Harald Welzer

Harald Welzer (* 27. Juli 1958 in Bissendorf bei Hannover) ist ein deutscher Soziologe und Sozialpsychologe. Er arbeitet heute als Publizist.

Harald Welzer (2015)

Leben

Welzer machte sein Abitur in Burgwedel,[1] studierte danach Soziologie, Politikwissenschaft und Literaturwissenschaft an der Universität Hannover und wurde dort 1988 in Soziologie promoviert. Er habilitierte sich 1993 in Sozialpsychologie und 2001 in Soziologie. Von 1988 bis 1993 war Welzer Wissenschaftlicher Assistent im Fachbereich Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften der Universität Hannover. Anschließend war er dort bis 1999 als Dozent für Sozialpsychologie tätig.

Welzer war Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research (CMR) und Leiter verschiedener Teilprojekte des Forschungsschwerpunkts KlimaKultur am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Von 2001 bis 2012 war er Professor für Sozialpsychologie an der privaten Universität Witten/Herdecke. Welzer ist Mitbegründer und Direktor der gemeinnützigen Stiftung Futurzwei. Stiftung Zukunftsfähigkeit, die sich das Aufzeigen und Fördern alternativer Lebensstile und Wirtschaftsformen zur Aufgabe gemacht hat,[2] und seit Juli 2012 Honorarprofessor für Transformationsdesign[3] an der Europa-Universität Flensburg, wo er das Norbert Elias Center for Transformation Design & Research leitet.[4] Außerdem ist Welzer Affiliated Member of Faculty am Marial-Center der Emory University (Atlanta/USA), er lehrt an der Universität St. Gallen und ist Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Beiräte und Akademien. Die Schwerpunkte seiner Forschung und Lehre sind Erinnerung, Gruppengewalt und kulturwissenschaftliche Klimafolgenforschung. Welzer ist Herausgeber von taz.FUTURZWEI, einer vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift für Politik und Zukunft.[5] Sein Sohn Nicholas Czichi-Welzer ist dort ebenfalls tätig.[6] Anfang 2020 erlitt Welzer einen Herzinfarkt, den er 2021 in seinem Buch Nachruf auf mich selbst beschrieb.[7]

Welzer lebt in Berlin.[8]

Forschung

Welzers wissenschaftliches Hauptwerk erschien 2002 unter dem Titel Das kommunikative Gedächtnis. Mit Hinweis auf neurobiologische Forschungen erklärt Welzer, dass dem menschlichen Gedächtnis ein aktiver mentaler Prozess zugrunde liegt, der weitgehend unbewusst und „implizit“ funktioniert. Das menschliche Gedächtnis hat eine soziale Funktion: In unterschiedlichen Gedächtnis-Funktionen organisiert sich das Wechselspiel von Individualität und Gemeinschaft. Populäre Metaphern, die das Gedächtnis als Wissens-Speicher mit einer Computer-Festplatte vergleichen, führen in die Irre. Erinnerungs-Bilder sind nicht als fertige Datensätze an einer bestimmten Stelle des Gehirns abgespeichert. Das Gehirn muss, wenn es Erinnerung aktivieren will, aus verschiedenen Arealen Elemente rekonstruieren. Bei jedem Abrufen einer Erinnerung werden assoziativ neue Netzwerke gebildet. Die Erinnerungsfragmente von Medien-Erlebnissen werden grundsätzlich genauso behandelt wie die Fragmente „erlebter“ Erinnerung. Bei der Rekonstruktion von Erinnerung vermischen sich die Quellen.

Auch das autobiographische Gedächtnis ist wesentlich kommunikativ, es stellt sich über „Interaktionssituationen“ her, formuliert Welzer. „Wie man Ich wird“[9] ist dem Menschen natürlich nicht bewusst. Nicht-bewusste Erinnerungen tauchen in „Bauchgefühlen“, spontanen Reaktionen und unerklärlicher Voreingenommenheit auf. Von Emotionen und den Signalen der nonverbalen Kommunikation „weiß“ mein Gehirn deutlich mehr, als über das semantische und das episodische Gedächtnis[10] bewusst ist. Die bewussten wie die unbewussten Elemente des Gedächtnisses sind kommunikativ und lenken unser Wahrnehmen und Handeln im Kontext der Kultur der Gemeinschaft. Aus der Ich- und Wir-Identität im Sinne eines „autobiographischen Gedächtnisses“ entwickelt sich eine Synchronisierung des Individuums im Verhältnis zu seiner sozialen Umwelt.[11]

Werk als Publizist

In dem u. a. von ihm herausgegebenen Buch Opa war kein Nazi beschäftigt sich Welzer mit der Zeit des Nationalsozialismus aus sozialpsychologischer Sicht, indem er das Verhalten von Menschen im Alltag während des Nationalsozialismus sowie Formen familiärer Erinnerungstradierung untersucht. Von Täterschaft oder Verantwortung sei in den Familien wenig zu hören gewesen. Verharmlosungen und vorgebliches Nichtwissen tauchten dagegen sehr oft auf. Beteiligte Familienmitglieder würden, so Welzer, sogar als Opfer oder als Helden geschildert.[12]

