Haus Vaterland (Berlin)
Das Haus Vaterland war von 1928 bis 1943 ein großer Gaststättenbetrieb und Vergnügungspalast am Potsdamer Platz in Berlin mit rund einer Million Besuchern im Jahr, der als Vorläufer der heutigen Erlebnisgastronomie angesehen werden kann. Nach einem kriegsbedingten Großbrand 1943 wurde in Teilen des Gebäudes auch noch nach Kriegsende ein eingeschränkter Restaurantbetrieb mit mehreren Unterbrechungen fortgeführt und schließlich im Juni 1953 endgültig eingestellt.
Beschreibung
In den Gasträumen am Potsdamer Platz gab es eine Vielzahl von unterschiedlichen Themenrestaurants, die von einer zentralen Küche versorgt wurden: Rheinterrasse, Löwenbräu (bayerisches Bierrestaurant), Grinzing (Wiener Café und Weinstube), Türkisches Café, Spanische Bodega, Czardas, Japanische Teestube, Bremer Kombüse, Wild-West-Bar (Arizona-Bar; später als Kolonialstube bezeichnet) mit dem Kellner Bayume Mohamed Husen, Osteria (italienische Spezialitäten), Teltower Rübchen sowie der Palmensaal (Tanzlokal, Gestaltung: Ernst Stern und Josef Thorak). Hier gab es neben landesüblichen Speisen und Getränken auch diverse musikalische und künstlerische Veranstaltungen, Vorführungen und Varietéprogramme.
Berühmt waren die Wettersimulationen in der Rheinterrasse. Unter dem Motto „Im Haus Vaterland ißt man gründlich, hier gewitterts stündlich“ wurden in einer nachgebauten Kulisse der Rheintallandschaft bei St. Goar (mit Blick auf die Burg Rheinfels und den Loreleyfelsen) zu jeder Stunde die Saalbeleuchtung gedämpft sowie Donner, Blitz und Wolkenbrüche simuliert. Zum Schutz der Gäste vor den Regengüssen waren die Tischreihen mit Glasscheiben zur Kulisse hin abgetrennt. Im nachgebauten Rheintal fuhren Modelleisenbahnen, außerdem bewegten sich Schiffsmodelle auf dem Wasserlauf. Es wurden sogar in Kooperation mit der Lufthansa Flugzeugmodelle an dünnen Fäden durch die Kulissenlandschaft bewegt.
Geschichte
Der ursprüngliche Bau von 1912
Das sechsgeschossige Gebäude direkt neben dem Potsdamer Bahnhof an der westlichen Seite der Köthener Straße wurde von Februar 1911 bis Februar 1912 nach Plänen des Architekten Franz Schwechten zunächst als Haus Potsdam im Auftrag der Baugesellschaft am Potsdamer Platz AG (ab 1911: Bank für Grundbesitz und Handel AG) erbaut. Statiker war Otto Leitholf.[1]
Ursprünglich beherbergte es neben Büroräumen und dem Filmtheater Kammer-Lichtspiele am Potsdamer Platz das 2500 Sitzplätze große Café Piccadilly im Erdgeschoss. Dieses wurde 1914 zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Kaffee Vaterland umbenannt.
Umbau zur Großgaststätte 1927–28
Bereits 1922 wurden erste Umbaupläne vom Architekten Carl Stahl-Urach erstellt, aber noch nicht umgesetzt. 1927 begannen die Umbauten zur Großgaststätte, die bereits 1928 abgeschlossen werden konnten.[2]
Zur Wiedereröffnung am 31. August 1928 wurde eine Werbebroschüre herausgegeben, in der die Besonderheiten des Hauses, die einzelnen Gaststätten und einzelne Programmpunkte beschrieben wurden.[3]
Das Gebäude wurde nun unter dem Namen Haus Vaterland – Betrieb Kempinski von der Firma OHG M. Kempinski & Co. betrieben (Haus Vaterland Gaststätten GmbH), die das Haus für zehn Jahre vom Eigentümer – weiterhin die Bank für Handel und Grundbesitz – gepachtet hatte.
Das Gebäude bot einschließlich des Kinos Platz für ca. 8000 Gäste und wurde beim Umbau 1928 mit modernster Technik ausgestattet. Seit diesem Jahr beherbergte es mehrere unterschiedlich ausgerichtete Gaststätten (siehe Abschnitt Die Gaststätten des Hauses Vaterland 1928).
