Feindstaatenklausel
Die Feindstaatenklausel ist ein Passus in den Artikeln 53 und 107 sowie ein Halbsatz in Artikel 77 der Charta (oder Satzung) der Vereinten Nationen (SVN), wonach gegen sogenannte Feindstaaten („enemy states“) des Zweiten Weltkrieges von den Unterzeichnerstaaten Zwangsmaßnahmen ohne besondere Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat verhängt werden könnten, falls die Feindstaaten erneut eine aggressive Politik verfolgen sollten. Die Feindstaatenklauseln wurden durch Resolution 49/58 der Generalversammlung vom 9. Dezember 1994 offiziell für „hinfällig“ (“obsolete”) erklärt,[1][2] der Passus ist jedoch weiterhin in der Satzung enthalten.[3] Sie schlossen auch militärische Interventionen mit ein. Als „Feindstaaten“ wurden in Artikel 53 jene Staaten definiert, die während des Zweiten Weltkrieges Feind eines Signatarstaates der UN-Charta waren (also primär Deutschland und Japan – bzw. das Deutsche Reich und japanische Kaiserreich).
Nach ganz herrschender Meinung in der Völkerrechtswissenschaft ist die Feindstaatenklausel (längst[4][5]) obsolet.[6][7]
Entstehung und weitere Entwicklung
Die Artikel 53 (Kapitel „Regionale Abmachungen“), 77 (Kapitel „Das internationale Treuhandsystem“) und 107 (Kapitel „Übergangsbestimmungen betreffend die Sicherheit“) SVN entstanden im Jahr 1945 bei der Formulierung der Urfassung der Charta in der Endphase des Krieges, sind jedoch auch noch in der aktuell gültigen Fassung enthalten.
Die 50. Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete 1995 eine Resolution zu Charta-Fragen (Res. 50/52),[8] in der die Feindstaatenklausel aus den Artikeln 53, 77 und 107 als obsolet bezeichnet wurde.[9] Einer Streichung der Klausel käme daher nur noch deklaratorische Wirkung zu.[10] In der 1995 verabschiedeten Resolution war festgelegt, dass die Streichung in einer der nächsten Sitzungen bzw. so früh wie möglich erfolgen sollte („… by the deletion of the ‚enemy State‘ clauses from Articles 53, 77 and 107 at its earliest appropriate future session“). Gleichwohl ist die Situation weiterhin unverändert.
Nach Abschluss des Atomwaffensperrvertrages von 1969 hatten die Vereinigten Staaten von Amerika, das Vereinigte Königreich und Frankreich erklärt, dass Art. 53 und 107 der UN-Charta kein Recht zur gewaltsamen Intervention in Deutschland gewähren.[11] Mit der Sowjetunion und damit auch mit Russland[12] wurde Ähnliches in den Ostverträgen vereinbart.[13] 1994 betonte die Generalversammlung der UNO bereits „wiederholt die Bedeutung der ehemaligen Feindstaaten für die Vereinten Nationen als aktive Träger der VN-Friedensbemühungen.“[14] Das Auswärtige Amt vertritt darüber hinaus die Ansicht, Artikel 53 und 107 seien hinfällig,[15] weil die Alliierten im Zwei-plus-Vier-Vertrag ein Weiterwirken ihrer Besatzungsrechte völkerrechtlich ausgeschlossen haben (Art. 7 Abs. 1).[16] Die Staats- und Regierungsoberhäupter des UN-Gipfeltreffen des Jahres 2005 gaben im Abschlussdokument ihrem Willen Ausdruck, die Streichung der hinfälligen Klausel ins Auge zu fassen (Ziffer 177, siehe Anlage 2). Dies sei jedoch nur durch eine Änderung der Charta möglich, was sehr großen Aufwand bedeutet und daher nur im Rahmen eines „Gesamtpakets“ geschehen werde.[17]
Da die Feindstaatenklauseln die Anrufung des UN-Sicherheitsrates nicht verbieten, stehen auch bilaterale Vereinbarungen, ehemalige Feindstaaten nicht mehr als solche anzusehen, nicht im Widerspruch zur Satzung der Vereinten Nationen. Aufgrund der völkerrechtlichen Übung und der Übereinkunft mit den früheren Siegermächten ist daher mittlerweile allgemein anerkannt, dass nach dem Verfahren des opinio iuris („Rechtsauffassung“) nunmehr die Grundzüge der Klausel eine andere sind.