Im Buch Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden vertieft Welzer die Ergebnisse von Christopher Browning zur Motivation der NS-Unrechtstäter in den Einsatzgruppen, die häufig völlig normale Biografien aufwiesen, etwa Franz Stangl oder Werner Best. Sie entwickelten eine Mentalität oder Binnenrationalität, in der sie als moralisch im Recht dastanden, auch wenn sie Kindererschießungen vornahmen. Die Tötung wird als Arbeit aufgefasst. Die Ergebnisse werden ausgeweitet für Vietnam, Ruanda und Jugoslawien.[13]

Im Buch Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird beschreibt Welzer den Klimawandel als noch immer unterschätzte Bedrohung des menschlichen Zusammenlebens.[14] Er werde als Naturkatastrophe betrachtet, es seien aber die sozialen Effekte, die aus den Klimaveränderungen erst Katastrophen werden ließen. Im Zuge dieser Entwicklungen werde Gewalt zunehmend wieder als Problemlösungsstrategie angesehen. Der Zusammenbruch der politischen und sozialen Ordnung in weiten Teilen der Welt werde zu einem „Dauerkrieg“ führen. Dies sei nur abzuwenden, wenn die wohlhabenden Bevölkerungen der Industrieländer ihren bisherigen Konsumstil veränderten. Von Andreas Kilb wurde in einer Rezension eingewendet, dass die Vergleiche mit den Völkermorden des 20. Jahrhunderts „spekulativ“ seien und hinter einer „historischen Analyse“ zurückblieben.[15] Christiane Grefe dagegen bescheinigte Welzer eine „erschreckend plausible Analyse“, hielt ihm allerdings vor, produktive Verbindungen von Kultur und Technik nicht ins Auge zu fassen.[16][17]

Welzer plädiert in Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand für einen reduktiven Lebensstil im Gegensatz zum – nicht nur in der westlichen Welt vorherrschenden – alles immer. Es gehe nicht um Wachstum, Effizienz und Konsum, sondern um Glück und Zukunftstauglichkeit. Weder das Glück noch die Zukunftstauglichkeit hänge aber im Wesentlichen vom Besitz ab. Welzer kritisiert, dass der gegenwärtig praktizierte Lebensstil unserer Gesellschaft durch hypertrophes Wachstum seine eigenen Voraussetzungen konsumiere. Welzer stellt verschiedene erfolgreiche Formen des Selbstdenkens und -handelns vor, die sich am Gemeinwohl statt an individuellem Profit orientieren und animiert dazu, die eigenen Handlungsspielräume zu nutzen.[18]

In der Publikation Digitaler Wandel und Ethik, die von dem Institut für Technikfolgen-Abschätzung herausgegeben wurde und sich mit der Digitalen Ethik, sowie der Technikfolgenabschätzung im Allgemeinen befasst, widmet er sich in einem Kapitel u. a. der Verantwortung der Informatiker in der heutigen Gesellschaft.[19]

Welzers Bücher werden auch international rezipiert und sind in über 20 Ländern erschienen.[20]

Schriften

  • Zwischen den Stühlen. Eine Längsschnittuntersuchung zum Übergangsprozess von Hochschulabsolventen. Deutscher Studien-Verlag, Weinheim 1990, ISBN 3-89271-196-8.
  • Transitionen. Zur Sozialpsychologie biographischer Wandlungsprozesse. Edition diskord, Tübingen 1993, ISBN 3-89295-572-7.
  • (Hrsg.): Nationalsozialismus und Moderne. Edition diskord, Tübingen 1993, ISBN 3-89295-576-X.
  • (Hrsg.): Das Gedächtnis der Bilder. Ästhetik und Nationalsozialismus. Edition diskord, Tübingen 1995, ISBN 3-89295-590-5.
  • Verweilen beim Grauen. Essays zum wissenschaftlichen Umgang mit dem Holocaust. Edition diskord, Tübingen 1997, ISBN 3-89295-619-7.
  • mit Robert Montau & Christine Plaß: „Was wir für böse Menschen sind!“ Der Nationalsozialismus im Gespräch zwischen den Generationen. Edition diskord, Tübingen 1997, ISBN 3-89295-628-6.
  • (Hrsg.): Auf den Trümmern der Geschichte. Gespräche mit Raul Hilberg, Hans Mommsen und Zygmunt Bauman. Edition diskord, Tübingen 1999, ISBN 3-89295-659-6.
  • (Hrsg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburger Edition, Hamburg 2001, ISBN 3-930908-66-2.
  • Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. Beck, München 2002, ISBN 3-406-49336-X; ebd. 2005, ISBN 3-406-52858-9.
  • mit Sabine Moller & Karoline Tschuggnall: Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Unter Mitarbeit von Olaf Jensen und Torsten Koch. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt 2002, ISBN 3-596-15515-0.
  • mit Hans J. Markowitsch: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Klett-Cotta, Stuttgart 2005, ISBN 3-608-94406-0.
  • Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Unter Mitarbeit von Michaela Christ. S. Fischer, Frankfurt 2005, ISBN 3-10-089431-6.
  • mit Hans J. Markowitsch (Hrsg.): Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte in der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Klett-Cotta, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-608-94422-8.
  • Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis, von Harald Welzer (Hrsg.), S. Fischer, Frankfurt/M. 2007, ISBN 978-3-596-17227-6.
  • Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, S. Fischer, Frankfurt/M. 2008, ISBN 3-10-089433-2.
  • mit Claus Leggewie: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie. S. Fischer, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-10-043311-4.
  • mit Christian Gudehus und Ariane Eichenberg (Hrsg.): Erinnerung und Gedächtnis. Ein interdisziplinäres Handbuch. Metzler, Stuttgart 2010.
  • mit Sönke Neitzel: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. S. Fischer, Frankfurt/M. 2011, ISBN 978-3-10-089434-2.
  • mit Dana Giesecke: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2012, ISBN 978-3-89684-089-9.
  • mit Stefan Rammler: Der FUTURZWEI-Zukunftsalmanach 2013: Geschichten vom guten Umgang mit der Welt. Fischer-Taschenbuch, Frankfurt 2012, ISBN 978-3-596-19420-9.
    • Rezension, Rezension von Matthias Jung, 9. Dezember 2012
  • Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-10-089435-9.
  • mit Bernd Sommer: Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. oekom, München 2014, ISBN 978-3-86581-662-7.
  • mit Dana Giesecke und Luise Tremel: FUTURZWEI Zukunftsalmanach 2015/16.[21] S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014. 544 S.
  • mit Michael Pauen: Autonomie. Eine Verteidigung. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2015, ISBN 978-3-10-002250-9.
  • Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016, ISBN 978-3-10-002491-6.
  • Wir sind die Mehrheit. Für eine Offene Gesellschaft, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. ISBN 978-3-596-29915-7.
  • Alles könnte anders sein: Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. ISBN 978-3-10-397401-0.
  • Michel Friedman, Harald Welzer: Zeitenwende. Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, ISBN 978-3-462-00089-4.
  • Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021, ISBN 978-3-10-397103-3.

Vorträge und Interviews (Auswahl)

Theater

Commons: Harald Welzer – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Harald Welzer über das große Ganze – Jung & Naiv: Folge 304 auf YouTube, abgerufen am 14. April 2021.
  2. Homepage von FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit.
  3. Pressemitteilung Universität Flensburg (Memento vom 16. Juli 2011 im Internet Archive)
  4. Archivlink (Memento vom 24. August 2016 im Internet Archive)
  5. Heftvorschau FUTURZWEI 6. (PDF) www.taz.de, 3. September 2018, abgerufen am 28. Dezember 2018.
  6. Es muss kein Schornstein sein • oya - enkeltauglich leben. Abgerufen am 7. Oktober 2021.
  7. Susanne Beyer: Soziologe Harald Welzer und Politiker Thomas de Maizière im SPIEGEL-Gespräch: »Man muss das Aufhören trainieren« (S+). In: Der Spiegel. 24. September 2021, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 6. Oktober 2021]).
  8. Europa: Heimat, Sehnsucht, Nachbarschaften. Abgerufen am 12. Juni 2020.
  9. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis.2002, S. 111
  10. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis.2002, S. 24
  11. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis.2002, S. 119
  12. Isabel Heinemann: H. Welzer u. a.: „Opa war kein Nazi“. H-Soz-Kult, abgerufen am 25. März 2018 (Rezension).
  13. Rezensionsnotizen zu Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden bei perlentaucher.de
  14. die tageszeitung: „Ein schlechtes Gewissen reicht nicht“. Interview mit Jan Feddersen und Reiner Metzger, 18. April 2008
  15. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Die Apokalypse ist ein unfertiges Puzzle. 2. Juni 2008
  16. Die Zeit: Brandneu: Das Klima! 30. Juli 2008
  17. Rezensionsnotizen zu Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird bei perlentaucher.de
  18. Rezensionsnotizen zu Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand bei perlentaucher.de
  19. Digitaler Wandel und Ethik. In: Institut für Technikfolgen-Abschätzung. Österreichische Akademie der Wissenschaften, 2020, abgerufen am 30. Januar 2021.
  20. https://www.fischerverlage.de/autor/harald-welzer-1009733
  21. Wir werden Verantwortung getragen haben, Rezension von Martin Tschechne im Deutschlandradio Kultur vom 17. Januar 2015, abgerufen 17. Januar 2015
This article is issued from Wikipedia. The text is licensed under Creative Commons - Attribution - Sharealike. The authors of the article are listed here. Additional terms may apply for the media files, click on images to show image meta data.