationen, die sich aktiv dafür einsetzen, die amerikanische Außenpolitik in eine israelfreundliche Richtung zu steuern“. Die Autoren legen Wert darauf, dass es nicht angemessen sei, von einer „jüdischen“ Lobby zu sprechen, da nicht alle Juden eine enge Bindung an Israel haben und einige Unterstützer der Lobby keine Juden seien – „christliche Zionisten“ spielten ebenso eine bedeutende Rolle. Die Israel-Lobby sei keine Verschwörung, sondern einfach eine mächtige Interessengruppe wie andere Lobbys auch. Das Hauptargument der Autoren gegen die Israel-Lobby ist, dass sie weder im Interesse der USA noch im Interesse Israels arbeite. Der Artikel wurde Teil eines Buches mit dem Titel „The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy“.
Konflikt zwischen Israel und Palästina
Mearsheimer kritisierte 2006 den Krieg gegen den Libanon, weil Israels Strategie zum Scheitern verurteilt sei – sie beruhe auf der falschen Annahme, dass die israelischen Luftstreitkräfte eine Guerilla-Streitmacht wie die Hisbollah besiegen könnten. Der Krieg war seiner Meinung nach eine Katastrophe für das libanesische Volk und ein schwerer Rückschlag für die USA und Israel.[28] Die Israel-Lobby habe eine Schlüsselrolle dabei gespielt, Israels kontraproduktive Reaktion zu ermöglichen, indem die USA darin gehindert wurde, unabhängigen Einfluss auszuüben.[29]
Mearsheimer kritisierte auch Israels Gazaoffensive gegen Hamas im Dezember 2008. Dieser Angriff würde die Fähigkeit der Hamas, Raketen auf Israel abzuschießen, nicht ausschalten und die Hamas nicht dazu bewegen, ihren Kampf mit Israel zu beenden. Die Beziehungen würden sich eher weiter verschlechtern.[30]
Mearsheimer betonte, die einzige Hoffnung für ein Ende des Konflikts sei die Beendigung der Besetzung der Westbank und die Erlaubnis, einen Palästinenserstaat zu gründen. Ansonsten würde sich Israel in einen „Apartheidstaat“ verwandeln.[31]
Mearsheimers Kritik an Israel bezog auch dessen Nuklearwaffenbesitz ein. 2010 versicherte Mearsheimer, Israel als Nuklearmacht sei nicht im amerikanischen Interesse, und zog Israels Verantwortlichkeit in Zweifel.[32]
Vorlesung über die Zukunft Palästinas
Im April 2010 bezeichnete Mearsheimer die Zweistaatenlösung als „Phantasie“, da Israel den Gazastreifen und die Westbank in ein „Groß-Israel“ eingliedern werde, das dann zu einem „Apartheidstaat“ werden würde. Dieser Staat wäre politisch nicht lebensfähig, die meisten amerikanischen Juden würden ihn nicht unterstützen. Am Ende würde daraus ein demokratischer binationaler Staat werden, in dem die Palästinenser die Mehrheit hätten. Amerikanische Juden, denen Israel am Herzen liege, könne man in drei Gruppen einteilen: Neue „Südafrikaner“, die Israel unterstützten, auch wenn es ein „Apartheidstaat“ wäre, „gerechte“ Juden, die an die universelle Gültigkeit der Menschenrechte glauben, und die große „ambivalente Mitte“. Deren Angehörige würden einen „Apartheidstaat“ nicht unterstützen, weil amerikanische Juden zu den nachdrücklichsten Verteidigern der traditionellen liberalen Werte gehören, weshalb die „Südafrika“-Fraktion mit der Zeit marginalisiert würde. Mearsheimer führte aus, die meisten Mitglieder der Israel-Lobby seien „neue Südafrikaner“, und nannte Abraham Foxman der Anti-Defamation League, David Harris des American Jewish Committee, Malcolm Hoenlein der Conference of Presidents of Major American Jewish Organizations, Ronald Lauder des World Jewish Congress, Morton Klein der Zionist Organization of America; außerdem „Geschäftsleute“ wie Sheldon Adelson, Lester Crown, and Mortimer Zuckerman und „Medienpersönlichkeiten“ wie Fred Hiatt, Charles Krauthammer, Bret Stephens und Martin Peretz.[33]
Gilad Atzmon
