Gierseilfähre
Eine Gierseilfähre (auch Gierfähre, Gierponte oder Fliegende Brücke genannt) ist ein Fährtyp, der zur Fortbewegung die Strömung des zu überquerenden Flusses ausnutzt.
Die Technik der Gierfähre (von gieren im Sinne einer Drehbewegung um die Hochachse des Schiffes) erfand der Niederländer Hendrick Heuck aus Nijmegen im Jahr 1657, um den Verkehr über die breite Waal zu erleichtern.
Funktionsweise
Eine Gierseilfähre hängt an einem langen Drahtseil, das sich kurz vor der Fähre aufteilt. Ein Seilende ist am Bug und eines am Heck der Fähre befestigt. Verändert sich nun die Länge der Enden zueinander, verändert sich auch der Anstellwinkel der Fähre zum Strom. Dieses Einstellen der Seilenden geschieht heute mit Motorkraft, im Übrigen ist die Fähre motorlos. Der Druck des anströmenden Wassers drängt sie an das Ufer. Das Drahtseil wird im Fluss verankert und für die Schifffahrt mit Bojen markiert. Damit die Fahrrinne frei bleibt, liegt der Anker für das Drahtseil nicht in der Flussmitte.
Eine andere Technik – die Rollfähre – benutzt statt eines Y-Gierseils zwei getrennte Seile, die an Laufkatzen oder Laufrollen auf einer mit Hilfe von zwei an den Ufern stehenden Pylonen hoch über dem Wasser gespannten Stahltrosse laufen, wodurch die Flussschifffahrt nicht behindert wird. Nach diesem Prinzip funktionieren die Basler Fähren und die Fähre von Polle an der Weser. Es gibt auch Gierseil-Rollfähren mit nur einem Seil, wie bei den Donaufähren in Matting (1854 gebaut)[1] und der Solarflotte in Ulm. Der Antrieb erfolgt in Polle durch zwei, in Matting und in Ulm nur durch ein Ruder, die durch Eindrehen in die Strömung des Flusses die gewünschten Kräfte erzeugen.
Mathematische und physikalische Grundlagen
Durch richtige Einstellung des Winkels α der Fähre relativ zur Strömung wird zunächst dafür gesorgt, dass die Kräfte – genauer: die Vektorsumme von Seilkräften plus Strömungkräften – insgesamt auf die Fähre kein Drehmoment ausüben. Das geschieht weitgehend autonom, das heißt mit minimaler Unterstützung des Fährmannes, sowie nur durch den oben erwähnten Hilfsmotor: Bis zur Einstellung des richtigen Winkels dreht sich die Fähre unter dem Einfluss des oben erwähnten Drehmoments genügend langsam eigenständig dazu um die Hochachse.
Der Vektor der resultierenden Kraft kann nunmehr in zwei senkrechte Komponenten, die Längskomponente Ky = K sin α sowie die Querkomponente Kx = K cos α zerlegt werden. Die Längskomponente wird durch die Seilkräfte kompensiert. Durch die verbleibende Querkomponente sorgt das System durch den Druck der Strömung für die motorlose Überquerung des Flusses.
Verbreitung
Ein Grund für die Verbreitung von Gierfähren auf Elbe, Saale, Main und Neckar zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war die Kettenschifffahrt. Kettenschleppschiffe zogen sich und angehängte Frachtschiffe entlang einer längs im Fluss liegenden Kette flussaufwärts. Die Kette wurde von den Kettenschiffen vorne vom Grund des Flusses aufgehoben, über das Deck gezogen und hinten wieder in den Fluss abgelassen. Eine Überkreuzung dieser Kette mit dem Seil vorhandener Seilfähren war nicht möglich. Daher erfolgte mit der Einführung der Kettenschifffahrt eine Umstellung dieser Fähren auf Gierseilfähren. Die Umstellung musste von den Kettenschleppschifffahrtsgesellschaften bezahlt werden.
Elbe
- Rathen, siehe Bergland (Schiff, 1954)
- Niedermuschütz
- Fähre Belgern
- Stadt Prettin
- Pretzsch
- Elster (Elbe)
- Coswig (Anhalt)
- Aken (Elbe)
- Fähre Breitenhagen
- Fähre Barby
- Fähre Westerhüsen bei Magdeburg
- Fähre Arneburg
- Fähre Sandau
- Räbel
Die beiden Elbfähren in Barby und Breitenhagen sind mit der Saalefähre in Groß Rosenburg durch die 3-Fähren-Tour, einen 24 km langen Rundweg, verbunden.
Mulde
Weser
- Veckerhagen–Hemeln[2]
- Oedelsheim
- Lippoldsberg
- Wahmbeck (Bodenfelde)
- Herstelle–Würgassen (nur Personen und Fahrräder)
- Wehrden (Weser) (nur Personen und Fahrräder)
- Polle
- Grohnde
- Großenwieden
- Schweringen
Bis nach 2000 waren noch zwei weitere Fähren in Betrieb: Die Gierseilfähre zwischen Hehlen und Daspe wurde 2004 nach einem Brückenneubau außer Betrieb genommen und in Bodenwerder aufgelegt[3]. In Hajen (Emmerthal) verkehrte zuletzt 2011 die Fähre auf das gegenüberliegende Ufer bei Grohnde, sie wurde ersatzlos verschrottet[4].