Es ist jetzt nur noch die Aufgabe, dieses durch die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen auszuarbeiten, was gleichwohl zwar noch nicht passierte, aber auch nicht relevant ist.[18]
Nach allgemein gültiger Auffassung ist die Ahndung vor dem Weltsicherheitsrat also durchaus angebracht, denn ohne weitere völkerrechtliche Rechtfertigung kann ein Staat demnach heute nicht mehr die Feindstaaten in der Klausel angreifen, es bedarf daher (neben anderen Hindernissen für einen direkten Angriff) immer der Anrufung des Sicherheitsrates.
Offizielle Haltung der Bundesrepublik Deutschland
Auch wenn die Charta der Vereinten Nationen nach wie vor eine Feindstaatenklausel enthält, vertritt die Bundesrepublik laut Veröffentlichungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags aufgrund der einschlägigen Resolution der UN-Generalversammlung (2005) zu einem gesonderten Verfahren keinen Anlass.
Die Bundesregierung hat jedoch stets die Auffassung vertreten, dass die Feindstaatenklauseln spätestens mit dem Beitritt der beiden deutschen Staaten im September 1973 zu den Vereinten Nationen obsolet geworden sind. Die Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland bereits vier Mal dem Sicherheitsrat angehört und einen Präsidenten der Generalversammlung gestellt hat, zeigten, dass Deutschland in den Vereinten Nationen die vollen Rechte eines gleichberechtigten Staates ausübe. Die 50. Generalversammlung der UNO habe am 11. Dezember 1995 im Konsens eine Resolution verabschiedet, die in ihrer Präambel diese Auffassung ausdrücklich bestätige:
“Recognizing that, having regard to the substantial changes that have taken place in the world, the ‘enemy State’-clauses in Articles 53, 77 and 107 of the Charter of the United Nations have become obsolete.”
Das von den Staats- und Regierungschefs verabschiedete Dokument des Gipfels vom September 2005 (A/RES/60/1) enthält den Beschluss, die Bezüge zu „enemy states“ in den Artikeln 53, 77 und 107 der Charta der Vereinten Nationen zu streichen. Die Streichung der sog. Feindstaatenklauseln aus dem Text der Charta erfordert allerdings eine Änderung der Charta nach dem dafür vorgeschriebenen Verfahren. Es sieht einen mit Zweidrittelmehrheit gefassten Beschluss zur Änderung der Charta und seine anschließende Ratifikation durch ebenfalls zwei Drittel der Mitgliedstaaten vor. In einer Information von 2007 heißt es, dass die Bundesregierung dieses Anliegen bei der nächsten Änderung der Charta einbringen wird. Eine deutsche Forderung nach einer Charta-Änderung ausschließlich zur Streichung der Feindstaatenklauseln würde hingegen in einem gewissen Gegensatz zu der erwähnten Rechtsauffassung der Bundesregierung stehen, dass die sog. Feindstaatenklauseln bereits jetzt nicht mehr gelten, und wird deswegen nicht ausgesprochen.
Anträge auf Streichung von Seiten der AfD
Die AfD dringt immer wieder auf Reformen der Charta der Vereinten Nationen.[19] So forderte sie die Bundesregierung in einem Antrag Ende Oktober 2020 unter anderem dazu auf, sich beharrlich für die Streichung der Feindstaatenklausel aus der Charta der Vereinten Nationen einzusetzen.[20]
Völkerrechtliche Interpretation
Anders als etwa das Recht der Europäischen Union oder anderer supranationaler Organisationen bricht das Völkervertragsrecht nicht das Völkergewohnheitsrecht.[21] Der Internationale Gerichtshof bezieht in seinen Entscheidungen das Gewohnheitsrecht als eine mögliche Quelle ein.[22] Dies ist auch dann der Fall, wenn in Art. 53 der UN-Charta noch etwas anderes oder sogar Gegensätzliches stand. Die betroffenen Staaten haben im Rahmen des Atomwaffensperrvertrages auf die Klauseln verzichtet und bezeichnen sich mittlerweile als befreundete Staaten.