2011 schrieb John Mearsheimer über Gilad Atzmons Buch The Wandering Who: „Gilad Atzmon hat ein faszinierendes und provokantes Buch über jüdische Identität in der modernen Welt geschrieben. Er zeigt, wie Assimilation und Liberalismus es für Juden in der Diaspora zunehmend schwierig machen, einen starken Sinn für ihr 'Jüdischsein' zu bewahren. Verängstigte jüdische Führungspersönlichkeiten haben sich dem Zionismus (blinde Loyalität gegenüber Israel) und der Panikmache (Bedrohung durch einen neuen Holocaust) zugewandt, um den 'Stamm' zu einen und von den „Goyim“ der Umwelt abzugrenzen. Wie Atzmons eigener Fall zeige, gelingt diese Strategie nicht und bereite vielen Juden großes Leid.“ Auf Jeffrey Goldbergs Behauptung, Atzmon sei Antisemit, antwortete Mearsheimer: „Atzmons Hauptargument ist der häufige Widerspruch zwischen der universalistischen Rede und dem partikularistischen Denken und Handeln von Juden. Sie sprechen wie Liberale, aber handeln wie Nationalisten ...“. In diesem Zusammenhang behandelt er (Atzmon), was er die „Holocaust-Religion“ nennt, den Zionismus und Israels Umgang mit den Palästinensern. Er hat, um es noch einmal zu sagen, keine feindseligen Vorbehalte gegenüber der Religion oder gegenüber Einzelpersonen, die Juden von Geburt sind.[34] Jon Chait führte in einer Entgegnung Zitate aus Atzmons Buch an, die explizit antisemitischen Charakter trügen, indem sie zeitlose antisemitische Vorurteile aufgriffen.[35]
China
Mearsheimer vertritt die Meinung, dass Chinas Aufstieg nicht friedlich vonstattengehen wird.[36][37] Die USA würden Chinas Einfluss eindämmen und seinen Aufstieg zur Regionalmacht verhindern.[38][39][40][41] China werde versuchen, die Asien-Pazifik-Region so zu dominieren wie die USA die westliche Welthalbkugel. Es ginge dabei um Sicherheit und Überlegenheit gegenüber den Nachbarn, die dies als mögliche Bedrohung ihrer Stellung ansähen.[42] Die USA würden eine Koalition aus Indien, Japan, den Philippinen, Südkorea, Vietnam und Indonesien zu bilden suchen, um Chinas wachsende Macht auszugleichen.[43] Er weist auf die verstärkte Allianz mit Vietnam und Indien hin, die diese Entwicklung zeigten.[44][45]
Auch Australien sollte wegen des Aufstiegs Chinas besorgt sein, denn dieser würde zu einer intensiven Konkurrenz zwischen China und den USA führen und die Region destabilisieren.[46] Mearsheimer weist darauf hin, dass China die aggressive Theorie Alfred Thayer Mahans übernommen habe, der sich für die Kontrolle der Weltmeere und für „Entscheidungsschlachten“ ausgesprochen habe.[42]
Lüge in der Internationalen Politik
Mearsheimer schrieb das erste systematische Werk über die Rolle der Lüge in der internationalen Politik. In Why Leaders Lie (Oxford University Press, 2011) stellte er dar, dass politische Führer das Ausland ebenso wie das eigene Volk belügen, weil sie daran glauben, damit ihrem Land zu dienen. Präsident Franklin D. Roosevelt log bei dem USS Greer-Vorfall im September 1941, weil er davon überzeugt war, dass der Kriegseintritt im nationalen Interesse der USA liege.
Mearsheimers wichtigste Befunde sind, dass die Lügen gegenüber dem Ausland nicht so häufig sind und dass demokratische Politiker häufiger ihr eigenes Volk belügen als Diktatoren.[47] Saddam Hussein log nicht hinsichtlich des Besitzes von Massenvernichtungswaffen — er sagte wahrheitsgemäß, er habe keine –, aber George W. Bush und seine Hauptberater belogen das amerikanische Volk über die angebliche Bedrohung durch den Irak. Am häufigsten werde das Volk in Demokratien belogen, wenn es darum geht, einen selbstgewählten Krieg an fernen Schauplätzen zu führen. Lüge gegenüber anderen Ländern sei selten, da eine Atmosphäre gegenseitigen Misstrauens herrsche, besonders, wenn es um Sicherheitsfragen geht. Erfolgreiches Lügen setze Vertrauen voraus. So ist es für Politiker leichter, das eigene Volk zu belügen, da hier meist ein höheres Maß an Vertrauen gegeben ist.
