Erich Hüttenhain
Erich Hüttenhain (* 26. Januar 1905 in Siegen; † 1. Dezember 1990 in Brühl) war ein deutscher Kryptologe und gilt als führender Kryptoanalytiker im Dritten Reich. Er war Abteilungsleiter des OKW/Chi, der Chiffrierabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht und später langjähriger Leiter der an den Bundesnachrichtendienst angegliederten Zentralstelle für das Chiffrierwesen (ZfCh).
Leben und Wirken
Hüttenhain war der Sohn eines Konrektors und studierte nach dem Abitur 1924 in Siegen an der Universität Marburg, der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Universität Münster. Er studierte Mathematik bei Heinrich Behnke (1898–1979) und Astronomie bei Martin Lindow (1880–1967), dem Leiter der Universitätssternwarte zu Münster, und wurde 1933 in Münster mit der Arbeit „Räumliche infinitesimale Bahnen um die Librationspunkte im Geradlinien-Fall der (3+1)-Körper“ in Astronomie bei Lindow promoviert.[1] 1936 wurde er Referent in der Chiffrierabteilung (Chi) des OKW, wo er vom Leiter Min.Rat. Wilhelm Fenner eingestellt wurde, nachdem er ein eigenes Chiffrierverfahren eingesandt hatte.[2] Bei OKW/Chi war er zuletzt als Regierungsrat Leiter der Gruppe IV Analytische Kryptanalyse.
Während seiner Zeit in OKW/Chi gelang ihm unter anderem die Entzifferung der japanischen Purple-Chiffriermaschinen (wie in den USA William Frederick Friedman).[3] Ihm und seinen Mitarbeitern[4] gelang auch zeitweise die Entzifferung US-amerikanischer Rotormaschinen, wie der M 138 A und der M-209 in Nordafrika. Als die US-Amerikaner aber ihrerseits durch Entzifferung italienischer Chiffren davon erfuhren, stellten sie ihr System um (unter anderem die von Friedman konzipierte Sigaba) und es gelang Hüttenhain kein weiterer Einbruch.
Nach Kriegsende wurde er vom TICOM in die USA gebracht.[5] Für die US-Amerikaner baute er unter anderem eine Maschine (die schon von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg benutzt wurde), die russische Rotormaschinen-Verschlüsselungen entzifferte.[6] Er erstellte auch Berichte über die Erfolge der Deutschen auf kryptographischem Gebiet im Zweiten Weltkrieg (wie Entzifferung des französischen Marine-Codes, der polnischen Diplomaten-Chiffre oder zur Sicherheit der Enigma[7] und des Geheimschreibers)[8]. Nach seiner Rückkehr gründete er 1947 die "Studiengesellschaft für wissenschaftliche Arbeiten"[9] innerhalb der Organisation Gehlen, die den Grundstein für die spätere Zentralstelle für das Chiffrierwesen (ZfCh) des Bundesnachrichtendienstes bildete.[10] Sein Pseudonym bei der Organisation Gehlen war Erich Hammerschmidt.[2] Bei der ersten offiziellen kryptographischen Dienststelle der Bundesregierung, dem Referat 114 im Außenministerium, geleitet von Adolf Paschke[11] und 1950 gegründet, war er im wissenschaftlichen Beirat[12]. 1956 bis 1970 leitete er als Ministerialdirigent die Zentralstelle für das Chiffrierwesen, wo zunächst Wilhelm Göing und ab 1972 Otto Leiberich sein Nachfolger war. Ein erklärtes Ziel von Hüttenhain war, dass im Gegensatz zu seinen Erfahrungen im Dritten Reich mit zahlreichen voneinander unabhängigen Stellen alle Fäden für die Bewertung kryptographischer Verfahren bei einer Dienststelle lagen.