Das Gebäude vermittelte mit seiner Außenansicht, insbesondere mit den Steingewölben über den Bogenfenstern, den Eindruck einer massiven Steinbauweise, tatsächlich handelte es sich aber um einen Stahlskelettbau mit vorgeblendeter Steinfassade. Der große Kinosaal wurde in voller Breite von fünf kräftigen Stahlträgern überspannt.
Der repräsentative Bau brannte nach den alliierten Luftangriffen des Jahres 1943 teilweise, insbesondere im Bereich des Mittelbaus, aus. 1944 stand das noch nutzbare Kaffee Vaterland als Wehrmachtsheim für durchreisende Soldaten zur Verfügung, in dem jede Nacht Unterhaltungsveranstaltungen stattfanden. Von den Soldaten begeistert gefeiert, gastierten dort populäre Tanzorchester wie das von Kurt Widmann, die auch verbotene Swing-Titel spielten, was stillschweigend geduldet wurde. Das Tanzen war aber in den Kriegsjahren teilweise eingeschränkt. Nach weiteren Luftangriffen und den Kämpfen zum Kriegsende 1945 brannte das Haus erneut.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs lag das Gebäude im Sowjetischen Sektor Berlins. Die Räume des Kaffee Vaterland wurden mit einfachen Mitteln und schlichtem Mobiliar wieder hergerichtet und unter dem Namen Haus Vaterland als HO-Gaststätte noch bis zum Juni 1953 weiterbetrieben. Nach Brandstiftung während des Volksaufstands in der DDR am 17. Juni 1953 brannte das Gebäude schließlich völlig aus. Die Eskalation der politischen Situation in Berlin und die Lage im Grenzgebiet führten dazu, dass das Haus Vaterland nicht wieder saniert und auch nicht mehr in Betrieb genommen wurde. Die Fenster wurden zugemauert und weitere Sicherungsmaßnahmen im Zuge der Grenzbefestigung, insbesondere nach dem Bau der Berliner Mauer 1961, vorgenommen, da das Gebäude unmittelbar an die zum Westteil Berlins gehörende Köthener Straße grenzte.
Zunächst auf dem Gebiet Ost-Berlins im Grenzstreifen gelegen, kam die große Ruine am 21. Juli 1972 durch Gebietstausch[4] zusammen mit dem Gelände des 1952 endgültig stillgelegten Potsdamer Bahnhofs zu West-Berlin. Sie ragte als eine der wenigen verbliebenen Bauten aus der innerstädtischen Brachlandschaft am Potsdamer Platz heraus. Baufachleute hatten seinerzeit festgestellt, dass ein Wiederaufbau des Gebäudes grundsätzlich möglich gewesen wäre, da die tragende Substanz noch erhalten geblieben war. Aufgrund der Lage im Grenzgebiet bestand hier jedoch vor dem Mauerfall kein Bedarf für eine neue Nutzung. Aus Verkehrssicherungsgründen wurde die Ruine schließlich im Jahr 1976 abgetragen.
Nach 1990 entstand an dieser Stelle ein Büro- und Geschäftshaus, das zum Ensemble der Park Kolonnaden gehört, dessen Kopfbau durch die geschwungene Fassade architektonisch entfernt an die äußere Gestalt des Hauses Vaterland anknüpft. Die angrenzenden Flächen des ehemaligen Potsdamer Bahnhofs wurden nicht bebaut, sondern als Grünfläche unter dem Namen Tilla-Durieux-Park gestaltet.
Die Gaststätten des Hauses Vaterland 1928
Künstlerische Ausgestaltung der Gaststätten
Mit einer Ausnahme, dem Ballsaal (Palmensaal), gestaltete der Wiener Künstler Carl Benesch alle Gasträume. Der Palmensaal wurde von Ernst Stern unter Verwendung von Plastiken von Josef Thorak eingerichtet. Das Kino (Kammerlichtspiele) wurde von Carl Stahl-Urach, auch innenarchitektonisch, gestaltet.
Kaffee Vaterland
Der Ort der Räumlichkeit hat sich nie geändert. Von 1912 bis 1914 hatte das „Kaffee“ den Namen Café Piccadilly, dieser Name änderte sich mit Beginn des Ersten Weltkriegs, wie auch die Namen vieler anderer Institutionen in Berlin, in Deutsches Kaffeehaus Vaterland, kurz als Kaffee Vaterland. Die Gestaltung des Kaffee Vaterland erfuhr bis in die späten 1920er Jahre keine Veränderungen, erst beim Umbau des „Haus Potsdam“ zum „Haus Vaterland“ wurden durch die notwendigen Eingriffe in die Baustrukturen die Deckenmalereien beseitigt. Auch die Wandmalereien wurden beseitigt. Das Kaffee wurde von der Firma M. Kempinski schon 1926 übernommen. Der frühere Besitzer war Heinrich Braun.