Typologie der Lüge
Mearsheimer unterscheidet fünf Arten der politischen Lüge:
- Lügen zwischen Staaten,
- Panikmache,
- Strategische Verschleierung,
- Nationale Mythen und
- Liberale Lügen.
Lügen gegenüber anderen Ländern können negative Folgen haben:
- Der Bumerang-Effekt führe zu einer Kultur der Täuschung im Inland;
- Die „Fehlzündung“ bedeute, dass die politischen Ziele durch die Lüge gerade unmöglich gemacht werden.
Neben der Lüge unterscheidet Mearsheimer noch weitere Täuschungstechniken:
- „Verheimlichung“, wenn etwas Wichtiges verschwiegen wird, und
- „Seemannsgarn“, wenn Geschichten erzählt werden, die die Bewertung von Vorgängen einseitig beeinflussen.
Ukraine-Krise
In der Ukraine-Krise 2014 kritisierte Mearsheimer rückblickend die Außenpolitik der USA. Mearsheimer hatte bereits 1993 gewarnt, eine atomwaffenfreie Ukraine bleibe der Gefahr russischer Wiedereroberungsversuche ausgesetzt.[48] In einem Artikel in Foreign Affairs im August 2014 wies er somit die Verantwortung für den Ausbruch des Konflikts zu einem größeren Teil den USA und ihren europäischen Verbündeten zu, welche die Ereignisse völlig unvorbereitet getroffen hätten.[49] Sie hätten in Kenntnis der ablehnenden, aus dem Sicherheitsinteresse Russlands heraus verständlichen Haltung Russlands die Osterweiterung der EU und, mit dieser aus russischer Sicht verbunden, der NATO vorangetrieben und die Demokratisierung der Ukraine unterstützt. Putins Reaktion, meinte er, sei verständlich, die Ukraine sei (als blockfreier Staat) als Puffer für Russlands Sicherheitsbedürfnis „unabdingbar“.
In Übereinstimmung mit George F. Kennans Einschätzung von 1998[50] sieht er hinter der Osterweiterung eine mögliche gefährliche Provokation Russlands. Die politischen Fehler führt Mearsheimer auf den Mangel an politischem Realismus und auf einen zu großen Einfluss der Liberalen im Gefolge Clintons zurück. Der einzige sinnvolle Weg aus der Krise sei, die Sicherheitsinteressen Russlands nüchtern einzukalkulieren. Die Ukraine müsse die Rolle des Puffers oder der Brücke akzeptieren, die ihr durch ihre geostrategische Situation vorgegeben sei. Alles andere sei abstrakt und realpolitisch bedeutungslos. Die konstruktive Zusammenarbeit des Westens mit Russland sei zur Lösung wichtiger bestehender und anstehender Probleme von großer Bedeutung und sollte nicht aufs Spiel gesetzt werden. Mearsheimer benannte auch die Waffen und "Berater", die Russland zur Verfügung stellt, um die Ukraine in einen "Bürgerkrieg" zu führen.[51] Nachdem Denkfabriken wie die Brookings Institution sich für Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen hatten, um die Kosten eines Angriffs für Putin zu erhöhen[52], argumentierte Mearsheimer dagegen, die strategische Bedeutung sei für Russland so groß, dass es den Konflikt um jeden Preis fortführen würde, bis hin zum drohenden Einsatz von Nuklearwaffen.[53]
Der damalige US-Botschafter in Russland, Michael McFaul, entgegnete, dass die russische Außenpolitik nicht eine Reaktion auf die USA sei, sondern auf der inneren russischen Dynamik der Jahre 2011/12 beruhe.[54]
Veröffentlichungen (Auswahl)
Bücher
- Conventional Deterrence. Cornell University Press, Ithaca 1983, ISBN 0-801-41569-1.
- mit Russell Hardin, Robert E. Goodin & Gerald Dworkin (Hrsg.): Nuclear Deterrence: Ethics and Strategy. University of Chicago Press, 1985
- Liddell Hart and the Weight of History. Cornell University Press, Ithaca 1988, ISBN 0-801-42089-X.
- The Tragedy of Great Power Politics. Norton, New York 2001, ISBN 0-393-02025-8.
- mit Stephen M. Walt: The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy. Farrar, Straus and Giroux, 2007, ISBN 0-374-17772-4
- Die Israel-Lobby. Wie die amerikanische Außenpolitik beeinflusst wird. Campus-Verlag, Frankfurt/New York 2007, ISBN 3-593-38377-2.
