Gerontokratie
Gerontokratie entstammt den altgriechischen Ausdrücken γέρων géron (alter Mann, Greis[1]) sowie κράτος krátos (Herrschaft) und bedeutet „Herrschaft der Alten“. Sie ist eine Herrschaftsform, in der hauptsächlich Menschen hohen Alters das politische Handeln bestimmen.
Geschichte
Der Begriff Gerontokratie bezieht sich ursprünglich auf den im antiken Sparta herrschenden Ältestenrat (Gerusia), einem Zusammentreffen von 28 männlichen Bürgern Spartas mit einem Mindestalter von 60 Jahren, der über die in Altersgrade strukturierte Gesellschaft herrschte. Auch die Struktur der Indianerstämme, bei denen ein Ältestenrat den Stammeshäuptling bestimmt und der Aborigines in Australien („Elders“ als Stammesführer) wird oft als gerontokratisch bezeichnet.
Neu aufgegriffen wurde das Wort in den 1980er-Jahren im Bezug auf die Sowjetunion, nachdem binnen zwei Jahren gleich dreimal der Generalsekretär der Kommunistischen Partei verstorben war. Mit der Berufung von Michail Gorbatschow als neuen Parteichef sprachen Gesellschaft und Medien vom "Ende der sowjetischen Gerontokratie".[2]
Deutschland auf dem Weg in die Gerontokratie
Ursachen
Die steigende Anzahl der Rentner in Deutschland und eine niedrige Geburtenrate haben in den letzten Jahrzehnten zu einer Überalterung der Gesellschaft und einem deutlich gestiegenen Medianalter geführt. Diese demographische Entwicklung lässt aber gleichzeitig auch den deutschen Medianwähler immer älter werden. Die daraus resultierende größere elektorale Kraft der älteren Bevölkerung wird dadurch verstärkt, dass noch nicht geborene oder kleine Kinder kein politisches Gewicht haben. Es ist davon auszugehen, dass diese Entwicklung die politischen Rahmenbedingungen, Handlungsspielräume und Probleme nachhaltig verändern wird.[3]
Elderly Power Hypothesis
Die Politik orientiert sich am Medianwähler und richtet danach ihr politisches Handeln aus. Die Elderly Power Hypothesis besagt, dass sich durch die gestiegene elektorale Kraft der älteren Bevölkerung die politischen Kraftverhältnisse so zugunsten der Älteren verändert haben, dass Deutschland auf dem Weg in die Gerontokratie verortet werden kann. Demnach würden ältere Menschen ihre Überlegenheit zu ihrem Vorteil nutzen und gleichzeitig Investitionen in die Zukunft blockieren. Zu diesem Ergebnis kommen Bonoli und Häußermann in ihrer 2010 veröffentlichten Studie[4] über Referenden in der Schweiz. Auch Button (1992) kommt zu dem Ergebnis, dass sich Senioren in ihrem Stimmverhalten deutlich häufiger gegen den Ausbau der Bildungsfinanzierung wenden als andere Altersgruppen.[5] Einigen Szenarien zufolge wird deshalb in Zukunft gegen die Macht der Älteren keine Politik mehr zu machen sein.
„Weil die Senioren nun in die Überzahl gelangen, können sie ihre Anliegen gegen die Belange anderer Altersgruppen effektiv und machtvoll durchsetzen. Es droht substantiell wie zahlenmäßig eine Gerontokratie: Die Anliegen der Senioren scheinen ins Zentrum aller politischen Regulierung zu rücken.“
Die Politikwissenschaftlerin Julia Lynch hat anhand des sogenannten „Elderly/Non-Elderly Spending Ratio“[6] alle sozialstaatlichen Leistungen, die sich an bestimmte Altersgruppen wenden betrachtet und die jeweilige Ausgabenhöhe in Bezug zum profitierenden Bevölkerungsanteil gemessen. Sie erkennt ein klares Ungleichgewicht zugunsten älterer Menschen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Studien von Pieter Vanhuysse[7] oder Laurence Kotlikoff mit seinem „Generational Accounting Modell“.[8]
Auch Gornick (2006) forschte an der Elderly Power Hypothesis und hat dabei die Entwicklungen der sozialstaatlichen Pro-Kopf-Ausgaben in 14 OECD Ländern im Zeitraum von 15 Jahren untersucht. Länder mit einem weniger stark ausgeprägten Anteil älterer Menschen haben dabei die Ausgaben sowohl für die jüngere als auch die ältere Generation erhöht. In den Ländern, in denen die ältere Bevölkerung prozentual stark überlegen ist, ist eine Umverteilung der Leistungen von jüngeren zu älteren Menschen feststellbar, darunter auch in Deutschland.[9]
Rezeptionen in den Medien
Das Älterwerden der deutschen Gesellschaft und die daraus resultierenden Probleme für die nachrückenden Generationen war Thema in einigen Talkshows. So fand im Juni 2009 nach einem Rentenbeschluss der Bundesregierung eine Episode der Talkshow Anne Will unter der Frage „Rentner machen Kasse – Wann ist Zahltag für die Jungen?“ statt. Frank Plasberg stellte 2014 seine Sendung hartaberfair unter das Motto: „Alte jubeln, Junge ächzen - ist das die neue Rentenformel?“