Einzelnachweise
- United Nations - General Assembley (Hrsg.): Report of the Special Committee on the Charter of the United Nations and on the Strengthening of the Role of the Organization. A/RES/49/58. New York 9. Dezember 1994 (englisch, un.org [PDF; abgerufen am 5. März 2022]): “Considering that the provisions of parts of Article 53 and the provisions of Article 107 have become obsolete”
- Deutscher Übersetzungsdienst der Vereinten Nationen (Hrsg.): Bericht des Sonderausschusses für die Charta und die Stärkung der Rolle der Vereinten Nationen. Nr. 49/58 (un.org [PDF; abgerufen am 5. März 2022]): „Die Generalversammlung [...] die Auffassung vertretend, daß die Bestimmungen von Teilen des Artikel 53 und die Bestimmungen des Artikels 107 hinfällig geworden sind [...]“
- United Nations Regional Information Centre for Western Europe (UNRIC), Charta der Vereinten Nationen und Statut des Internationalen Gerichtshofs (PDF).
- Bruno Simma: NATO, the UN and the use of force: legal aspects. In: European Journal of International Law. Band 10, Nr. 1. Oxford University Press, 1999, ISSN 0938-5428, S. 1–22, doi:10.1093/ejil/10.1.1 (englisch, oup.com [abgerufen am 5. März 2022] Originaltitel: NATO, the UN and the use of force: legal aspects. Policy Roundtables organized by the United Nations Association of the U.S.A. in New York and Washington, D.C. 1999. Als Veröffentlicheungsdatum wird derzeit online 1999-02-01 genannt. Dies wäre jedoch vor der auf S. 1 genannten Veranstaltung (1999-03-11/12), auf dem die Veröffentlichung basiere.): “the mechanism of the so-called ‘enemy-state-clauses’ (Artivles 53 and 107) [...] is now unanimously considered obsolete”
- Clemens E. Ziegler: Kosovo-Krieg der Nato 1999 und Irak-Krieg 2003. Völkerrechtliche Untersuchung zum universellen Gewaltverbot und seinen Ausnahmen. Peter Lang, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-631-58021-9, S. 191, Anm. 338.
- Christina Binder: Die Grenzen der Vertragstreue im Völkerrecht am Beispiel der nachträglichen Änderung der Umstände (= Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, Bd. 245). Springer, Heidelberg 2013, ISBN 978-3-642-35093-1, S. 268 f., 298–300 m.w.N.
- Überleitungsvertrag und „Feindstaatenklauseln“ im Lichte der völkerrechtlichen Souveränität der Bundesrepublik Deutschland (PDF), Ausarbeitung WD 2 – 108/06, 21. Juni 2006; Zur Feindstaatenklausel in der Charta der Vereinten Nationen (PDF), Kurzinformation WD 2 – 3000-147/07, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, 1. Oktober 2007.
- Resolution 50/52 zu Charta-Fragen (Memento vom 24. August 2011 im Internet Archive)
- Die Reformkommission in ihrem Bericht zur UN-Vollversammlung, 5. Dezember 1995.
- Josef Isensee/Paul Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII. Die Einheit Deutschlands – Entwicklung und Grundlagen, C.F. Müller, Heidelberg 1995, S. 218.
- Vgl. hierzu die Stellungnahme der Außenminister der Westmächte anlässlich der Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages am 28. November 1969, wörtlich in: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 1970, S. 182, Anm. 15; Werner Trützschler von Falkenstein, Die sich ändernde Bedeutung der Feindstaatenartikel (Artikel 53 und 107 der Satzung der Vereinten Nationen) für Deutschland (= Augsburger Schriften zum Staats- und Völkerrecht; Bd. 5), Herbert Lang, 1975.
- Vgl. Wolfgang Graf Vitzthum/Alexander Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl., 2016, Rn. 187.