- Why Leaders Lie. The Truth about Lying in International Politics. Oxford University Press, New York 2011, ISBN 9780199758739.
- Lüge! Vom Wert der Unwahrheit. Aus dem Englischen von Andreas Simon dos Santos, Campus-Verlag, Frankfurt/New York 2011, ISBN 978-3-593-39469-5.
- The great delusion. Liberal dreams and international realities. Yale University Press, New Haven 2018, ISBN 978-0-300-23419-0.
Artikel
- Back to the Future: Instability in Europe After the Cold War. In: International Security. Vol. 15, No. 4, Sommer 1990, S. 5–56 (PDF; 5,49 MB)
- The False Promise of International Institutions. In: International Security. Vol. 19, No. 3, Winter 1994/1995, S. 5–49 (PDF; 5,592 MB)
- A Realist Reply. In: International Security. Vol. 20, No. 1, Sommer 1995, S. 82–93 (PDF; 1,986 MB)
- mit Stephen Van Evera: When peace means war. In: The New Republic. 18. Dezember 1995, S. 16–21 (PDF; 2,124 MB)
- mit Stephen M. Walt: Serientäter Saddam? Die Beweise der Kriegsbefürworter stechen nicht. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Jg. 48, Nr. 3, März 2003, S. 296–306
Literatur
- Robert D. Kaplan: Why John J. Mearsheimer Is Right (About Some Things). In: The Atlantic. Januar/Februar 2012 (englisch)
- Randall L. Schweller & David Priess: A Tale of two Realisms. Expanding the Institutions Debate. In: Mershon International Studies Review. Jg. 41, 1997, S. 1–32
Weblinks
- John J. Mearsheimer auf der Website der University of Chicago
- Through the Realist Lens, Interview mit Harry Kreisler in der Reihe Conversations with History, Website des Institute of International Studies an der University of California, Berkeley, 8. April 2002
Einzelnachweise
- Reid, Stuart (14. Januar 2011) Diplomacy and Duplicity, Slate.com
- Keohane, Jon (2. Januar 2011)/ref> Why leaders lie, Boston Globe
- John Mearsheimer Interview: Conversations with History; Institute of International Studies, UC Berkeley
- Conversations in International Relations:Interview with John J. Mearsheimer (Part I)
- Conversations in International Relations: Interview with John J. Mearsheimer (Part II)
- Department of Political Science Faculty page (Memento vom 17. Februar 2012 im Internet Archive).
- World Affairs Council of Northern California profile of John Mearsheimer (Memento vom 27. September 2013 im Internet Archive)
- John Mearsheimer, Why the Soviets Can't Win Quickly in Central Europe, early article version of Conventional Deterrence chapter, undated.
- John Mearsheimer: Back to the Future. In: International Security. 15, Nr. 1, 1990, S. 5–56. JSTOR 2538981. doi:10.2307/2538981.
- John Mearsheimer: Why We Will Soon Miss the Cold War. In: The Atlantic. 90, Nr. 8, August 1990, S. 35–50.
- "The case for a Ukrainian nuclear deterrent", 1993.
- John Mearsheimer: Conversations in International Relations: Interview with John J. Mearsheimer (Part I). In: International Relations. 20, Nr. 1, 2006, S. 105–123, siehe S. 116. doi:10.1177/0047117806060939.
- India Needs The Bomb, The New York Times, 24. März 2000.
- John, J. Mearsheimer: The Tragedy of Great Power Politics. New York: W.W. Norton & Company, 2001.
- John Mearsheimer: The Tragedy of Great Power Politics. W. W. Norton, New York 2001, ISBN 0-393-02025-8, S. 35.
- John Mearsheimer: E.H. Carr vs. Idealism: The Battle Rages On. In: International Relations. 19, Nr. 1, 2005, S. 139. doi:10.1177/0047117805052810.
- John Mearsheimer: E.H. Carr vs. Idealism: The Battle Rages On. In: International Relations. 19, Nr. 1, 2005, S. 140. doi:10.1177/0047117805052810.
- Elisabeth Noelle-Neumann: Accused Professor Was Not a Nazi. In: The New York Times. vom 14. Dezember 1991, S. 14.
- Peter Wyden: The Hitler Virus: The Insidious Legacy of Adolf Hitler. Arcade Publishing. 1998.
- Professor Is Criticized for Anti-Semitic Past. In: The New York Times. 28. November 1991, sec. U.S.