Im April 2008 befeuerte Ex-Bundespräsident Roman Herzog die Debatte in Deutschland, in dem er in einem Interview vor einer „Rentnerdemokratie“ warnte und Sorgen äußerte, dass „die Älteren die Jüngeren ausplündern“ könnten.[10] Der Ökonom Thomas Straubhaar forderte im November 2014 in einem Gastbeitrag in der Welt, dass die „Raffgier-Herrschaft der Alten“ gestoppt werden müsse.[11] Meinhard Miegel, Gründer des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft (IWG) sieht Deutschland auf dem „Weg in die Altenrepublik“ und spricht von einem „Demokratieproblem“.[12]
Änderung des Wahlrechts
Eine in Deutschland viel diskutierte Maßnahme um der jungen Generation eine Stimme zu verleihen ist eine Herabsenkung des Wahlalters. Während CDU und AfD für die Beibehaltung des Wahlrechts ab 18 sind, fordern Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke, die SPD und die FDP die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre.
Auch die ehemalige Familienministerin Franziska Giffey plädierte für eine solche Wahlrechtsänderung bei Kommunal-, Landtags-, Bundestags- sowie Europawahlen. Dabei beruft sie sich auf eine Studie der Freien Universität Berlin, die nach der Analyse von einigen Landtagswahlen zu der Erkenntnis kommt, dass „wenig gegen eine Absenkung des Wahlalters spricht“.[13]
Die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen bringt einen weiteren Vorschlag ins Spiel um dem fortschreitenden Wandel Deutschlands in eine Gerontokratie entgegenzuwirken. Sie plädiert für ein Wahlrecht ohne Altersgrenze, bei dem junge Menschen ab einem selbst gewählten Zeitpunkt durch Eintragung in das Wählerregister ihr Recht der Mitbestimmung ausüben können. So hätte die junge Generation ein ganz anderes politisches Gewicht und die Politik müsste auch auf deren Interessen mehr Rücksicht nehmen.[14]
Andere Lösungsansätze
Einige Wissenschaftler und Experten sehen den Hauptansatzpunkt der Politik in Deutschland bei der Erhöhung der Geburtenrate. So bringt der ehemalige Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn eine Erweiterung der Rentenformel um eine Kinderkomponente ins Spiel. Außerdem fordert er weitere familienpolitische Maßnahmen wie etwa einen raschen Krippenausbau. So könne es wieder mehr Kinder in Deutschland geben und es bestehe eine größere Chance, die Gerontokratie und die absehbare demographische Krise zu überwinden.[15]
Der Politikwissenschaftler Jörg Tremmel findet die Verankerung der Generationengerechtigkeit im Grundgesetz sei die beste Antwort auf die wachsende Bedeutung der Interessen der älteren Bevölkerung. So würden „dem politischen Kurzfristdenken quasi von Rechtswegen ein Riegel vorgeschoben“ und die Rechte der zukünftigen Generationen gewahrt werden.[16]
In ihrem Artikel „Better Procedures for Fairer Outcomes“ von 2015 spricht sich die Philosophieprofessorin Juliana Bidadanure für eine gesetzliche Jugendquote in Parlamenten aus, damit so die Interessen der unterrepräsentierten jungen Generation auch institutionell in einem angemessenen Rahmen vertreten werden und dem fortschreitenden Wandel westlicher Demokratien zu Gerontokratien entgegengewirkt werden kann.[17]
Vatikan als Gerontokratie
Der Aufbau der katholischen Kirche mit dem Papst als Oberhaupt und dem Kardinalskollegium wird oft als gerontokratisch bezeichnet. Im 20. Jahrhundert lag das Durchschnittsalter der Päpste zum Wahlzeitpunkt bei 66 Jahren. Verstärkt wurde die Debatte, als der damals 86-jährige Papst Benedikt XVI. aus Altersgründen im Jahr 2013 auf sein Amt verzichtete und der 76-jährige Franziskus sein Nachfolger wurde. Von den zur Papstwahl im Jahr 2013 berechtigten Kardinälen waren mehr als zwei Drittel 70 Jahre oder älter.[18] Papst Franziskus selbst wies die wörtlich „böswilligen“ Vorwürfe, der Papst und seine Kardinäle seien die „Gerontokratie der Kirche“, scharf zurück.[19]
Künstlerische Verarbeitung
In dem Science-Fiction-Roman Heiliges Feuer (Originaltitel Holy Fire, 1996[20]) beschreibt der US-amerikanische Autor Bruce Sterling eine Zukunft der westlichen Gesellschaft, in der die Lebenserwartung durch Medizin und Technologie auf über 200 Jahre angehoben wurde (siehe auch Transhumanismus), so dass sich Kapital und politische Macht fast ausschließlich im Besitz der Gerontokraten befinden. Die Jüngeren leben in einer Parallelgesellschaft und haben nur wenig Aussicht, im Laufe ihres Lebens Macht und Wohlstand zu erlangen.
