Franz Stangl
Franz Paul Stangl (* 26. März 1908 in Altmünster; † 28. Juni 1971 in Düsseldorf) war ein österreichischer Verwaltungsleiter in der NS-Tötungsanstalt Hartheim sowie Lagerkommandant der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka. Nach seinen eigenen Angaben war er auch in der NS-Tötungsanstalt Bernburg tätig, allerdings gibt es hierfür keinen Nachweis. Er wurde 1970 wegen gemeinschaftlichen Mordes an mindestens 400.000 Juden zu lebenslanger Haft verurteilt.
Kindheit und Ausbildung
Franz Stangls Vater war Nachtwächter und ehemaliger k.u.k.-Dragoner, der auch zu Hause den gewohnten Kasernenhofton nicht ablegte und ihn spüren ließ, dass er ein nicht gewünschtes Kind sei. Die militärisch geprägten Erziehungsmethoden ließen ihn den Vater nur als angsteinflößende Autoritätsperson erleben, der jedoch bereits 1916 an Unterernährung starb.[1] Stangl hatte eine zehn Jahre ältere Schwester. 1917 heiratete seine Mutter einen Witwer, der zwei Kinder mit in die Ehe brachte.
Stangl ging mit 15 Jahren von der Schule ab und begann eine Lehre in einer Weberei. Nach drei Jahren schloss er im Alter von 18 Jahren seine Lehre erfolgreich ab und wurde der jüngste Webermeister in Österreich.
Im Polizeidienst
1931 wechselte Stangl aus gesundheitlichen Gründen den Beruf und bewarb sich bei der Polizei. Seine Ausbildung absolvierte er in der Polizeikaserne von Linz. Seine Ausbilder bezeichnete er als Sadisten. Nach einem Jahr Ausbildung wurde er bei der Verkehrspolizei eingesetzt, später in der Verbrechensbekämpfung. Die Ausbildung beendete er im Jahre 1933.
1931 lernte er seine Frau Theresa geborene Eidenböck (* 1907) kennen, die er im Oktober 1935 heiratete. Am 7. Juli 1936 wurde die erste Tochter Brigitte, am 17. Februar 1937 die zweite Tochter Renate und 1944 die dritte Tochter Isolde geboren.
Das Auffinden eines Waffenverstecks der in Österreich illegalen NSDAP brachte ihm eine Beförderung zur Kriminalpolizei ein. Im Herbst 1935 erfolgte seine Versetzung zur politischen Abteilung der Kripo in Wels.
Stangl trat der SS (SS-Nr. 296.569) März 1938 bei, am 27. Mai 1938 beantragte er die Aufnahme in die NSDAP und wurde rückwirkend zum 1. Mai aufgenommen (Mitgliedsnummer 6.370.447).[2] Im Januar 1939 wurde die politische Abteilung durch die Gestapo übernommen und nach Linz verlegt. Stangl wurde zum Kriminaloberassistenten ernannt und im Judenreferat beschäftigt. Der Aufforderung seiner Vorgesetzten, aus der katholischen Kirche auszutreten, entsprach Stangl noch im gleichen Jahr.
Bei der „Aktion T4“
1940 erfolgte seine Beförderung sowie eine Versetzung zur „Gemeinnützigen Gesellschaft für Anstaltspflege“. Instruktionen hierfür erhielt Stangl von einem Kriminalrat Werner bei der Reichskriminalpolizei in Berlin, Werderscher Markt 5. Danach hatte er sich in der Zentraldienststelle T4 in der Tiergartenstraße 4 bei Oberdienstleiter Viktor Brack, dem Leiter des Hauptamtes II der Kanzlei des Führers, zu melden. Nach diesem persönlichen Vorstellungsgespräch erhielt er einen Dienstposten als Verwaltungs- und Büroleiter der NS-Tötungsanstalt Hartheim im Rang eines Leutnants der uniformierten Polizei. In der Tötungsanstalt Hartheim, wo geistig und körperlich Behinderte im Rahmen der „Aktion T4“ vergast wurden, unterschrieb Stangl unter dem Tarnnamen „Staudt“. Franz Reichleitner, ein Polizeikamerad Stangls, war sein Stellvertreter.
Während der Vergasungsarzt Georg Renno an Sonntagen im Innenhof von Schloss Hartheim Flötenkonzerte hielt, spielte Stangl Zither.[3]
Im Oktober 1941 wurde er zur NS-Tötungsanstalt Bernburg versetzt. Diese war unter ärztlicher Leitung Irmfried Eberls an der „Aktion 14f13“ beteiligt. Im Februar 1942 kehrte Stangl nach Hartheim zurück, um sich erneut bei T4 in Berlin zu melden. Dort erhielt er den Befehl, sich beim Beauftragten für die „Aktion Reinhardt“, Odilo Globocnik, im polnischen Lublin zu melden.
Bei der „Aktion Reinhardt“
Als Beteiligter der „Aktion Reinhardt“ erhielt Lagerkommandant Stangl im März 1942 von Globocnik den Auftrag zur Errichtung und Vollendung des Vernichtungslagers Sobibor. Bis zu Stangls Versetzung ins Vernichtungslager Treblinka wurden in Sobibor etwa 100.000 Juden getötet. Stangls Nachfolger in Sobibor war Franz Reichleitner, der ihn bereits in Hartheim vertreten hatte.