- The Noelle-Neumann Case In: Commentary Magazine. vom 4. Januar 1992. (Our Readers); Lloyd Irving Rudolph: "It was only after the war when knowledge of the Holocaust seized the world’s moral imagination that Hitler’s racism became a cause of our involvement. In judging Dr. Noelle-Neumann’s underestimation of the Nazi regime’s capacity for evil in the 1930’s, it is important to remember that she was not alone in her complicity. . . ."
- The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy (Memento vom 2. Februar 2007 im Internet Archive) von John J. Mearsheimer und Stephen Walt, Harvard University’s Kennedy School of Government Working Paper, Submitted 13 März 2006.
- The Israel Lobby von John Mearsheimer und Stephen Walt, London Review of Books, 23. März 2006.
- John J. Mearsheimer, Stephen M. Walt: The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy. 2007, S. 315–6.
- John J. Mearsheimer, Stephen M. Walt: The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy. 2007, S. 326.
- John J. Mearsheimer: Another War, Another Defeat. In: American Conservative. 26. Januar 2009; John J. Mearsheimer: Responses to Gaza. In: London Review of Books, 29. Januar 2009.
- John Mearsheimer: Saving Israel from Itself. In: American Conservative. 18. Mai 2009.
- John Mearsheimer: Israel's Nukes Harm US National Interests. Abgerufen am 2. September 2014.
- John Mearsheimer: The Future of Palestine: Righteous Jews vs. the New Afrikaners. In: Hisham B. Sharabi Memorial Lecture. The Jerusalem Fund. 29. April 2010. Abgerufen am 2. September 2014.
- Mearsheimer responds to Goldberg’s latest smear by Stephen M. Walt, September 26, 2011 (posted on Walt.Foreignpolicy.com)
- John Mearsheimer J.: China’s Unpeaceful Rise. In: Current History Magazine (Hrsg.): Current History. 105, Nr. 690, April 2006, S. 160–162.
- Why China Cannot Rise Peacefully
- China's Unpeaceful Rise, John J Mearsheimer, Current History; Apr 2006; 105, 690; Research Library, pg. 160
- The Atlantic, Why John J. Mearsheimer Is Right (About Some Things)
- The Chinese Journal of International Politics, Vol. 3, 2010, The Gathering Storm: China’s Challenge to US Power in Asia
- “The Rise of China Will Not Be Peaceful at All”, The Australian, November 18, 2005
- The Spectator, Saturday, 2nd October 2010, Australians should fear the rise of China
- https://www.abc.net.au/radionational/programs/bigideas/australia-and-a-us-china-conflict/11453662
- China vs. USA, Der heraufziehende Sturm, Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2010, S. 87 ff, Deutsche Übersetzung des Artikels in Fn. 43
- CLASH OF THE TITANS , Brzezinksi, Zbigniew & Mearsheimer, John J., Foreign Policy, Jan/Feb2005, Issue 146
- Mearsheimer am 4. August 2010 in seiner Michael Hintze Lecture in International Security: The Gathering Storm: China's Challenge to US Power in Asia
- Barker, Alexander (17. Oktober 2011) International Deceit, Oxonian Review
- The Case for a Ukrainian Nuclear Deterrent Universität Chicago /Foreign Affairs Sommer 1993
- „Putin reagiert – Warum der Westen an der Ukraine-Krise schuld ist“. Übersetzt und abgedruckt auf der Website der „IPG - Internationale Politik und Gesellschaft“ der Friedrich-Ebert-Stiftung am 1. September 2014 (mit Link zum Original-Artikel)
- Kennan’s Revenge (Memento vom 25. April 2014 im Internet Archive)
- John J. Mearsheimer: Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault. The Liberal Delusions That Provoked Putin- FA, Ausgabe Sept./Okt. 2014
- Steven Pifer and Strobe Talbott: Preserving Ukraine’s Independence, Resisting Russian Aggression: What the United States and NATO Must do, Februar 2015
- Don't Arm Ukraine, NYT, 8. Februar 2015; "There is no question that Ukraine’s military is badly outgunned by the separatists, who have Russian troops and weapons on their side."
- Faulty Powers - Who Started the Ukraine Crisis?, Foreign Affairs November 2014; “Russian foreign policy did not grow more aggressive in response to U.S. policies; it changed as a result of Russian internal political dynamics. The shift began when Putin and his regime came under attack for the first time ever.”