Siehe auch
Literatur
- Altern im spätantiken Rom. Patriarchalische Gerontokratie. In: Psyche und Soma. Heft 5, 2005, OCLC 805585970.
- Gerontokratie. In: Journal für Generationengerechtigkeit des Instituts für Politikwissenschaft. Band 12, Nr. 1, 2012, S. 1–48.
Weblinks
- Gerontokratie in politik-lexikon.at
Einzelnachweise
- geronto- auf duden.de
- Ein roter Star steigt auf im Osten. In: Der Spiegel. Nr. 12, 18. März 1985, abgerufen am 26. Januar 2021.
- Emanuel Richter: Der Krieg der Generationen und die Gerontokratie: Bringt die wachsende Zahl der SeniorInnen Schaden oder Chancen? Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, 4. September 2020, abgerufen am 26. Januar 2021.
- Giuliano Bonoli, Silja Häusermann: A Young Generation Under Pressure? : The Financial Situation and the "Rush Hour "of the Cohorts 1970–1985 in a Generational Comparison. Springer-Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-642-03482-4.
- Sandra Brunsbach: Politische Parteien in Zeiten des demographischen Wandels – Reflexion der veränderten Altersstruktur in der Parteiprogrammatik. Springer Verlag, Wiesbaden 2018, ISBN 978-3-658-20351-1, S. 72.
- Julia Lynch: Age in the Welfare State: The Origins of Social Spending on Pensioners, Workers and Children. In: Cambridge: Journal of Social Policy. Vol. 38, Nr. 1, Cambridge 2006, ISBN 0-511-60692-3. (cambridge.org)
- Markus Tepe, Pieter Vanhuysse: Who Cuts Back and When? The Politics of Delays in Social Expenditure Cutbacks. In: West European Politics. Vol. 33, Nr. 6, 2010. (tandfonline.com)
- Alan J. Auerbach, Jagadeesh Gokhale, Laurence J. Kotlikoff: Generational Accounting: A Meaningful Way to Evaluate Fiscal Policy. In: Journal of Economic Perspectives. Vol. 8, 1994. (aeaweb.org)
- Sandra Brunsbach: Politische Parteien in Zeiten des demographischen Wandels – Reflexion der veränderten Altersstruktur in der Parteiprogrammatik. Springer Verlag, Wiesbaden 2018, ISBN 978-3-658-20351-1, S. 73. (springer.com)
- Kampf der Generationen: Herzog warnt vor "Rentner-Demokratie". In: Der Spiegel. 11. April 2008. (spiegel.de, abgerufen am 26. Januar 2021)
- Thomas Straubhaar: Gerontokratie: Raffgier-Herrschaft der Alten muss gestoppt werden. In: Die Welt. 18. November 2014. (welt.de, abgerufen am 26. Januar 2021)
- Thomas Sommer: Willkommen in der Altenrepublik. (polinomics.eu, abgerufen am 26. Januar 2021)
- Neuer Vorstoß von Giffey: Mit 16 zur Wahlurne? tagesschau.de, 30. Juli 2020, abgerufen am 26. Januar 2021.
- Wahlrecht ohne Altersgrenze. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen. (tagesschau.de, abgerufen am 26. Januar 2021)
- Hans-Werner Sinn: Deutsche Gerontokratie. In: WirtschaftsWoche. 7. Juni 2014, S. 37. (hanswernersinn.de)
- Rentnerrepublik: Barrieren gegen die Gerontokratie. In: Die Zeit. 1. Mai 2008. (zeit.de, abgerufen am 26. Januar 2021)
- Juliana Bidadanure: Better Procedures for Fairer Outcomes: Youth Quotas. In: Intergenerational Justice Review. Vol 1, No 1, 2015, S. 4 ff. (igjr.org)
- Konklave: zur Papstwahl im Jahr 2013 berechtigte Kardinäle nach Alter. (de.statista.com, abgerufen am 26. Januar 2021)
- Franziskus: "Wir sind keine Gerontokratie." 27. Juni 2017. (katholisch.de, abgerufen am 26. Januar 2021)
- Phantastisches von Bruce Sterling. (phantastik-couch.de)