- Näher dazu Gregor Schöllgen, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2004, S. 96–108, hier S. 103 ff. A. A. Wilhelm Wengler, in: Juristenzeitung 1970, S. 633.
- So Christina Binder, Die Grenzen der Vertragstreue im Völkerrecht, Heidelberg 2013, S. 298. Auch bezeichnete sie die UN-Feindstaatenklauseln in ihrer Resolution 49/58 als gegenstandslos, s. hierzu Binder (2013), S. 300.
- Vgl. dazu insbesondere den Wortlaut der offiziellen Übersetzung des Berichts des Sonderausschusses für die Charta und die Stärkung der Rolle der Vereinten Nationen (A/50/642 und Korr. 1) vom 11. Dezember 1995 (Memento vom 24. August 2011 im Internet Archive): „Die Generalversammlung […], in der Erwägung, daß die ‚Feindstaaten‘-Klauseln in den Artikeln 53, 77 und 107 der Charta in Anbetracht der weitreichenden Veränderungen, die in der Welt eingetreten sind, hinfällig geworden sind, […] unter Berücksichtigung des komplexen Prozesses, der mit einer Änderung der Charta verbunden ist, […] bringt ihre Absicht zum Ausdruck, […] das in Artikel 108 der Charta der Vereinten Nationen vorgesehene Verfahren für eine Änderung der Charta, mit in die Zukunft gerichteter Wirkung, durch Streichung der ‚Feindstaaten‘-Klauseln in den Artikeln 53, 77 und 107 einzuleiten […].“ Siehe auch Offizielles Protokoll der Generalversammlung, Fünfzigste Tagung, Beilage 52 = VIII. Resolutionen aufgrund der Berichte des Sechsten Ausschusses, S. 419–421, hier S. 420 (PDF).
- Drei Briefe und ein Staatsgeheimnis, in: Die Zeit, Nr. 21/2009 vom 8. September 2009.
- Zur Feindstaatenklausel in der Charta der Vereinten Nationen, Kurzinformation, WD 2 – 3000-147/07 (1. Oktober 2007) und Zur sog. Feindstaatenklausel (Art. 107 VN-Charta), Kurzinformation, WD 2 – 3000 – 115/17 (12. Dezember 2017).
- Thomas Wana: Ausarbeitung Fragenkatalog Einführung in das Völkerrecht (PDF; 222 kB), abgerufen am 31. März 2014.
- https://www.bundestag.de/webarchiv/presse/hib/2020_10/802190-802190
- Deutscher Bundestag (Hrsg.): AfD dringt auf Reformen der Vereinten Nationen (hib 1165/2020), Meldung vom 29. Oktober 2020; Bundestagsdrucksache 19/23716 vom 28. Oktober 2020.
- Hanspeter Neuhold, Waldemar Hummer, Christoph Schreuer: Österreichisches Handbuch des Völkerrechts. 4. Aufl., Wien 2005, ISBN 3-214-14913-X.
- IGH-Statut (Memento vom 29. Juni 2011 im Internet Archive)
Weblinks
- Die Satzung der Vereinten Nationen (hier: gesamte Rechtsvorschrift für Satzung der Vereinten Nationen für die Republik Österreich)
- 8. Kapitel (enthält Artikel 53) der Charta in rechtsverbindlicher, englischer Fassung
- 12. Kapitel (enthält Artikel 77) der Charta in rechtsverbindlicher, englischer Fassung
- 17. Kapitel (enthält Artikel 107) der Charta in rechtsverbindlicher, englischer Fassung
- Resolution A/RES/50/52 der Generalversammlung im englischen Original
- Berthold Seewald: Deutschland, Feindstaat der Vereinten Nationen, in: Die Welt vom 25. September 2012
- Seit 1945 unverändert: Deutschland für UN noch „Feindstaat“, Welt Online, 19. September 2012
- Laut Charta der Vereinten Nationen: Deutschland ist „Feindstaat“, n-tv.de, 22. September 2012
- Feindstaaten-Klausel: Form des Klassenkampfs, Der Spiegel 39/1968 vom 23. September 1968