Donau
Auf der Donau gibt es vollständig handbetriebene Gierseilfähren in:
- Eining
- Stausacker (bei Kloster Weltenburg) und
- Matting unweit von Regensburg
- Sandbach (Vilshofen an der Donau)
Die Donaufähre Mariaposching–Stephansposching ging nach einem Unfall 19. April 2016 außer Betrieb[5] und wurde Anfang 2019 durch eine frei fahrende Motorfähre ersetzt[6]
Rhein und Sieg
Weitere Gierfähren existieren an der Sieg zwischen Bonn und Geislar und Troisdorf und Bergheim.
Auch auf dem Rhein wurde dieser Fährtyp zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert zur Überquerung des Stroms genutzt. Zu Beginn noch als „fliegende Brücken“ bezeichnet, gab es solche Fähren zunächst an der Mannheimer Rheinschanze (1669)[7] und in Köln (um 1670), später auch in Düsseldorf (ab 1689),[8] zwischen Bonn und Vilich, Koblenz und Ehrenbreitstein (siehe Fliegende Brücke (Koblenz)), Neuwied und Weißenthurm (1817) sowie zwischen Altrip und Mannheim (1891). Heute gibt es auf dem Rhein nur noch wenige Gierseilfähren, beispielsweise in Basel und in Plittersdorf (Rastatt). Die Basler Fähren sind nur für Fußgänger benutzbar und haben wegen der nahegelegenen Rheinbrücken nur eine geringe verkehrstechnische Bedeutung. Sie werden hauptsächlich aus historischen und touristischen Gründen erhalten. Als Besonderheit haben die Fähren in Basel keine Gierseile, sondern das Halteseil wird zum Umkehren der Anströmung mit einem Schwengel auf die jeweils andere Bootsseite gelegt. Ansonsten sind es vereinfachte Rollfähren, bei denen sich das Halteseil mittels eines Läufers an einem Tragseil bewegt. Dies ist entsprechend hoch über den Rhein gespannt, um die Rheinschifffahrt nicht zu behindern.
Österreich
In Österreich verkehren über die Donau vier Rollfähren:
- Drahtseilbrücke Ottensheim
- Rollfähre Spitz–Arnsdorf
- Rollfähre von Weißenkirchen nach St. Lorenz
- Rollfähre Korneuburg–Klosterneuburg
Schweiz
Die meist mit Schwengel, selten mit dem V-förmigen Gierseil ausgestatteten Seilfähren sind an verschiedenen Orten in der Schweiz als Fußgängerübergänge erhalten geblieben. Oft werden sie in Naherholungsgebieten von den Gemeinden betrieben oder unterstützt. Das Führen einer Fähre bedarf spezieller Zulassungsprüfungen, um die Sicherheit zu gewährleisten. So gibt es noch folgende Seilfähren mit regelmäßigen Fährbetrieb:
- Vier Basler Fähren über den Rhein (Rollfähren)
- Bodenacherfähre über die Aare in Muri bei Bern mit Schwengel
- Fähre Reichenbach über die Aare bei Zollikofen mit Schwengel
- Fähre Zehendermätteli über die Aare bei Bern mit Schwengel
- Fähre Wolfwil–Wynau über die Aare bei Wolfwil
- Fähre über die Reuss bei Sulz
- Fähre Mumpf–Bad Säckingen über den Rhein bei Mumpf
- Fähre Zurzach–Kadelburg über den Rhein bei Kadelburg-Barz (Zurzach) mit Schwengel
- Fähre über die Sitter bei Bischofszell mit Gierseil
- Rheinfähre Ellikon–Nack zwischen Marthalen, Schweiz und Nack, Gemeinde Lottstetten, Deutschland, Gierseil mit Rollen und Schwengel, in Betrieb seit 1896.
Galerie
- Alte Gierfähre Altrip–Mannheim, kurz nach ihrer Stilllegung (Februar 1958)
- Seilfähre über die Donau bei Matting
- Gierponte Bonn–Vilich (1676)
- Rollfähre zwischen Veckerhagen und Hemeln (Weser)
- Gierseilfähre in Dommitzsch, Elbe
- Seilfähre bei Beilstein (Mosel)
Literatur
- Hans Wolfgang Kuhn: Frühe Gierponten. Fliegende Brücken auf dem Rhein im 17. und 18. Jahrhundert. In: Deutsches Schiffahrtsarchiv 6 (1983), S. 25–64.
Weblinks
Einzelnachweise
- Fähre Matting
- Ein Floß für die Weser. (Nicht mehr online verfügbar.) ARD, archiviert vom Original am 25. Januar 2017; abgerufen am 25. Januar 2017 (Filmszene ab 00:21:35).
- Tage der Weserfähre sind gezählt. Gemeinde Hehlen, abgerufen am 3. September 2019.
- Fähre Hajen wird verschrottet. DeWeZet, abgerufen am 3. September 2019.
- Unterschriftenaktion für Erhalt der Fähre (Memento vom 30. Oktober 2016 im Internet Archive)
- Die neue Donaufähre "Posching" ist endlich da. Bayerischer Rundfunk, abgerufen am 3. September 2019.
- Die "fliegende Brücke" bei Mannheim. LEO-BW, abgerufen am 6. Januar 2020.
- J.F. Wilhelmi: Panorama von Düsseldorf und seinen Umgebungen. J.H.C. Schreiner'sche Buchhandlung, Düsseldorf 1828, S. 11