In die Amtszeit von Hüttenhain als Leiter der ZfCh fällt der Beginn der Operation Rubikon von BND und amerikanischer Central Intelligence Agency (CIA). Dabei erwarben BND und CIA die schweizerische Crypto AG, einen Anbieter für Verschlüsselungslösungen, der über Jahre Verschlüsselungsprodukte mit geschwächten Algorithmen an Staaten und Unternehmen weltweit verkaufte. Dies sollte den beteiligten Nachrichtendiensten eine erleichterte Entzifferung erlauben. Presseberichte weisen darauf hin, dass die ZfCh innerhalb des BND bei der Operation Rubikon eine wichtige Rolle gespielt hat.[13]
1926 war er Gründungsbursche der Frankfurter Burschenschaft Arminia.[14]
Hüttenhain hinterließ ein Manuskript, das er etwa 1970 schrieb und in dem er aus seinen Erfahrungen als Kryptologe berichtet.[15]
Schriften
- Räumliche infinitesimale Bahnen um die Librationspunkte im Geradlinien-Fall der (3+1)-Körper. In: Astronomische Nachrichten. Band 250, Nr. 18, 1933, S. 297–316, doi:10.1002/asna.19332501802.
- Untersuchungen über die Stabilität infinitesimaler Bahnen um Librationspunkte. In: Astronomische Nachrichten. Band 254, Nr. 17, 1934, S. 281–296, doi:10.1002/asna.19342541702.
- Stabile Librationslösungen und Null-Geschwindigkeitsflächen. In: Astronomische Nachrichten. Band 259, Nr. 10, 1936, S. 149–158, doi:10.1002/asna.19362591002.
- Erich Hüttenhain: Zur Geheimschrift Jung-Stillings. In: Siegerland. Blätter des Siegerländer Heimatvereins e. V. Band 48, Heft 2, Juli 1971, S. 37–42.
- Die Geheimschriften des Fürstbistums Münster unter Christoph Bernhard von Galen 1650–1678 (= Schriften der Historischen Kommission Westfalens. Band 9). Aschendorff Verlag, Münster 1974, ISBN 3-402-05609-7.
- Erfolge und Mißerfolge der deutschen Chiffrierdienste im Zweiten Weltkrieg. In: Jürgen Rohwer, Eberhard Jäckel (Hrsg.): Die Funkaufklärung und ihre Rolle im 2. Weltkrieg. Eine internationale Tagung in Bonn-Bad Godesberg und Stuttgart vom 15.–18. November 1978. Motorbuch Verlag, Stuttgart 1979, ISBN 3-87943-666-5, S. 100–116.
Literatur
- Friedrich L. Bauer: Erich Hüttenhain: Entzifferung 1939–1945. In: Informatik-Spektrum. Band 31, Nr. 3, Juni 2008, S. 249–261, doi:10.1007/s00287-008-0242-4.
- Friedrich L. Bauer: Historische Notizen zur Informatik. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg 2009, ISBN 978-3-540-85789-1, Erich Hüttenhain: Entzifferung 1939–1945, S. 385–401, doi:10.1007/978-3-540-85790-7 (mit Foto von E. Hüttenhain, S. 388).
- Otto Leiberich: Vom diplomatischen Code zur Falltürfunktion – Hundert Jahre Kryptographie in Deutschland. In: Spektrum der Wissenschaft. Nr. 6, Juni 1999, S. 26–34, doi:10.1007/s00287-008-0242-4 (spektrum.de).
- Otto Leiberich: Vom Diplomatischen Code zur Falltürfunktion – 100 Jahre Kryptographie in Deutschland, Spektrum Dossier Kryptographie, 2001 (mit Foto von E. Hüttenhain).
- Michael van der Meulen: Cryptology in the early Bundesrepublik. In: Cryptologia. Band 20, Nr. 3, Juli 1996, S. 202–222, doi:10.1080/0161-119691884915 (englisch).
- Renate Tobies: Biographisches Lexikon in Mathematik promovierter Personen (= Algorismus, Studien zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften. Heft 58). Dr. Erwin Rauner Verlag, Augsburg 2006, Eintrag Hüttenhain, Erich (Deutsche Mathematiker-Vereinigung, Eintrag Hüttenhain, Erich [abgerufen am 18. Januar 2019]).
Weblinks
- Erich Hüttenhain im Mathematics Genealogy Project (englisch)
- Erich Schmidt-Eenboom: Empfänglich für Geheimes. Die (west)deutschen Nachrichtendienste im Äther. In: Klaus Beyrer (Hrsg.): Verschlüsselte Kommunikation. Geheime Dienste - Geheime Nachrichten. Umschau, Heidelberg 1999, ISBN 3-8295-6906-8, S. 157–165 (desert-info.ch [PDF]).