Stangl löste im September 1942 in Treblinka den ebenfalls österreichischen Kommandanten Irmfried Eberl ab, da dieser von den eintreffenden großen Judentransporten „überfordert“ war. Das KZ Treblinka war zu diesem Zeitpunkt das größte NS-Vernichtungslager in Polen. Stangl erwies sich im Gegensatz zu seinem dortigen Vorgänger als perfekter Organisator des Massenmordes.
Die Funktion Stangls in Treblinka ist im Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 22. Dezember 1970 einsehbar.[4]
Operationszone Adriatisches Küstenland
Am 2. August 1943 kam es zum Aufstand im Vernichtungslager Treblinka. Bald darauf wurde SS-Hauptsturmführer Stangl und der Großteil des Personals der „Aktion Reinhardt“ in den adriatischen Küstenraum (Operationszone Adriatisches Küstenland) zur Partisanenbekämpfung und Deportation der oberitalienischen Juden versetzt. Unter Christian Wirth, dem Inspektor des „Sonderabteilung Einsatz R“, leitete er die „Einheit R III“ in Udine, und war bei der Deportation der Juden aus Venedig tätig.[5] Nach dem Tode Wirths im Mai 1944 leitete er die „Einheit R II“ in Fiume. Außerdem war er im Zuge des „Einsatzes Pöll“ als Versorgungsoffizier an einem Bauprojekt der SS in der Po-Ebene mit hunderttausenden italienischen Zwangsarbeitern beteiligt.[6] Im Zuge des nahenden Kriegsendes zogen sich Ende April 1945 die Einheiten des „Einsatz R“ aus Norditalien nach Deutschland zurück.
Gefangenschaft und Flucht nach Syrien
Nach dem Kriegsende 1945 wurde Stangl vom US-Militär in Attersee verhaftet und als SS-Mitglied im Lager Glasenbach interniert, wobei zu diesem Zeitpunkt von seiner Rolle in den Vernichtungsstätten noch nichts bekannt war. Er wurde auch zeitweilig vom amerikanischen Militärnachrichtendienst CIC in einem Gefangenenlager in Bad Ischl verhört, man erlangte jedoch nur Kenntnis von seiner Tätigkeit bei der Partisanenbekämpfung in Italien. Nach zweieinhalbjähriger Internierung wurde Stangl 1947 an Österreich übergeben, wo er in Linz aufgrund seiner Beteiligung an der „Aktion T4“ in Untersuchungshaft kam. 1948 begann in Linz der sogenannte Hartheim-Prozess. Als Stangl von seiner Frau erfuhr, dass ein ehemaliger Fahrer des Hartheim-Personals zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden war, floh er am 30. Mai 1948 auf Drängen seiner Frau mit Gustav Wagner aus dem mehr oder weniger offenen Untersuchungsgefängnis. Wagner war bereits seit seiner Zeit in Hartheim und in Sobibor ein enger Mitarbeiter und persönlicher Freund Stangls gewesen.[7] Bei seiner Flucht nutzte er eine der Rattenlinien über Graz, Meran und Florenz nach Rom zu Fuß. Bischof Alois Hudal besorgte ihm einen Pass des Roten Kreuzes und ein Visum. Stangl gelang es, nach Syrien zu entkommen. In Damaskus fand er Beschäftigung, zunächst als Weber in einer von Hudal vermittelten Firma, ab Dezember 1949 als Maschinentechniker bei der Imperial Knitting Company. Im Mai 1949 ließ er seine Familie nachkommen.
Emigration nach Brasilien
1951 emigrierten die Stangls nach São Paulo in Brasilien, wo er in der Textilfirma Sutema zunächst wiederum als Weber und später als Ingenieur arbeitete. Bereits zwei Monate nach ihrer Ankunft in Brasilien bauten sich die Stangls ein kleines Haus in São Bernardo do Campo. Seine Frau fand Arbeit in der Buchhaltung bei Mercedes-Benz. Ein Arbeitskollege konnte ihrem Mann im Oktober 1959 eine Stelle bei Volkswagen do Brasil vermitteln. 1965 bezogen die Stangls ein neues, größeres Haus im Stadtteil Brooklin von São Paulo und lebten dort, angemeldet beim österreichischen Konsulat, unter ihrem richtigen Namen.
Festnahme und Verurteilung
Erst 1961 erschien Stangls Name auf der Fahndungsliste der österreichischen Kriminalpolizei, obwohl man wusste, dass er für den Tod von nahezu einer Million Menschen mitverantwortlich war. Auf Betreiben von Simon Wiesenthal verhafteten die brasilianischen Behörden Stangl am 28. Februar 1967. Am 23. Juni 1967 erfolgte die Auslieferung an die Bundesrepublik Deutschland. Der Prozess gegen ihn begann am 13. Mai 1970. Das Landgericht Düsseldorf verurteilte ihn am 22. Dezember 1970 in einem der Treblinka-Prozesse wegen gemeinschaftlichen Mordes an mindestens 400.000 Juden zu lebenslanger Haft.[8]
Stangl legte gegen das Urteil Revision ein, verstarb jedoch am 28. Juni 1971 in der Haftanstalt an Herzversagen.