Sonstiges
Die Schriftstellerin Inge von Wangenheim verwendete den Namen des Etablissements im Titel ihrer Autobiografie Mein Haus Vaterland. Ihre Mutter war Schneiderin und hatte sich im Jahr 1929 den Generalauftrag für die Kleider der Darsteller im Haus Vaterland gesichert.[5] Die Tätigkeit, bei der von Wangenheim ihre Mutter nach Kräften unterstützte, war zur Zeit der Weltwirtschaftskrise zwar ein einigermaßen sicherer Broterwerb, aber dennoch eher gnadenlose Selbstausbeutung denn ein lukrativer Job.
Im Haus Vaterland spielt die Handlung des Kriminalromans Die Akte Vaterland[6] von Volker Kutscher. Das Buch ist Teil der Gereon-Rath-Reihe, der Vorlage für die Fernsehserie Babylon Berlin.
Literatur
- Hans-Georg von Arburg: Haus Vaterland. Siegfried Kracauers Topodiagnostik der Moderne. In: Dorothee Kimmich, Sabine Müller (Hrsg.): Tiefe. Kulturgeschichte ihrer Konzepte, Figuren und Praktiken. de Gruyter, Berlin/Boston 2020, ISBN 978-3-11-063374-0, S. 223–242.
- Vanessa Conze: Haus Vaterland. Der große Vergnügungspalast im Herzen Berlins. Elsengold, Berlin 2021, ISBN 978-3-96201-049-2.
- Elfi Pracht: M. Kempinski & Co. Nicolai, Berlin 1994, ISBN 3-87584-458-0.
- Michael Klein: Aschinger-Konzern – Aschinger’s Aktien-Gesellschaft, Hotelbetriebs-AG, M. Kempinski & Co. Weinhaus und Handelsgesellschaft mbH. (PDF; 1,5 MB) Einführung, Übersicht und Zusammenfassung. In: Landesarchiv Berlin: Findbücher. Bánd 34. Bestandsgruppe A Rep. 225. Berlin 34.2005, umfangr. Lit.-verz.
- Maren Möhring: Fremdes Essen: Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland. Walter de Gruyter, 2012, ISBN 978-3-486-71779-2.
- Inge von Wangenheim: Mein Haus Vaterland. Halle 1962.
Weblinks
- Haus Vaterland. potsdamer-platz.org
- Haus Vaterland Berlin auf der umfangreichen Seite von Klaus Lindow Webarchiv vom 30. April 2019
- Filmaufnahmen der Begehung der Ruine im Jahr 1973 mit dem ehemaligen Direktor in der Dokumentation Berlin – Schicksalsjahre einer Stadt 1973 in der ARD Mediathek, von 16:40 min bis 20:15 min; abgerufen am 29. Dezember 2021
- Linus Geschke: Mutter der Erlebnisgastronomie. In: einestages, 22. März 2013
Einzelnachweise
- Der Neubau „Haus Potsdam“ in Berlin. In: Zentralblatt der Bauverwaltung. Nr. 41, 1912 (zlb.de).
- Haus Vaterland – Betrieb Kempinski. In: Stadtbaukunst. Pontos-Verlag, Berlin, Jg. 9, Ausg. 8, 20. November 1928, S. 129–132 und 141–188
- Werbebroschüre zur Wiedereröffnung des Hauses Vaterland am 31. August 1928 auf der umfangreichen Seite von Klaus Lindow, Webarchiv vom 25. August 2018
- Vereinbarung vom 21. Juli 1972 in Dokumente zur Berlin-Frage, 1967–1986
- „[…] Denn meine Mutter kam eines Tages auf die kühne Idee, zum großen Kempinski persönlich hinzugehen und ihm vorzustellen, er käme doch viel billiger weg, wenn er seine Animierrevuen von einer kleinen ehrlichen Schneiderin ausstatten ließe, anstatt diese Aufträge einer größeren Firma zu geben, die ihn doch bloß übers Ohr hauen würde. Und es gelang ihr in der Tat, den Geschäftsmann zu überzeugen. Sie bekam die Aufträge.“ (Wangenheim: Mein Haus Vaterland, Halle 1962, S. 321)
- Das war der wilde Osten. In: faz.net, 14. September 2012, abgerufen am 1. Juni 2018.