- Klaus Schmeh: Enigma-Schwachstellen auf der Spur. In: Telepolis (= Enigma-Zeitzeugen berichten – Teil 3). 29. August 2005 (heise.de – Quelle für Abteilungsleiterposition bei OKW/Chi).
- Frode Weierud: Bletchley Park’s Sturgeon, the Fish that Laid No Eggs. In: The Rutherford Journal. Band 1, Dezember 2005, ISSN 1177-1380 (englisch, rutherfordjournal.org – : Quelle mit weiteren Referenzen zu Dr. Hüttenhains Kryptanalyse der T52a sowie seiner Zusammenarbeit mit TICOM).
Einzelnachweise und Anmerkungen
- Erschienen in Astronomische Nachrichten, Bd. 250, 1933, S. 298–316 doi:10.1002/asna.19332501802
- Friedrich L. Bauer: Historische Notizen zur Informatik. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg 2009, ISBN 978-3-540-85789-1, Erich Hüttenhain: Entzifferung 1939–1945, S. 388, doi:10.1007/978-3-540-85790-7.
- Leiberich, Spektrum der Wissenschaft, Juni 1999; dazu gibt es nach Leiberich in Deutschland allerdings keine Unterlagen mehr
- Darunter später bekannte Mathematiker wie Karl Stein, Leiter der Abteilung IV a (Sicherheit eigener Verfahren), Gisbert Hasenjaeger. Andere wie Hans Rohrbach waren im Chiffrierdienst des Auswärtigen Amtes (Pers Z). Weitere deutsche Mathematiker, die damals in der Kryptographie aktiv waren, sind nach Friedrich Bauer (Entzifferte Geheimnisse, Springer Verlag) Wolfgang Franz, Gottfried Köthe, Ernst Witt, Helmut Grunsky, Georg Hamel und zeitweise Oswald Teichmüller (Werner Kunze (Kryptoanalytiker) wurde in Physik promoviert). Nach einer bei Bauer, Historische Notizen zur Informatik, S. 388, zitierten Mitteilung von Otto Leiberich suchte Hüttenhain auch gezielt Mathematiker vor dem Fronteinsatz zu bewahren, indem er sie in seiner Dienststelle beschäftigte.
- Bamford Body of Secrets, S. 22 bringt die Beurteilung der US-Amerikaner über Hüttenhain’s Kenntnisse: It is almost certain that no major cryptoanalytic successes were achieved without his knowledge.
- Leiberich, loc.cit.
- Sie wurde auch von den deutschen Experten um Hüttenhain als nicht völlig sicher beurteilt, nur hätte ihre Entzifferung einen ganzen Raum an Geräten benötigt, Bamford, loc.cit. S. 23, zitiert wird dort aus einem TICOM Report
- Die Titel der Arbeiten wurden von der NSA veröffentlicht, sie sind aber nur teilweise der Öffentlichkeit zugänglich. Teilweise betrafen diese auch Pers Z, der Chiffrierabteilung des Auswärtigen Amtes, und andere Dienststellen im „Dritten Reich“.
- Michael Wala: Digest of Papers: Germany and Intelligence Organizations: The Last Fifty Years in Review. (PDF) In: Annual Conference 1999, 18–20 June, Tutzing, Germany. International Intelligence History Association, 1999, S. [3], abgerufen am 20. Januar 2019 (englisch).
- Tagung der International Intelligence History Organization in Tutzing 1999: Germany and Intelligence Organizations – the last 50 years in Review (Memento vom 24. Juli 2009 im Internet Archive)
- ehemals bei Pers Z
- wie auch Kurt Selchow, Rudolf Schauffler, Heinz Kuntze
- The CIA secretly bought a company that sold encryption devices across the world. Then its spies sat back and listened. Abgerufen am 18. März 2020 (englisch).
- H. de Rouet: 150 Jahre Frankfurt-Leipziger Burschenschaft Arminia, Frankfurt am Main 2010, S. 324
- Einzeldarstellungen aus dem Gebiet der Kryptologie. Ein Exemplar ist in der Bayerischen Staatsbibliothek. Friedrich Bauer referiert daraus in seinem Buch Historische Notizen zur Informatik, Springer 2009, S. 389ff