Deutungen
Franz Stangl wurde von manchen als beispielhaft für einen autoritätsgläubigen und in jeder Situation gehorsamen Polizeibeamten angesehen: Er habe aufgrund seiner Entwicklung in einem autoritären Elternhaus und einer Erziehung und Ausbildung zu absolutem Gehorsam schließlich die schrecklichsten Befehle ausgeführt. Sein Gewissen beruhigte er möglicherweise mit der ihm an der Polizeischule beigebrachten Verbrechensdefinition:
„In der Polizeischule hatten sie uns beigebracht – ich erinnere mich genau, es war Rittmeister Leiner, der das immer sagte –, daß ein Verbrechen vier Grundvoraussetzungen erfüllen muß: die Veranlassung, den Gegenstand, die Tathandlung und den freien Willen. Wenn eines von diesen vier Prinzipien fehlte, dann handelte es sich nicht um eine strafbare Handlung. Sehen Sie, wenn die Veranlassung die Nazi-Regierung war, der Gegenstand die Juden und die Tathandlung die Vernichtungen, dann konnte ich mir sagen, dass für mich persönlich das vierte Element, der freie Wille, fehlte.“
Literatur
- Israel Gutman (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust – Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. 3 Bände. Piper, München/Zürich 1998, ISBN 3-492-22700-7.
- Ernst Klee, Willi Dreßen, Volker Rieß (Hrsg.): „Schöne Zeiten“. Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer. S. Fischer, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-10-039304-X.
- Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. S. Fischer, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-10-039310-4, S. 215 ff.
- Heiner Lichtenstein: Franz Paul Stangel. Kommandant eines Vernichtungslagers. In: Heiner Lichtenstein: Im Namen des Volkes? Eine persönliche Bilanz der NS-Prozesse. Mit einem Vorwort von Robert M. W. Kempner. Bund-Verlag, Köln 1984, ISBN 3-7663-0442-9, S. 196–210.
- Tom Segev: Die Soldaten des Bösen. Zur Geschichte der KZ-Kommandanten (= rororo-Sachbuch. 8826). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1992, ISBN 3-499-18826-0.
- Gitta Sereny: Into that Darkness. An Examination of Conscience. Pan Books, London 1974, ISBN 0-330-25016-7.
- deutsche Fassung: Am Abgrund: Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka. Piper, München 1995, ISBN 3-492-11867-4.
- Gerald Steinacher: Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen 1946–1955. Studien-Verlag, Innsbruck/Wien/Bozen 2008, ISBN 3-7065-4026-6.
- Dieter Pohl: Stangl, Franz. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 25, Duncker & Humblot, Berlin 2013, ISBN 978-3-428-11206-7, S. 54 (Digitalisat).
Weblinks
- Literatur von und über Franz Stangl im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Aus dem Urteil gegen den Lagerkommandant von Treblinka, Franz Stangl (Memento vom 1. Dezember 2011 im Internet Archive). In: jur.uva.nl
- Beispiele wichtiger Fälle. Franz Stangl. In: simon-wiesenthal-archiv.at. Simon Wiesenthal Archiv. Dokumentationszentrum des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes, Wien
- Gabriele Amann: „Der ‚feine Herr‘ von Treblinka“. Werdegang und Prozess des Lagerkommandanten Franz P. Stangl. (PDF; 1,3 MB) In: othes.univie.ac.at. Diplomarbeit zur Mag.a phil., Universität Wien 2017
Einzelnachweise
- Tom Segev: Die Soldaten des Bösen. Zur Geschichte der KZ-Kommandanten. rororo, Reinbek 1992, S. 248.
- Bundesarchiv R 9361-IX KARTEI/42420340
- Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. S. Fischer, Frankfurt am Main 2001, Kapitel 10: Österreich, S. 218.
- Justiz- und NS-Verbrechen – Lfd. Nr. 746 (Ausschnitt) (Memento vom 15. September 2011 im Internet Archive). In: jur.uva.nl, abgerufen am 22. April 2018.
- Simon Levis Sullam: I carnefici italiani. Storia del genocidio degli ebrei, 1943–1945. Feltrinelli, Milan 2015, ISBN 978-88-07-11133-4, S. 75 (italienisch).
- Chris Webb, Carmelo Lisciotto H.E.A.R.T: Franz Paul Stangl. In: Holocaust Research Project. Holocaust Education & Archive Research Team, 2007, abgerufen am 25. Januar 2020 (englisch; Biografie).
- Der Dämon von Sobibor. In: Der Spiegel. Nr. 23, 1978 (online – 5. Juni 1978).
- Landgericht Düsseldorf: Urteil vom 22. Dezember 1970 Az.: 8 Ks 1/69. Auszug aus dem Urteil; siehe Weblinks.
- Zitat Stangls, in: Gitta Sereny: Am Abgrund: Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka.