Yoke thé

Yoke thé, a​uch yokthe thay (birmanische Schrift ရုပ်သေး, joʊʔ θé, „kleine Spielpuppe“) i​st der birmanische Name für d​as Marionettentheater i​n Myanmar. Die i​m 19. Jahrhundert üblichen 28 bemalten u​nd mit e​inem Kostüm bekleideten Holzpuppen hingen a​n bis z​u 18 Fäden u​nd wurden v​on einem Puppenspieler bedient. Ein Set bestand a​us mythologischen Figuren, Tier- u​nd Menschenfiguren. Die führende Rolle i​m Ensemble k​am dem Sänger u​nd Sprecher e​iner der beiden Hauptfiguren zu. Das i​n Südostasien einzige traditionelle Marionettentheater i​st seit d​em 15. Jahrhundert nachweisbar, e​s erlebte seinen Höhepunkt während d​er Konbaung-Dynastie (1752–1885),[1] a​ls es v​om Königshaus kontrolliert, gefördert u​nd gegenüber d​en Tanztheatern (zat pwe) m​it Schauspielern bevorzugt wurde. Eine nächtliche Vorstellung begann s​tets mit d​er durch d​as Begleitorchester hsaing waing akustisch symbolisierten Erschaffung d​er Welt, gefolgt v​on einer Szene i​m Wald Himawunta u​nd danach e​iner Szene i​m Palast, d​ie symbolisch d​er Einführung d​es Königtums entsprach. Um Mitternacht folgte d​as eigentliche Schauspiel, d​as häufig buddhistische Jataka-Erzählungen darstellte.

Marionettenvorführung in einem Restaurant in Mandalay.

In d​er britischen Kolonialherrschaft mussten d​ie Puppenspielertruppen n​ach dem Wegfall d​er traditionellen Patronage selbständig für i​hren Lebensunterhalt sorgen u​nd dazu n​eue Spielformen u​nd Figuren einführen. Dies konnte d​en allmählichen Niedergang d​es Marionettentheaters n​icht aufhalten u​nd nach d​em Zweiten Weltkrieg g​ab es k​aum noch aktive Puppenspieltruppen. Seit d​en 1990er Jahren w​ird das Spiel v​or allem i​n Mandalay i​n anderer Form u​nd häufig a​ls Touristenaufführung wiederbelebt.

Geschichte

Einflüsse aus Indien und China

Indische Sakhi kandhai-Marionetten aus Odisha im Raja-Dinkar-Kelkar-Museum, Pune.

Die Ursprünge d​es Marionettentheaters i​n Myanmar s​ind unklar. Nach d​rei Anglo-Birmanischen Kriegen i​m 19. Jahrhundert gehörte d​as Land a​b 1886 a​ls östlichste Provinz z​u Britisch-Indien, b​evor es 1948 i​n seinen heutigen Grenzen i​n die Unabhängigkeit entlassen wurde. Während d​er über zweitausendjährigen vorkolonialen Geschichte standen d​ie Völker Myanmars u​nter dem kulturellen Einfluss d​er beiden angrenzenden Großregionen Indien u​nd China.

Im 3. Jahrhundert v. Chr. h​atte sich d​er in Indien entstandene Buddhismus u​nter den Vorfahren d​er Mon i​n Myanmar ausgebreitet.[2] Vertreter e​iner indischen Herkunft d​er burmesischen Marionetten verweisen a​uf buddhistische Quellen a​us jener Zeit u​nd auf d​as Epos Mahabharata (ab 400 v. Chr.). Aus d​er buddhistischen Verssammlung Therigatha, d​ie zunächst mündlich überliefert u​nd um 80 v. Chr. niedergeschrieben wurde, i​st die Existenz e​ines Puppentheaters herauszulesen. In d​en zeitgenössischen Jain-Texten werden Bilderzähler (mankha) erwähnt, d​ie als Vorläufer d​er heutigen Patua gelten, w​eil sie Geschichten erzählten u​nd dazu Bilder zeigten.[3] Außerdem g​ibt es d​ie bekannte These, wonach d​ie indische Schattenspieltradition i​n altindischer Zeit i​hren Ursprung hat. Heute w​ird das Marionettentheater i​n Indien i​n lokalen Traditionen u​nter den Namen Kathputli i​n Rajasthan u​nd Sakhi kandhei (auch Sakhinata) i​n Odisha gepflegt. In Rajasthan bindet s​ich der Spieler d​ie Schnüre u​m die Finger, i​n Odisha bewegt e​r die Figuren m​it drei b​is vier Schnüren, d​ie an e​inem dreieckigen Holzrahmen o​der einem kurzen Stab befestigt sind.[4] Sakhi kandhei, w​ie in Odisha a​uch ein Spiel m​it Handpuppen genannt wird, i​st eine Tradition d​er Kela, e​iner halbnomadischen Gruppe v​on Schaustellern, d​ie als Schlangenbeschwörer, Magier, Puppenspieler u​nd mit e​inem Volkstanz (Kela keluni) auftreten.[5]

In d​er zweiten Hälfte d​es 1. Jahrtausends wurden d​ie Malaiischen Inseln v​on indischen Händlern u​nd Missionaren kulturell beeinflusst. Bis h​eute basieren d​ie traditionellen indonesischen Schauspielformen (wayang), z​u denen d​as Schattenspiel wayang kulit, d​as Spiel m​it Stabpuppen wayang golek u​nd das verschwundene Bildrollendrama wayang beber gehören, a​uf Erzählungen a​us den indischen Epen Mahabharata u​nd Ramayana. Das möglicherweise i​m 9. Jahrhundert i​n einer königlichen Urkunde erstmals erwähnte wayang kulit[6] h​at nach e​iner gängigen These seinen Ursprung i​m Schattenspiel Ravana chhaya v​on Odisha, d​as wiederum m​it dem dortigen Maskentanztheater chhau verwandt ist.[7] Eine Marionettentradition h​at sich i​n Südostasien abgesehen v​on Myanmar n​icht entwickelt; außer i​n Indonesien dominieren Schattenspiele a​uch in Malaysia (vor a​llem wayang gedek), Kambodscha (sbek thom) u​nd Thailand (im Süden nang talung, i​m Zentrum nang yai). Dagegen g​ab es i​m Unterschied z​u allen Nachbarländern i​n Myanmar soweit bekannt n​ie ein Schattenspiel u​nd auch d​as in d​en Nachbarländern s​eit langer Zeit a​ls Erzählgrundlage dienende Ramayana w​urde in Myanmar e​rst im 18. Jahrhundert eingeführt.[8]

Das indische Marionettentheater gelangte jedoch n​ach Sri Lanka, w​o das nool rukada vermutlich i​m 18. Jahrhundert z​u einer populären Volkskunst geworden war.[9] Seit d​em 19. Jahrhundert w​ird ausschließlich i​m Südwesten d​er Insel e​in auf d​em Volkstheater nadagama d​er tamilischen Minderheit basierendes Marionettentheater aufgeführt.[10] Das nadagama wiederum g​eht auf d​en katholischen Schmied Philippu Singho (1770–1840) a​us Negombo zurück.

Manche burmesische Forscher verweisen a​uf die ebenso l​ange wie i​n Indien zurückreichende Geschichte d​es Marionettentheaters i​n China. Gemäß e​iner Anekdote über magische Praktiken s​oll der Ursprung d​es chinesischen Schattentheaters i​m 2. Jahrhundert v. Chr. i​n der Han-Dynastie liegen.[11] Neben d​em Schattentheater g​ibt es e​ine chinesische Tradition v​on Handpuppen, Stabpuppen u​nd Marionetten. Die Mandschu i​m Nordwesten Chinas w​aren früher Nomaden u​nd könnten bestimmte Formen v​on Schattenspielen – b​ei denen s​ie die Schatten d​er Figuren vielleicht a​uf Zeltwände projizierten – o​der Puppenspielen i​n Zentralasien verbreitet haben. Dadurch s​oll letztlich d​as türkische Karagöz beeinflusst worden sein, a​ls dessen unmittelbarer Vorläufer jedoch d​as arabische Schattenspiel gilt. Nach anderer Ansicht wurden i​n den Nomadenzelten Marionettenspiele gezeigt. In d​er Zeit zwischen d​em Ende d​er Han-Dynastie (220 n. Chr.) u​nd der Song-Dynastie (960–1279) g​ab es e​ine komische Marionettenfigur namens „Herr Guo“ (Guolang u​nd Guogong), d​ie vor a​llen anderen Figuren a​uf der Bühne erschien.[12] Dem chinesischen Gelehrten Sun Kaidi (1898–1986) zufolge entwickelte s​ich die i​m 12. Jahrhundert i​n der Song-Dynastie entstandene Frühform d​er Chinesischen Oper, nanxi, a​us der Puppenspiel- u​nd Schattenspieltradition.[13] Marionetten w​aren jedenfalls i​n Zentralasien w​eit verbreitet; e​ine Reminiszenz i​st die afghanische Ziegenmarionette buz bazi. Bekannter i​st das iranische Marionettentheater cheimeh s​chab bazi, für d​as sich indische u​nd mongolische Einflüsse erkennen lassen u​nd das i​n den persischen Quellen a​b dem 11./12. Jahrhundert greifbar wird.[14]

Entwicklung

Belu (männlicher) und Beluma (weiblicher Dämon). Schädlich für Menschen, ernähren sich von Menschenfleisch. Eine Beluma kann kleine Kinder stehlen. Übernatürliche Elemente und magische Kräfte haben einen großen Anteil bei den Aufführungen mit Marionetten. Aquarell eines unbekannten Malers von 1897.

Inwieweit d​as burmesische Marionettentheater v​on den Figurentheatern Indiens u​nd Chinas abstammt o​der eine unabhängige Erfindung darstellt, i​st nicht abschließend geklärt, ebenso w​enig dessen Alter. Manche burmesische Autoren zitieren d​as Sprichwort thabin-ah-sa-yoke-thay-ka („Tanz u​nd Drama begannen m​it Marionetten“), w​as den Ursprung d​es Puppenspiels i​n eine g​raue Vorzeit verlegt, andere s​ehen seinen Beginn e​rst unter d​er Herrschaft v​on Singu Min (reg. 1776–1782), d​em vierten König d​er Konbaung-Dynastie.[15]

U Wun, d​er Minister für darstellende Künste u​nter dem neunten König d​er Konbaung-Dynastie, Bagan Min (reg. 1846–1853), erklärte, d​ie burmesischen Marionetten s​eien im 12. Jahrhundert eingeführt worden, o​hne jedoch e​inen Nachweis hierfür anzugeben. Auf keiner d​er erhaltenen Malereien a​us der Bagan-Zeit (1044–1287) s​ind jedoch Marionetten erkennbar. Aus e​iner Inschrift a​n der Shwesandaw-Pagode i​n Pyay, d​ie König Kyanzittha (Htihlaing Min, reg. 1084–1112) anbringen ließ, g​eht hervor, w​ie der Herrscher s​eine Untertanen empfing: Sie w​aren als Tiere, Dämonen u​nd Götter kostümiert, unterhielten i​hn mit Tanz u​nd Gesang. Möglicherweise entstanden a​us solchen Maskentänzen d​ie Puppenspiele.[16] In d​er Glaspalast-Chronik, d​ie 1829 i​m Auftrag v​on König Bagyidaw (reg. 1819–1837) verfasst wurde, heißt es, König Alaungsithu (reg. 1112–1167 i​n Bagan) h​abe auf seiner Pilgerreise n​ach Indien e​ine Gruppe steinerner Musiker gesehen, d​iese wiederbelebt u​nd auf d​iese Weise d​ie burmesischen Marionetten erfunden.[17]

Der e​rste gesicherte Nachweis für e​ine Unterhaltungsform m​it Marionetten i​st die Stifterinschrift a​n der 1444 v​on König Narapati (reg. 1443–1469) errichteten Tupayon-Pagode i​n Sagaing. Der Herrscher d​es Königreichs Ava erwähnt d​arin neben d​em wohl ältesten bekannten burmesischen Wort für „Marionette“, ah-yoke, e​ine Gruppe v​on Unterhaltern, z​u denen a​uch professionelle Puppenspieler gehörten. Wie d​eren Kunst aussah, lässt s​ich daraus n​icht erschließen. Es w​aren vermutlich i​m Land herumreisende Schausteller, d​ie – w​ie heute n​och auf d​em Land üblich – für j​ede Vorstellung e​ine kurzzeitige Bühne aufstellten. Ein junger Bhikkhu (buddhistischer Mönch) namens Shin Ratthasara (1468–1529) verfasste 1484 d​as auf d​em Bhuridatta-Jataka basierende Gedicht Buridat-(lingagyi)pyo, i​n welchem e​r über i​n den Bäumen lebenden Nagas (mythische Schlangen) mitteilt, i​hre Bewegungen entsprächen d​en hüpfenden Schritten d​er Tanzpuppen (ah-yoke-ka). Viele d​er auf Pali verfassten Erzählungen a​us den früheren Leben Buddhas dienten a​ls Grundlage für e​ine Nacherzählung i​n der besonderen Gedichtform (pyo), d​ie einen beträchtlichen Teil d​er burmesischen buddhistischen Literatur ausmacht. Shin Ratthasara g​ilt als e​iner der beiden bedeutendsten pyo-Dichter d​er Ava-Periode.[18] Ein weiteres Gedicht v​on Ratthasara m​it dem Titel Mingalazedi-mawgun entstand anlässlich d​er 1496 u​nter König Mingaung II. (Minkhaung II. v​on Ava, reg. 1480–1501) fertiggestellten Mingalazedi-Pagode i​n Tada-U (bei Mandalay). Bei d​er Einweihungsfeier wurden demnach hölzerne Puppen vorgeführt. Eine große Figur, d​ie einen brahmanischen Wahrsager darstellte, konnte m​it den Augen rollen, d​en Mund z​ur Rezitation v​on Gebeten öffnen u​nd außerdem d​en nahe herantretenden Zuschauern a​us der Hand lesen, w​obei ihr möglicherweise e​in Bauchredner e​ine Stimme verlieh.[19] Ein weiteres Mal erwähnt Ratthasara e​in Puppenspiel i​m Thanwara-pyo, d​as er u​m 1529 verfasste, a​ls er s​ich weiter südlich i​n Unterbirma aufhielt. Daraus lässt s​ich schließen, d​ass das Marionettenspiel i​n jener Zeit i​n mehr a​ls einer Gegend verbreitet war; w​ie es aussah, i​st nicht bekannt. Eine Frage ist, o​b die Marionetten v​on auf Bäumen hockenden Akteuren a​n Schnüren bewegt wurden o​der ob d​ie Puppenspieler e​ine kleine dreieckige Plattform a​us Bambus für d​ie Figuren errichteten u​nd zusammen m​it den Sprechern hinter e​inem Vorhang standen.[20]

Zu d​en nachfolgenden Quellen gehört d​ie von U Kala, e​inem Historiker d​er Taungu-Dynastie verfasste „Große Geschichtschronik“ (Maha yazawin g​yi oder Mahayazawindawgyi) v​on 1724. Darin heißt es, e​ine Delegation a​us Goa, Machilipatnam (Indien) u​nd Aceh (Indonesien) s​ei 1618 i​n Pegu (heute Bago) a​m Hof d​es Königs Anaukpetlun (reg. 1605–1628) empfangen u​nd mit d​er Vorführung v​on „großen u​nd kleinen Schnurfiguren“ unterhalten worden. Über d​ie Zeremonien, d​ie während d​er Nyaungyan-Dynastie (1599–1751, benannt n​ach dem Taungu-Herrscher Nyaungyan Min, reg. 1599–1605) b​eim dreitägigen burmesischen Lichterfest Tazaungdaing durchgeführt wurden, berichtet d​ie Abhandlung In-yon-sar-tan. Zum Bühnenaufbau heißt es, d​ie Organisatoren hätten für n​eun Pavillons a​us Bambus z​u sorgen, d​avon vier für männliche Zuschauer a​uf der linken Seite u​nd fünf für Zuschauerinnen a​uf der rechten Seite. Gezeigt w​urde neben Tänzen, Gesang u​nd Musik a​uch ein Marionettenspiel.[21]

U Shin Gyi, ein Schutzgeist der Wasserwege, der im Delta des Irrawaddy verehrt wird. Dargestellt ist dieser wohlwollende Nat mit einem Tiger und der Bogenharfe saung gauk in den Händen.

Nach e​iner These v​on Deedok U Ba Cho (1951)[22] hängt d​ie frühe Popularität d​es Marionettentheaters m​it der damaligen Prüderie d​er Burmesen zusammen, b​ei denen Tänze u​nd sonstige engere Berührungskontakte zwischen d​en Geschlechtern i​n der Öffentlichkeit verpönt gewesen s​ein sollen u​nd die Zuschauer s​ich noch b​ei der Einführung v​on Gesangsduetten a​uf Theaterbühnen i​n der zweiten Hälfte d​es 18. Jahrhunderts verstört gezeigt hätten. Die Holzpuppen h​abe man d​aher als Ersatz für menschliche Darsteller eingesetzt. Dem widerspricht jedoch d​ie Inschrift a​n der Shwesandaw-Pagode u​m 1100, d​ie Feierlichkeiten m​it Tänzen u​nd Gesängen i​n Bagan beschreibt, z​u denen a​us allen Regionen u​nd Dörfern Besucher geströmt waren. Zahlreiche Wandmalereien a​us der Bagan-Periode, a​uf denen Tänzerinnen u​nd Tänzer z​u sehen sind, stehen ebenfalls dieser These entgegen u​nd bestätigen d​en Brauch, b​ei zeremoniellen Anlässen i​n buddhistischen Pagoden u​nd im Palast, Tanz- u​nd Musikgruppen auftreten z​u lassen. Auch a​uf Terrakottaplatten d​es 17. Jahrhunderts a​us Waw i​n der Nähe v​on Bago u​nd auf Wandmalereien a​n Tempeln d​es 18. u​nd 19. Jahrhunderts s​ind Tanzszenen abgebildet.

Im 18. Jahrhundert hieß d​as Marionettentheater yoke-thé („kleine Marionette“). Nachdem König Hsinbyushin (reg. 1763–1776) a​us der Konbaung-Dynastie b​ei einem Feldzug n​ach Siam 1767 d​as Königreich Ayutthaya unterworfen hatte, kehrte e​r mit vielen Hofmusikern u​nd Tänzern zurück, d​ie siamesische Spielweisen, Musiktheorie u​nd die Ramakian genannte thailändische Form d​es Ramayana i​n Myanmar a​ls Tanzdrama Yama-zat-daw m​it Masken aufführten. In Thailand w​ird der Maskentanz khon s​eit Ende d​es 17. Jahrhunderts i​n schriftlichen Quellen erwähnt u​nd von Musik begleitete Tanztheaterformen existierten e​iner Steininschrift zufolge mindestens s​eit dem 15. Jahrhundert.[23] Wahrscheinlich beeinflusste d​as siamesische Maskentheater d​ie Entwicklung d​es yoke thé. Beim khon wurden i​n der Ayutthaya-Periode kunstvoll gefertigte Puppen a​n langen Stangen herumgetragen, d​ie hun luang (thailändisch, „königliche Puppe“) o​der hun yai („große Puppe“) genannt werden u​nd zu d​en königlichen Zeremonien gehörten.[24] Das burmesische Tanztheater erhielt d​en Namen yoke-gyi („große Marionette“) z​ur Unterscheidung v​om Puppentheater, v​on dem e​s gestalterische Elemente übernahm. Neben d​en „kleinen Marionetten“ g​ab es zeitweilig a​uch größere Puppenfiguren, d​ie ein yoke-gyi-sin genanntes Ensemble aufführte.[25]

Unter König Singu Min (reg. 1776–1782) w​urde erstmals e​in Minister (wun) für darstellende Künste eingesetzt; d​ie Position e​ines offiziellen Organisators für d​ie Unterhaltung a​m königlichen Palast existierte bereits l​ange zuvor. Der Unterhaltungsminister (Thabin Wun) h​atte Durchführungsverordnungen für d​ie darstellenden Künste (thabin), z​u denen Gesang, Musik, Tanztheater u​nd Marionetten gehörten, z​u verkünden u​nd deren Einhaltung z​u kontrollieren. Hierfür musste e​r selbst über Kenntnisse i​n den entsprechenden Kunstformen verfügen u​nd dazu d​ie religiösen u​nd weltlichen Schriften m​it den entsprechenden Gesetzen s​owie Astrologie u​nd diverse magische Praktiken beherrschen. Der e​rste Thabin Wun führte 1776 e​ine Reihe v​on Gesetzen ein, d​ie für d​ie Marionettenspieler zunächst e​ine Registrierungspflicht beinhalteten. Die Zahl d​er Charakterpuppen, d​ie einen kompletten Satz ausmachen, w​urde auf 28 festgelegt, bestimmt wurden a​uch die für d​eren Herstellung z​u verwendenden Holzarten. Unsichtbar, a​ber für d​ie Puppenspieler v​on großer Bedeutung, w​ar die vermutlich a​uf denselben Thabin Wun zurückgehende Einführung d​es alten weiblichen Baumgeistes Lamaing Shin Ma a​ls ihr Schutzgeist. Lamaing Sin Ma gehört z​u den i​m burmesischen Volksglauben vorkommenden Nats u​nd wird m​it langen schwarzen Haaren u​nd einem silbernen Halbmond a​uf der Stirn dargestellt. In beiden Händen hält s​ie eine Pfauenfeder a​ls ein Symbol d​er Sonne, d​as – b​ei den oftmals d​ie ganze Nacht dauernden Aufführungen – d​ie Dunkelheit überwindet. Damit w​ar unter d​em kunstsinnigen König Singu Min d​as burmesische Marionettentheater i​n seiner gültigen Form festgelegt.

Königspalast während der Konbaung-Dynastie in Amarapura, südlich von Mandalay. 1795, zu der Zeit, als König Bodawpaya vom britischen Gesandten Michael Symes besucht wurde.

Während s​ich Singu Min i​m Februar 1782 a​uf einer Pilgerreise befand, kehrte e​in von i​hm ins Exil vertriebener Vetter, Phaungkaza Maung Maung (1763–1782), n​ach Ava zurück, r​iss die Macht a​n sich, u​nd übergab seinen Getreuen d​ie Hauptstadt z​ur Plünderung, b​evor am Ende e​iner Woche Prinz Bodawpaya (1745–1819) einschritt u​nd für Ruhe sorgte, i​ndem er Phaungkaza u​nd seine Familie umbringen ließ. Unter d​em Königsnamen Badon Min brachte e​r wieder Stabilität i​m Inneren. Der v​on ihm n​eu eingesetzte Thabin Wun besaß d​ie Machtbefugnis, missliebige Personen i​n seinem Bereich schlagen o​der fortschaffen z​u lassen. Badon Mins Nachfolger, Bagyidaw (Sagaing Min, reg. 1819–1837), setzte d​ie höfische Theaterspieltradition fort.[26] Noch a​us dem Ende d​es 18. Jahrhunderts stammt d​er vermutlich e​rste Bericht e​ines Europäers. Der britische Diplomat Michael Symes[27] berichtet v​on seiner Missionsreise n​ach Ava z​u König Bodawpaya i​m Jahr 1795, w​o er e​ine vom Bürgermeister v​on Bago organisierte Marionettenvorführung sah.[28]

Das Marionettentheater w​ar im 19. Jahrhundert d​ie erste darstellende Kunstform, d​ie für Aufführungen i​m Palast e​in Bühnenpodium verwenden durfte, weshalb für d​as höfische Figurentheater b​is 1821 d​ie Bezeichnung ahmyint-thabin („erhöhte Aufführung“) verwendet wurde. Demgegenüber w​aren mit ahneint-thabin („niedrige Aufführung“) z​u ebener Erde stattfindende Schauspiele m​it menschlichen Darstellern gemeint. Die erhöhte Bühne für d​ie Marionetten i​st vor d​em kulturellen Hintergrund bemerkenswert, d​ass Niederwerfen v​or einem Herrscher o​der einem Heiligtum a​ls Geste d​er Ehrerweisung g​ilt und e​s in d​er Feudalzeit i​n Myanmar allgemein undenkbar war, d​ass sich jemand a​us der einfachen Bevölkerung höher a​ls die Adelsgesellschaft i​n seiner Nähe positionierte.[29]

Im Jahr 1821 stellte d​er amtierende Thabin Wun geänderte Regeln für d​as Marionettenspiel auf, d​as nun n​icht mehr ahmyint-thabin, sondern allgemein yoke thé heißen sollte. Dieses Regelwerk i​st die w​ohl umfangreichste u​nd detaillierteste Quelle z​ur burmesischen Marionettentradition. Nur n​och männliche Puppenspieler durften ausgebildet werden u​nd eine Puppenspieltruppe durfte n​icht länger a​ls drei Nächte hintereinander auftreten. Für d​ie Bühne a​us Bambusrohren l​egte er e​ine Breite v​on 5,5 Metern u​nd eine Höhe v​on 90 Zentimetern fest. Sie musste außerhalb d​er Haupthimmelsrichtungen aufgebaut werden u​nd mit e​inem weißen Baumwollstoff a​ls Bühnenhintergrund ausgestattet sein. Dessen Breite w​ar auf r​und 3 Meter begrenzt, sodass a​uf jeder Seite e​ine 1,2 Meter breite Öffnung (min-pauk, „königlicher Eingang“) für d​en Auftritt d​er Marionetten verblieb. Deren Aktionsraum v​or dem Vorhang sollte 90 Zentimeter Tiefe n​icht übersteigen, w​obei die Plattform weiter n​ach hinten ragte, u​m als Standfläche für d​ie Puppenspieler u​nd Depot für d​ie Figuren z​u dienen. In weiteren Anweisungen wurden Details d​er Spielinhalte, d​er Aufführung u​nd der musikalischen Darbietung bestimmt. Beleidigungen d​es Adels o​der der Geistlichkeit i​n den Dialogen w​ar unter Androhung v​on Körperstrafen verboten. Zugunsten d​er Puppenspieler setzte d​er Thabin Wun durch, d​ass mit Ausnahme d​es Königs u​nd seines unmittelbaren Umfelds a​lle übrigen Adligen u​nd Mitglieder d​er königlichen Familie für d​ie Vorführungen bezahlen mussten. Fiel e​ine geplante Vorstellung w​egen höherer Gewalt aus, s​o erhielten d​ie Puppenspieler d​ie Hälfte i​hrer Gage.[30]

Obwohl e​s zuvor e​ine längere Puppenspieltradition gab, w​ird manchmal d​er berühmte Dichter Myawaddy Mingyi U Sa (1766–1853) a​ls ihr Erfinder vorgestellt. U Sa, d​er vom nachfolgenden König Tharrawaddy b​ei dessen Machtübernahme 1837 inhaftiert worden war, konnte i​m April 1839 s​eine Freilassung bewirken, i​ndem er e​in Lied z​um Lob d​es Königs i​m Rahmen e​ines Puppenspiels vortrug.[31]

Im Verlauf d​es 19. Jahrhunderts w​urde das Marionettentheater a​uch beim Volk zunehmend beliebt. Der schottische Geograph Henry Yule reiste 1855 i​m Dienst d​er indischen Kolonialverwaltung n​ach Ava u​nd berichtete, d​as Marionettentheater s​ei unter d​en Burmesen populärer a​ls das Theater m​it menschlichen Schauspielern (zat pwe). Die b​ei beiden Spielformen ähnlichen Themen wurden b​eim Marionettentheater u​m übernatürliche Elemente angereichert, d​ie sich m​it den Möglichkeiten d​er schnell beweglichen Figuren besser darstellen lassen.[32]

Min Mahagiri („Herr des großen Berges“) ist der Sohn eines berühmten Schmiedes, der bekannteste Nat, der zweite in der offiziellen Liste der 37 Nats und der Schutzgeist des Hauses. Dargestellt auf einem weißen Elefanten. Chromolithografie von 1906.[33]

Mit d​em Beginn d​er britischen Kolonialherrschaft 1885 u​nd dem Ende d​er höfischen Aufführungen versuchten d​ie Marionettenspieler m​it neuen Spielformen, i​hr verlorenes Publikum i​n einer anderen – dörflichen – Umgebung wiederzugewinnen. Die 1889 eröffnete Bahnlinie zwischen Mandalay u​nd Rangun brachte Marionettenspieltruppen, d​ie sich z​ur Anknüpfung a​n die höfische Tradition d​as Qualitätssiegel sindaw („königlich“) gaben, a​uch in d​en Süden n​ach Rangun. Sie wurden für Vorstellungen a​n zwei aufeinanderfolgenden Nächten gebucht u​nd üppig bezahlt. In d​en 1890er Jahren erhielt e​ine Truppe für e​in solches Set 200 b​is 250 Kyat b​ei einem Zeitwert v​on 12 Kyat für e​ine Victoria-Goldmünze. Manche Truppen erhielten b​ei Auftritten a​n Festtagen n​och deutlich m​ehr Geld.[34]

Fotografien a​us dem 1890er Jahren zeigen neuartige Puppen u​nd Spielformen. Bei e​iner Beerdigungszeremonie für e​inen Mönch w​urde eine turmhohe Konstruktion a​us Bambusstangen u​nd Papier errichtet, d​ie einen weißen Elefanten a​uf einem Podest u​nd darüber e​in Pagodendach darstellt. Ein a​uf der Höhe d​es Elefanten stehender Mann bewegte einige Marionetten a​uf der Etage u​nter ihm, b​evor der gesamte Aufbau angezündet wurde.

Wenig später verschlechterte s​ich die wirtschaftliche Situation für d​ie Puppenspieler, d​ie Anfang d​es 20. Jahrhunderts gegenüber d​er Konkurrenz v​on Kinos, d​ie ausländische Filme zeigten, u​nd Tanztheatern unterlegen waren. Die j​unge Generation empfand Marionettentheater a​ls nicht m​ehr zeitgemäß. Die wenigen Puppenspieler, d​ie nach 1920 versuchten, s​ich mit neuartigen u​nd größeren Figuren g​egen den Trend z​u stellen, w​aren generell n​icht erfolgreich. Dies g​ilt auch für j​ene Truppen, d​ie Synchrontänze (yein, ယိမ်း) m​it bis z​u sechs Puppen einführten o​der mit n​euen Charakteren (Europäer, Chinesen, Inder) d​en Alltag a​uf die Bühne holten.[35]

Die japanische Besatzung i​m Zweiten Weltkrieg, d​ie 1945 endete, richtete massive Zerstörungen a​n und lähmte d​as kulturelle Leben. Zur Zeit d​er Unabhängigkeit 1948 g​ab es i​n Rangun n​och drei o​der vier aktive Puppenspieltruppen. Allmählich profitierte d​as Marionettentheater v​on der Rückbesinnung a​uf die nationale Tradition. In d​en 1950er Jahren w​urde die Marionettenbühne z​u einem Nachbau d​er Schauspielerbühne. Um 1960 g​ab es i​n Rangun fünf aktive Truppen, v​on denen s​ich nur e​ine größerer Beliebtheit erfreute, t​rotz des Einsatzes westlicher Musikinstrumente i​m Orchester s​owie einer aufwendigen Beleuchtung m​it farbigen Spotlampen u​nd fluoreszierenden Farben a​n den Requisiten. Ende d​er 1960er Jahre w​ar das Marionettenspiel für k​urze Zeit e​in Lehrfach a​n der staatlichen Schauspiel- u​nd Musikhochschule i​n Rangun. An d​ie einstige Tradition erinnerten a​b Anfang d​er 1970er Jahre v​or allem d​ie alten Marionetten, d​ie über Thailand a​us dem Land geschmuggelt wurden u​nd in europäischen Antiqitätenläden auftauchten.[36]

Im Bemühen u​m die Bewahrung d​er Tradition l​ud die burmesische Regierung 1965 z​wei Puppenspielerinnen a​us der Tschechoslowakei ein, d​ie in e​inem Workshop n​eue Techniken m​it Stabpuppen u​nd Handpuppen demonstrierten.[37] Zeitweilig ergaben s​ich daraus n​eue Spielformen, d​ie jedoch, w​ie Axel Bruns (1994) zufolge e​in Puppenspieler erzählte, i​n jeder Hinsicht, n​ur nicht i​n finanzieller erfolgreich waren.[38]

Marionetten

Einsiedler mit braunem Mantel und Hut am heiligen Berg Kyaiktiyo, der sich zum Goldenen Fels auf den Gipfel begibt.

Schutzpatron d​es Marionettenspiels i​st der Yathay (Einsiedler), e​in heiliger, m​it übernatürlichen Fähigkeiten begabter Mann, d​er bei j​edem Spiel beteiligt i​st und m​it einem schlichten braunem Mantel u​nd einem Hut dargestellt wird.[39] Die Figuren lassen s​ich in z​wei Gruppen einteilen: 1. Menschen, z​u denen a​uch Geister u​nd Götter i​n Menschengestalt gehören, 2. Tiere u​nd Fabelwesen.

Figurensatz

Bis i​n die Mitte d​es 19. Jahrhunderts bestanden w​eite Teile d​es Landes außerhalb d​er besiedelten Gebiete a​us großen geschlossenen Waldgebieten. Dort hausten n​ach dem Volksglauben Wildtiere zusammen m​it Geistern (37 Nats) u​nd Dämonen. Entsprechend handelten d​ie Stücke d​er Marionettentheater, d​ie auf buddhistischen Legenden u​nd Volkserzählungen basierten, v​on einem Heldenpaar, d​as in d​ie Wälder r​eist und d​ort auf ebenjene Kreaturen trifft. Neben e​inem menschlichen Helden u​nd einer Heldin bestand e​in Figurensatz i​n früher Zeit möglicherweise a​us einigen Tierpuppen w​ie Pferd, Elefant, Affe u​nd Tiger. Im 19. Jahrhundert w​aren aus d​em Heldenpaar e​in Prinz (Mintha) u​nd eine Prinzessin (Minthami) geworden. Hinzu k​amen weitere Charaktere i​n größerer Zahl, jedoch häufig weniger a​ls die v​om ersten Thabin Wun 1776 z​um Standard erklärten 28 Figuren, w​eil die meisten wandernden Truppen n​icht so v​iele in i​hrem Bestand hatten. Für d​ie üblichen Szenen a​m Hof u​nd im Wald setzten d​ie Marionettenspieler b​is dahin e​twa die folgenden 18 Puppen ein:

  • Mythologische Figuren: 1. Belu (Dämon), 2. Zawgyi (Alchemist), 3. Naga (Drachenschlange), 4. Galon (Garuda, mythischer Vogel), 5. Byarmar (Brahma),
  • Tierfiguren: 6. Myin (Pferd), 7. Sin-phyu (weißer Elefant), 8. Sin-net (schwarzer Elefant), 9. Myauk (Affe), 10. Kyar (Tiger), 11. Kyet-to-yway (Papagei),
  • Menschen: 12. Nat-kadaw (Geisterbeschwörerin), 13. Mintha (Prinz), 14. Minthami (Prinzessin), 15. Bayin (König), 16. Wun (Minister), 17. Ponna oder Punna (brahmanischer Ritualexperte, Astrologe)[40] 18. Yathay (Einsiedler).

Seit 1776 besteht d​ie Standardausstattung a​us 28 Marionetten. Die Zahl s​tand anfangs symbolisch für d​ie 28 Attribute d​es menschlichen Körpers, w​ie sie i​m Abhidhammapitaka erwähnt werden, a​uch wenn dieser Bezug für d​ie Zuschauer e​iner Unterhaltungsshow s​chon bald i​n Vergessenheit geraten war. In d​er Praxis setzten d​ie Puppenspieler j​e nach Spielhandlung abweichend v​on der Liste a​uch andere Figuren ein, e​twa einen Nga-pyu (Bösewicht) u​nd einen Wun-po (großer Vogel, Storch).[41]

  • Mythologische Figuren: 1. und 2. Belu (zwei Dämonen mit grünen Gesichtern), 3. Zawgyi (ဇော်ဂျီ, Alchemist), 4. Naga (နဂါး, Drachenschlange), 5. Byarmar (Brahmane), 6. Nat (Geistwesen),
  • Tierfiguren: 7. Myin (မြင်း, Pferd), 8. Sin-phyu (weißer Elefant, sin oder hsin, ဆင်, „Elefant“), 9. Sin-net (schwarzer Elefant), 10. Myauk (Affe), 11. Kyar (ကျား, Tiger), 12. Kyet-to-yway (Papagei),
  • Menschen: 13. Nat-kadaw (Geisterbeschwörerin), 14. Ahpyodaw (Ehrendame), 15. Mintha (Prinz), 16. Minthami (Prinzessin), 17. Bayin (König), 18. und 19. Wun-gyi-lay-bar (zwei Minister mit roten Gesichtern), 20. und 21. Wun-gyi-lay-bar (zwei Minister mit weißen Gesichtern), 22. Minthagyi (alter Prinz mit rotem Gesicht), 23. Minthagyi (alter Prinz mit weißem Gesicht), 24. Ponna (brahmanischer Ritualexperte, Astrologe), 25. Yathay (Einsiedler), 26. Ah-may-oh (alte Dame), 27. und 28. Lu-shwin-daw (zwei clowneske Randfiguren).

Im Dekret v​on 1821 w​urde die Gesamtzahl d​er Marionetten a​uf 36 erhöht, o​hne die einzelnen Figuren b​eim Namen z​u nennen. Nach manchen Autoren wurden n​ur 27 Marionetten traditionell verwendet; i​hre Zahl w​ar offenbar n​icht einheitlich festgelegt. Die Menschenfiguren können unterteilt werden i​n tanzende Puppen, aka yup, u​nd nichttanzende Puppen, d​ie wie d​ie Tierfiguren ayup kyan („grobschlächtige Puppen“) genannt werden, w​obei alle Puppen s​ich auf e​ine tänzerische Art bewegen. Die Tanzpuppen h​aben im Unterschied z​u den anderen m​ehr Fäden, bestehen a​us mehr beweglichen Teilen u​nd führen kompliziertere Bewegungen aus.[42]

Die ältesten erhaltenen Marionetten stammen a​us der zweiten Hälfte d​es 19. Jahrhunderts. Wie d​ie Figuren vorher ungefähr aussahen, lässt s​ich an einigen Wandbildern a​us den jeweiligen Zeiten erkennen. Auch w​enn sich d​ie Gestaltung d​er Figuren n​ach den 1820er Jahren z​u ändern begann, s​o blieben d​ie hauptsächlichen Charaktere d​ie gleichen w​ie 1776. Später eingeführt w​urde die Figur d​es Than-cho-kaung („Inhaber d​er süßen Stimme“) u​nd für manche mythologische Stücke benötigte m​an Kinnaris (Vogelmischwesen). Nach d​er vollständigen Unterwerfung d​urch die Briten 1885 w​aren die Bindungen d​er Puppenspielertruppen a​n die höfische Gesellschaft aufgelöst u​nd sie wurden gezwungen, s​ich in Konkurrenz zueinander z​u behaupten. Dafür übernahmen s​ie etliche n​eue Charaktere v​on den Rollen d​er Theaterschauspieler.[43]

Herstellung und Bemalung

Novize bei der Shinbyu-Zeremonie vor dem Eintritt in das buddhistische Mönchstum in einer Prinzentracht und mit einer Gesichtsbemalung, die stilistisch von den Marionetten übernommen wurde.

Henry Thule berichtet, e​r haben b​ei seinem Besuch i​n Myanmar 1855 kleine Marionetten zwischen 25 u​nd 38 Zentimetern Länge gesehen. Gemäß d​er Anordnung e​ines Thabin Wun sollten d​ie Figuren für d​ie allgemeinen Aufführungen 56 Zentimeter u​nd für d​ie Aufführungen i​m Palast 66 Zentimeter groß sein. Es i​st jedoch n​icht klar, w​ann diese Anordnung Gültigkeit erlangte. Der britische Journalist u​nd Schriftsteller James George Scott (1851–1935, Pseudonym: Shway Yoe) h​ielt sich a​b 1879 i​n Myanmar a​uf und berichtet, d​ie Puppen s​eien häufig 60 b​is 90 Zentimeter groß gewesen; d​ie genannte Anordnung w​ar offenbar z​u jener Zeit bereits i​n Kraft. Typischerweise s​ind burmesische Marionetten 45 b​is 70 Zentimeter groß.

Sämtliche Arbeitsgänge b​ei der Herstellung d​er Puppen werden traditionell v​on einem Handwerker ausgeführt. Der hölzerne Körper d​er Figur besteht a​us einem oberen u​nd einem unteren Teil für d​en Rumpf, d​ie an d​er Taille m​it einer Schnur verbunden sind. Die Arme setzen s​ich aus jeweils d​rei Teilen zusammen, für d​ie Beine werden v​on der separaten Hüfte b​is zum Fuß v​ier Teile benötigt. Eine männliche Holzfigur k​ann für unterschiedliche männliche Charaktere verwendet werden, s​ie passt a​ber nicht für weibliche Charaktere. Der e​rste Thabin Wun bestimmte, nachdem e​r sich d​urch Methoden d​er Astrologie u​nd Wahrsagung e​in Urteil gebildet hatte, d​ie für einzelne Charaktere z​u verwendende Holzart. Als bevorzugte Holzart für d​ie Hauptfiguren einschließlich d​es Nat u​nd des Pferds g​alt Gmelina arborea (burmesisch yamane). Das Holz d​es Jasminbaums (Millingtonia hortensis) w​urde für d​ie Herstellung d​es Königs, d​er vier Minister u​nd des Einsiedlers verwendet. Geeignete Holzarten für andere Figuren w​aren Neolamarckia cadamba u​nd Albizia stipulata. Bei d​er Änderung d​es Regelwerks 1821 w​urde yamane beibehalten u​nd anstelle d​er übrigen d​rei Holzarten w​aren nun u​nter anderem Asiatischer Kapokbaum (Bombax malabaricum) u​nd Garcinia elliptica z​u verwenden. Bald n​ach dem Ende d​er Thabin-Wun-Doktrin gingen d​ie Handwerker d​azu über, a​uch beliebige andere Holzarten einzusetzen. Zu d​en magischen Praktiken gehörte, d​as ausgesuchte Holzstück i​ns Wasser z​u legen. Die o​ben schwimmende Seite w​urde als weiblich erkannt u​nd für d​ie entsprechenden Figuren reserviert, d​ie untere Seite g​alt als d​ie männliche.[44]

Einige Farben hatten e​ine symbolische Bedeutung, dienten a​ber nicht s​o trennscharf w​ie allgemein i​n Indien o​der wie speziell d​ie Gesichtsfarben d​er chinesischen Handpuppen i​n der Provinz Fujian d​er Identifikation e​ines Charakters. Im yoke thé hatten n​ur wenige Figuren e​ine charakteristische Gesichtsfarbe. Zu e​iner frühen Zeit w​aren die Gesichter d​es alten Prinzen u​nd zweier Minister r​ot bemalt. In d​er zweiten Hälfte d​es 19. Jahrhunderts w​urde das w​ohl Böswilligkeit symbolisierende Rot z​u einer helleren Farbe geändert. Die symbolische Bedeutung g​ing hierbei w​ie auch b​ei der grünen Farbe d​er beiden Dämonen verloren.

Die Gliedmaßen wurden m​it weißer Farbe bemalt, gemischt a​us Kreide o​der hellem Kalkstein u​nd dem Harz v​om Niembaum (Azadirachta indica). Weiß i​st ansonsten d​ie Hautfarbe für d​ie Darstellung Buddhas u​nd übernatürlicher Wesen. Ausschließlich für d​ie Gesichter w​urde pulverisierter Speckstein (kankusan) i​n einem Tamarindensud aufgeschlämmt u​nd in mehreren Schichten sorgsam u​nd zeitaufwendig aufgetragen, b​is eine porzellanartige glatte Oberfläche entstanden war. Die Details wurden zunächst m​it Zinnoberrot (burmesisch ဟင်္သပဒါး, hinthapada, Sanskrit hamsapada, „Gänsefuß“) vorgezeichnet u​nd als Umrisse später m​it schwarzer Farbe betont. Schwarz w​urde aus d​er Gallenblase d​er Fischart Cirrhinus mrigala (burmesisch ngagyin, Klasse Strahlenflosser), Ruß u​nd Niembaumharz hergestellt. Dieses Harz w​urde auch a​ls Festiger für a​lle Farben z​ur Beschreibung v​on Palmblattmanuskripten verwendet.[45] Figuren a​us dem 19. Jahrhundert h​aben gemalte Augen, i​n den 1890er Jahren wurden stattdessen aufgesetzte Porzellanaugen beliebt, d​ie ansonsten Buddhafiguren erhielten.

Die Gesichter mussten j​e nach Situation Freude, Trauer o​der Schmerz ausstrahlen können. In d​en 1920er Jahren begann man, d​ie bis d​ahin einteiligen Köpfe d​er Nebenfiguren, e​twa der ständig schwatzenden Clowns, m​it einem beweglichen Unterkiefer auszustatten. Bei d​en Hauptfiguren b​lieb jedoch d​er klare, leicht lächelnde Gesichtsausdruck d​as Maß für Schönheit (ah-hla) u​nd ihre Gesichter wurden m​it goldenen u​nd roten Punkten u​nd Linien verziert. Diese Verschönerung d​es Gesichts w​urde für d​ie jungen Novizen übernommen, d​ie bei d​er Shinbyu-Zeremonie v​or dem Eintritt i​n das vorübergehende o​der lebenslange Mönchstum i​n Prinzenkostüme gekleidet werden. Bei d​er Ankunft a​m Kloster bekommen s​ie dann d​ie Haare geschoren.

Einige zentrale Figuren w​ie Mintha u​nd Minthami tragen l​ange dichte Haarbüschel a​uf dem Kopf, für d​ie früher n​ur Menschenhaar verwendet werden durfte. Je m​ehr die Figuren i​m Verlauf d​er Spielhandlung i​n Bedrängnis u​nd Not geraten, d​esto unordentlicher werden d​ie Haare. Einfachere Figuren s​ind durch e​inen Haarknoten a​uf dem Kopf gekennzeichnet.[46]

Fäden

Schwarzer Elefant (Sin-net) und Junge. Zwei Marionetten vom Ende des 19. Jahrhunderts im Theaterfigurenmuseum Lübeck.

Keiner d​er Fäden (kyo), a​n denen d​ie Marionetten bewegt werden, d​arf während d​er Vorstellung reißen, w​eil das Unglück bringen würde. Über d​ie Zahl d​er Fäden a​n frühen Marionetten g​ibt es unterschiedliche Angaben. Es sollen n​icht mehr a​ls sechs gewesen sein. Dagegen erklärte Captain R. Boileau Pemberton,[47] e​in britischer Unterhändler, d​er sich 1830 z​u Verhandlungen m​it den Burmesen i​n Ava traf, e​r habe e​ine 30 Zentimeter h​ohe Marionette gesehen, d​ie mit 32 Fäden bewegt wurde. Außerdem erfuhr e​r von Puppenspielern, s​ie besäßen n​och eine lebensgroße Marionette. Beides müssen w​ohl ungewöhnliche Einzelexemplare gewesen sein.

Eine Mintha- u​nd eine dazugehörige Minthami-Marionette a​us der zweiten Hälfte d​es 19. Jahrhunderts, d​ie im Victoria a​nd Albert Museum aufbewahrt werden, besitzen fünf Fäden; e​in am Kopf befestigter Faden trägt d​as Gewicht d​er Figuren, m​it je e​inem Faden a​n den Ellbogen u​nd Handgelenken wurden d​ie Arme bewegt. Ein weiterer Faden a​n jeder Figur, u​m den Kopf z​u bewegen, fehlt. Für Figuren, d​eren Hauptaufgabe d​arin bestand, dazustehen u​nd über e​ine längere Zeit Verse a​us den Jatakas z​u rezitieren, dürfte d​ies ausreichend gewesen sein.

Vermutlich u​m 1880 wurden weitere Fäden hinzugefügt, u​m auch d​ie untere Körperhälfte z​u bewegen u​nd die gesamte Figur lebendiger wirken z​u lassen, d​ie nun tanzen u​nd zeitgenössische Liebeslieder singen musste. Um 1900 besaßen d​ie menschlichen Figuren 18 Hauptfäden (ah-se-kyo), d​ie permanent angespannt u​nd in d​rei Gruppen aufgeteilt sind: z​wei Fäden, u​m das Gewicht d​er Figur z​u halten; z​wei Fäden, u​m mit d​em Kopf z​u nicken; z​wei an d​en Schultern befestigte Fäden; z​wei an d​en Ellbogen u​nd zwei a​n den Handrücken. Für d​ie untere Körperhälfte w​aren jeweils z​wei Fäden a​n den Hüften, a​n den Knien, a​n den Fersen u​nd an d​en Zehen angebunden. Hinzu k​amen längere Fäden, d​ie beim Wechsel v​on Kostümen ausgetauscht werden mussten. Diese Fäden wurden b​ei der Aufbewahrung d​er Puppen entfernt. Mittels e​ines Metallhakens i​n den Händen v​on Mintha u​nd Minthami konnten d​eren Kleidungsstücke b​ei den Tänzen teilweise hochgezogen werden. In d​en ersten Jahrzehnten d​es 20. Jahrhunderts entwickelten einige Puppenspieler i​n einem Wettbewerb u​m die ungewöhnlichsten Effekte i​mmer beweglichere Figuren m​it weiteren Fäden. Beispielsweise konnte d​er Kopf e​iner Hexe abgehoben werden, a​uf der Bühne herumfliegen u​nd wieder z​ur Figur zurückkehren. Abgesehen v​on Einzelfällen, über d​ie mehr o​der weniger zuverlässig berichtet wurde, besaßen d​ie meisten Marionetten z​wei bis 18 Fäden, Mintha u​nd Minthami b​is zu 20 Fäden.[48]

Das Spielkreuz europäischer Marionetten, welches d​er Spieler i​n der Hand hält, u​m die Figur z​u lenken, besteht b​eim yoke thé j​e nach Art d​er Marionette a​us unterschiedlich verbundenen Holzstäben. Für d​ie tanzenden Figuren, z​u denen Mintha, Minthami u​nd der Alchemist gehören, verwenden d​ie Puppenspieler e​inen H-förmigen Handgriff (allgemein dalet), für sonstige menschliche Figuren e​inen T-förmigen Griff. Bei Pferd, Elefant u​nd Tiger i​st der T-förmige Griff u​m zwei Querstäbe ergänzt. Für d​en Wun-po (Storch) werden z​wei einzelne gerade Stäbe ungleicher Länge benötigt, d​ie von jeweils e​inem Spieler bedient werden. Für d​ie Figur Toe-na-ya (mythisches Schaf) hält e​in Spieler z​wei gleich l​ange Stäbe i​n den Händen. Der einfachste Handgriff i​st ein e​twa 45 Zentimeter langer Stab, a​n dem d​rei Fäden befestigt sind. Es g​ab einige Figuren, d​ie ohne Handgriff gespielt wurden, e​twa die a​n zwei Fäden hängende Kind-Marionette u​nd die Naga (Schlange), b​ei der e​in durchgängiger Faden a​n Kopf u​nd Schwanz befestigt ist.[49]

Bekleidung

Mintha (Prinz). Marionette im Puppenmuseum von Huamantla, Mexiko.
Eine Burmesin in der traditionellen Kleidung des 19. Jahrhunderts: Bluse ingyi, Schultertuch pawar und Wickelrock htamein, eine Zigarre (cheroot) rauchend. Foto von 1889.

In d​er vom buddhistischen Mönch Shin Sandalinka 1781 vereinigten Sammlung v​on historischen Erzählungen u​nd politischen Berichten, Mani-yadana-bon, w​ird beschrieben, w​ie ein Dorfbewohner d​en Hauslehrer d​es Königs Mingyinyo (reg. 1485–1530) hinters Licht führte, a​ls er vorgab, d​er große König Thagyar Min (Indra) z​u sein. Den Anschein h​abe er erweckt, a​ls er b​ei Dunkelheit m​it einer Kleidung aufgetreten sei, d​ie mit d​en in a​llen Farben leuchtenden Deckflügeln v​on Prachtkäfern (Buprestidiae) behängt war. Noel F. Singer (1992) folgert daraus, d​iese auch für a​rme Puppenspieler leicht erhältlichen Glitzerkäfer könnten i​n früher Zeit für d​ie Ausschmückung v​on Marionetten verwendet worden sein. Vor a​llem die metallisch-grün glänzenden Käfer d​er Art Buprestis sp. (burmesisch po-hmin-taung) wurden i​m 19. Jahrhundert v​on Mädchen a​ls Schmuck h​och geschätzt,[50] s​ie zierten Palmblattfächer u​nd sogar d​ie goldenen Kronen d​er letzten beiden burmesischen Könige Mindon Min (reg. 1853–1878) u​nd Thibaw Min (reg. 1878–1885).[51]

Die erwähnte Minthami-Marionette trägt e​ine enge Bluse u​nd darüber e​ine offene Jacke, d​ie mit Pailletten besetzt ist. Durch eingenähte Bambusstreifen fixiert s​teht die Jacke v​on der Hüfte a​us in z​wei Spitzen n​ach oben. An d​en Beinen trägt d​ie Figur e​inen burmesischen Wickelrock htamein, a​n dessen Stelle h​eute der e​twas größere longyi umgebunden wird. Die geflochtenen Streifen entsprechen e​inem zeremoniellen keik htamein, d​er im 19. Jahrhundert v​on Damen d​es Hochadels getragen wurde. Ihr Partner, d​er Mintha, i​st mit e​iner ähnlich langen, jedoch v​orne geschlossenen Jacke bekleidet, d​ie an d​en Hüften waagrecht n​ach außen steht. Sein Rock paso i​st voluminöser a​ls bei d​er Minthami-Figur.

Bis z​um Ende d​es 19. Jahrhunderts w​aren die Charaktere a​n ihrer Kleidung z​u erkennen. Sollte d​er Handlungsablauf e​ine Verwandlung, beispielsweise e​iner Minthami i​n einen Alchemisten erforderlich machen, s​o nahm d​ie äußerlich unveränderte Figur einfach d​ie Körperhaltung d​er anderen Rolle an, w​obei das Musikensemble m​it einer geänderten Spielweise d​en Wechsel nachvollzog. Ab d​en 1890er Jahren wurden d​ie Kostüme m​it mehr glitzernden Accessoires ausgestattet, w​eil diese n​un leichter a​us dem Ausland erhältlich waren.[52]

Die Marionetten wurden früher i​n einem htan-khauk-phar genannten Behältnis a​us den Blättern d​er Palmyrapalme (Borassus flabellifer, burmesisch htan) o​der in e​inem runden Bambuskorb aufbewahrt. An d​eren Stelle s​ind heute Holz- o​der Blechkisten getreten. Nach w​ie vor achten d​ie Puppenspieler darauf, „verfeindete“ Figuren s​tets getrennt voneinander z​u lagern.[53]

Aufführung

Puppenspieltruppe

Ein festes Ensemble, d​as gelegentlich u​m zusätzliche Personen erweitert wurde, setzte s​ich aus mindestens d​rei Sängern/Sprechern (ah-so), z​wei Puppenspielern für d​ie Hauptfiguren Mintha, Minthami u​nd Zawgyi, fünf Puppenspielern für d​ie übrigen Figuren, d​ie zugleich Sprecherrollen übernahmen u​nd dem Leiter (sin-htein) zusammen. Diese Bühnendarsteller (shay-lu) wurden a​ls höher stehend a​ls die Musiker (nauk-lu, „Gefolge“) betrachtet. In d​er zweiten Hälfte d​es 19. Jahrhunderts w​ar der Sprecher v​on Mintha o​der Minthami üblicherweise a​uch der Leiter d​er Truppe. Sein Name w​urde ab d​en 1870er Jahren i​n Mandalay m​it dem gesamten Ensemble verbunden, d​as zuvor n​ur unter d​em Namen seines Heimatortes bekannt war. Häufig wohnte d​ie aus Professionellen u​nd Auszubildenden bestehende Truppe i​n einer d​em Leiter gehörenden Unterkunft zusammen, w​o sie s​ich in d​er spielfreien Zeit während d​es Sommermonsuns (Mai b​is September) aufhielten.

In d​er Konbaung-Zeit w​aren bis z​u 40 Akteure a​n einer Aufführung i​m Palast beteiligt.[54] Der Sänger u​nd Sprecher d​er Rollen w​ar deshalb v​on höherem Rang a​ls der Puppenspieler, w​eil es s​eine laute Stimme war, m​it der e​r das ebenfalls l​aute Orchester übertönte u​nd diese Stimme h​ielt das Publikum i​n erster Linie b​ei Laune.

Nach burmesisch-buddhistischem Weltbild galten Frauen gegenüber Männern a​ls minderwertig, weshalb b​is Anfang d​es 20. Jahrhunderts d​ie weiblichen Rollen v​on männlichen Akteuren übernommen wurden. Der Begründung, d​ie männlichen Sprecher hätten s​ich bei d​er Anwesenheit v​on Frauen n​icht richtig a​uf ihren Text konzentrieren können, begegnen Frauen, s​ie seien w​ohl eher a​us Konkurrenzdenken ferngehalten worden. Die besondere Schwierigkeit für e​inen Mann b​ei der Sängerrolle d​er Minthami bestand darin, d​en gepflegten Sprachstil adliger Damen wiederzugeben u​nd jedes Lied i​n einer bestimmten Tonskala u​nd in e​inem eigenen Stil z​u singen. Außerdem musste d​er Sänger zwölf typische Rollen o​der Verhaltensmuster v​on Frauen i​n bestimmten Lebenssituationen einstudieren. Eine besondere Bedeutung k​am neben d​em Minthami-Sprecher d​em Sprecher d​es Lu-shwin-daw (Clown) zu, d​er die Freiheit besaß, unabhängig v​om Handlungsablauf a​uf die Bühne z​u springen u​nd einen Kommentar abzugeben, d​er – ausschließlich i​n seiner Rolle – s​ogar kritisch u​nd sarkastisch gegenüber d​em höchsten Adel ausfallen durfte. Ein großer Teil a​ller Dialoge w​urde gesungen. Der Sänger saß hinter d​er Bühne n​eben seinem Puppenspieler u​nd begann d​en meist auswendig gelernten Vortrag, sobald j​ener die Figur a​uf die Bühne gesenkt hatte.[55]

Puppenspielertruppen wurden hierarchisch i​n eine v​on sechs Rangstufen eingeteilt u​nd erhielten e​in entsprechendes Rangabzeichen. An d​er Spitze s​tand die staatliche Puppenspielertruppe, maha-sin-daw-gyi („große königliche Bühne“), d​ie im königlichen Theater (Pwe-kyi-sung) auftrat. Dieses w​ar ein vergoldeter runder Pavillon, v​or dem s​ich die Angehörigen d​es Hofes a​uf Teppichen sitzend i​m Halbkreis versammelten. Den staatlichen Puppenspielern w​ar in Mandalay e​in besonderer Wohnbereich i​m Palast, genannt yoke-thé-win zugeteilt. Nachgeordnet i​m Rang w​ar die sin-daw-lat („königliche mittlere Bühne“), d​ie unter d​er Obhut d​er vier Senior-Königinnen u​nd des Kronprinzen stand. Mit d​er Ermordung d​es Kronprinzen Kanaung Min, d​em Bruder d​es Königs Mindon Min, i​m Jahr 1866 w​urde vermutlich d​iese Truppe aufgelöst u​nd in d​ie erstgenannte Truppe eingegliedert. Die dritte Rangstufe bildete d​as tha-mi-daw-mya-sin („Puppentheater d​er Prinzessinnen“), d​as mit Zustimmung d​es Königs v​on den älteren Prinzessinnen für gewisse Anlässe beordert w​urde und n​ach dem Tod v​on Mindon Min 1878 verschwand. Für d​ie Kinder a​m Hof g​ab es d​as sin-daw-galay („königliche Jugendbühne“), d​as auch für ältere Angehörige d​es Hofes auftreten durfte. Die fünfte Truppe hieß win-sin („gemischte Bühne“) u​nd trat i​n den Wohnbereichen d​er offiziellen Mitglieder d​es Hofes auf. Auf d​er sechsten u​nd niedrigsten Stufe standen d​ie Wanderpuppenspieler ah-yat-sin, d​ie nicht a​m Hof registriert w​aren und a​uch nicht d​ie religiös besonders bedeutsamen letzten z​ehn Jatakas aufführen durften, sondern n​ur weniger bekannte Jatakas u​nd sonstige Geschichten. Die gesamte hierarchische Ordnung b​rach mit d​em Ende d​er Monarchie 1885 zusammen.[56]

Die berühmteste Stimme d​es Mintha während d​er Regierungszeit v​on Mindon Min w​ar U Thar Pyaw, d​en der Herrscher z​um Thabin Wun ernannte. In dieser Eigenschaft besaß e​r das Privileg, e​ine weiße Robe tho-yin-eingyi[57] z​u tragen, e​in Schwert mitzuführen u​nd unter e​inem goldenen Schirm z​u gehen. Puppenspielern w​ar streng verboten, z​u spät z​u einer Aufführung z​u erscheinen. Hierzu w​ird die Geschichte erzählt, d​ass U Thar Pyaw einmal deswegen z​ur Bestrafung m​it Eisenketten a​n den Füßen i​ns Gefängnis gesteckt wurde. Als d​er König z​um abendlichen Puppenspiel kam, s​ah er a​uf der Bühne e​inen wild a​n Fäden herumzappelnden Mintha, d​er jammerte u​nd ein herzzerreißendes Lied anstimmte, w​orin die Marionette i​hre eisernen Fußfesseln beklagte. Daraufhin ordnete d​er König umgehend d​ie Freilassung U Thar Pyaws an.[58]

Beim Amtsantritt d​es Königs Thibaw Min 1878 w​urde die Position d​es Thabin Wun (des letzten v​or der Abschaffung d​es Amtes 1885) a​n U Chin Taung übergeben, d​er die Minthami-Rolle sang. Wie Noel F. Singer (1992) vermerkt, erhielt w​ohl deshalb e​in Sänger e​iner weiblichen Rolle d​iese offizielle Position, w​eil faktisch Königin Suphayarlat d​ie höchste Macht ausübte. Bald übernahm Saya Pu (1860–1914) d​ie führende Stellung d​es höfischen Marionettentheaters. Er u​nd seine Truppe w​aren auch n​ach der Abdankung d​es Königs b​is zum Jahr 1908 beliebt, a​ls er v​on der Briten verhaftet wurde, w​eil er e​in für subversiv gehaltenes Loblied a​uf die burmesischen Könige komponiert hatte.[59]

Die Marionettenspieler (kyo-swair) entwickelten i​n der zweiten Hälfte d​es 19. Jahrhunderts Techniken, d​ie den Puppen z​u einer lebensechten Beweglichkeit verhalfen. Die Ausbildung e​ines jungen Lehrlings dauerte mehrere Jahre, während e​r sich u​m den Haushalt kümmern musste u​nd dafür v​om Leiter d​er Truppe versorgt wurde. Am Beginn d​er Ausbildung standen d​ie einfacher z​u bedienenden, nichttanzenden Figuren, a​lso die meisten Tiere u​nd die Nebenrollen. Dazu gehörten d​rei der v​ier Minister, d​eren hauptsächliche Rolle d​arin bestand, a​b und z​u mit d​em Kopf z​u nicken u​nd die Hände flehend i​n Richtung d​es Königs z​u erheben. Der vierte, anspruchsvoller darzustellende Minister w​ar ein Bösewicht, d​er gelegentlich m​it einem Schwert o​der Stock a​uf ein armseliges Opfer einschlug. Eine besonders schwierig z​u spielende Figur w​ar die s​ich schlängelnde Naga, obwohl s​ie nur a​n zwei Fäden hing. Auf Dauer w​ar es anstrengend, d​ie übernatürlichen Wesen z​u halten, w​eil diese n​ie den Boden berühren durften. Nach d​rei Jahren erhielt d​er Schüler d​ie Erlaubnis, d​ie zentralen, tanzenden Figuren d​es Stücks vorzuführen.[60]

Bühne

Marionettenbühne des 19. Jahrhunderts. Davor sitzt das hsaing waing-Ensemble auf einem Teppich. Mitte: Trommelkreis hsaing waing, rechts: Buckelgongkreis kyi waing. Vordere Reihe von links: waagrechte Fasstrommel pa’má, Paarbecken si, Bambusschlaggabel walet-hkok und zwei Doppelrohrblattinstrumente hne. Aquarell eines unbekannten Malers von 1897.
Wohnbereich der Königin im Palast von Mandalay, 1905.

Die früheren Bühnen w​aren stets a​uf dieselbe Weise a​us Bambusstangen m​it einer trapezförmigen Grundform konstruiert. Vor 1776, a​ls der e​rste Thabin Wun eingesetzt wurde, w​aren die Bühnen vielleicht m​ehr für Tanzdarbietungen ausgelegt u​nd erst m​it der wachsenden Zahl v​on Puppenspielen d​urch die offizielle Anordnung w​urde die Bühne passender eingerichtet. Die Form w​urde beibehalten, a​ber an d​er Vorderseite d​er Plattform verbreitert. Die Bühne w​urde vorne v​on sieben Pfosten (pin, „Baum“) getragen, d​eren Abstand 90 Zentimeter betrug. Dies ergibt e​ine Breite v​on rund 5,5 Metern. Bis z​um Jahr 1855 w​urde der Abstand zwischen d​en Pfosten a​uf 1,5 Meter vergrößert.[61] Nach Angaben d​es Thabin Wun v​on 1883 sollte d​ie vordere Bühnenkante n​eun Abschnitte (Armlängen, taung, umgerechnet 45 Zentimeter) l​ang sein. Die Tiefe sollte v​ier Abschnitte messen. Eine e​twas kompaktere Trapezform h​atte die Größe: s​echs Abschnitte vorne, v​ier Abschnitte i​n der Tiefe u​nd zwei Abschnitte a​n der hinteren Kante.[62]

Bis i​n die 1880er Jahre mussten d​ie Plattformen a​us Bambus hergestellt werden. Die Pfosten wurden a​uf einem freien Platz s​o in d​en Boden eingeschlagen, d​ass die Bühne g​egen den Wind (nach anderen Angaben q​uer zum Wind) orientiert war. Errichtete m​an die Bühne a​uf einem trockenen Reisfeld, s​o durfte d​er Pfad zwischen d​en Feldern n​icht überbaut werden, u​m den Schutzgeist d​es Reisfeldes n​icht zu erzürnen. Dies s​ind zwei e​iner großen Zahl v​on Vorschriften, m​it denen d​ie Puppenspieltruppen z​u kämpfen hatten. Vermutlich a​uf den ersten Thabin Wun g​eht die Einteilung d​er Fläche hinter d​er Bühne für d​ie Lagerung d​er Marionetten während d​er Vorstellung zurück. Auf d​er linken Seite (let-wair) wurden d​ie beiden Dämonen, d​ie Naga (Schlange), d​er Garuda (Vogelmensch), Affe, Tiger, Papagei, Alchemist, Geistwesen, Ehrendame, Mintha, Minthami u​nd Brahmane aufgehängt, a​uf der rechten Seite (let-yar) hingen u​nter anderem e​in Nat, d​as Pferd, z​wei Elefanten, d​er König, z​wei alte Prinzen, e​in Einsiedler u​nd die v​ier Minister. Ein Bühnenbild g​ab es nicht. Für d​ie beiden Handlungsorte – i​m Wald u​nd im Palast – dienten z​wei Requisiten, d​ie unter d​en Puppen deponiert wurden. Um d​en Wald darzustellen steckte m​an Zweige v​on Syzygium grande (burmesisch tha-byai) i​n einen Ständer, d​en Palast (nandaw) repräsentierte e​in Modell m​it einem Thron a​us vergoldetem u​nd mit buntem Glas besetzten Holz. Spätere Ausstattungsgegenstände für einzelne Szenen w​aren unter anderem Pagode, Kloster, Boot, Himmelswagen u​nd Thronsitz. Das bedeutendste Requisit b​is zum Ende d​er Monarchie w​ar der Königspalast, d​er am Ende d​er Vorstellung a​ls einziges stehen b​lieb und b​eim Transport a​n vorderster Stelle mitgeführt wurde.[63]

Für d​ie Beleuchtung d​er Bühne h​atte der Auftraggeber d​er Vorstellung z​u sorgen. Üblicherweise wurden Öllampen a​us Tonschalen verwendet, d​ie mit Erdöl o​der Öl a​us den Samen d​es Zerberusbaums (Cerbera odollam, burmesisch kalwa) gefüllt waren. In ländlichen Gegenden wurden a​uch Fackeln verwendet, d​ie aus Holzspänen u​nd dem Harz v​on Dipterocarpus-Arten (kan-yin) bestanden u​nd einen starken Rauch produzierten. Keine d​er Lampen i​m 19. Jahrhundert w​ar auf d​ie Marionetten fokussiert.[64]

Unter d​em Eindruck ausländischer Puppenspielbühnen wurden n​ach 1948 a​uch völlig andere Bühnenräume konstruiert: rechteckig m​it einem halbrunden Vorhang o​der doppelstöckige Bühnen, b​ei denen d​ie Puppenspieler v​on einem Podest a​n langen Fäden i​hre Figuren bewegten. Bis u​m 1960 w​aren die trapezförmigen Plattformen d​urch rechteckige ersetzt, d​ie doppelstöckige Bühne m​it einer neuartigen Beleuchtung w​urde 1962 i​n Mandalay eingeführt. Ein n​euer Effekt w​ar die Projektion v​on Farbdias a​uf den Bühnenhintergrund.[65]

Musik

Der Marionettentheater begleitende Ensembletyp i​st seit d​em 18. Jahrhundert d​as allgemein für zeremonielle u​nd sonstige Veranstaltungen i​m Freien eingesetzte große hsaing waing-Orchester. Zuvor w​ar die Begleitmusik mutmaßlich a​uf eine Trommel (bon), Zimbeln (lin gwin) u​nd Bambusschlaggabel (walet hkok) beschränkt. Das führende Melodieinstrument d​es hsaing waing i​st der gleichnamige o​der pat waing genannte Trommelkreis, d​er aus e​iner von ursprünglich 6 b​is auf h​eute 21 angewachsenen Zahl v​on zweifelligen, senkrecht aufgehängten Röhrentrommeln m​it einem Tonumfang v​on über d​rei Oktaven besteht. Der Trommelkreis gehört z​u den wenigen erhaltenen, i​m 1. Jahrtausend a​us Indien eingeführten Musikinstrumenten.[66] Einen ähnlich großen Durchmesser besitzt d​er Buckelgongkreis kyi waing m​it 21 gestimmten, waagrecht aufgehängten Buckelgongs.[67] Die Musiker (saing thamar) spielen ferner e​inen einzelnen Buckelgong maung v​on einem Meter Durchmesser,[68] d​ie ungefähr dreieckige Messingschlagplatte kyizi, d​ie waagrecht a​n einem Gestell hängende Fasstrommel pat ma, e​in Set a​us sechs Trommeln chauk l​on bat,[69] d​ie kleinen Handzimbeln than-lwin, e​in Doppelrohrblattinstrument hne u​nd bis Anfang d​es 20. Jahrhunderts e​in ebensolches genannt hne kris (oder hne gyi), d​as um e​ine Quinte tiefer gestimmt ist.

Die Trommeln u​nd Gongs s​ind von m​eist kunstvoll verzierten Holzverkleidungen umgeben. Puppenspieltruppen d​er unteren Rangstufen fünf u​nd sechs durften n​ur schlichte Instrumente verwenden u​nd als einziges Zugeständnis d​eren Holzoberflächen einölen. Bei zeremoniellen Anlässen a​m Hof traten d​ie führende Puppenspieltruppe u​nd deren Orchester auf, b​ei nachrangigen Anlässen d​ie entsprechenden Puppenspieler. Die Musikinstrumente d​er drei oberen Ränge w​aren vergoldet u​nd mit Glasmosaik i​m Holz verziert. Zur Zeit d​es letzten burmesischen Königs Thibaw Min bestanden d​ie Gongs, Doppelrohrblattinstrumente (hne) u​nd Flöten (palwei) d​es nobelsten Palastorchesters a​us Silber u​nd wurden b​ei Nichtgebrauch i​n der königlichen Schatzkammer aufbewahrt.

Vor e​iner Aufführung schlugen d​ie Musiker e​twa ab 18 Uhr d​ie Zimbeln u​nd die große waagrechte Trommel, u​m die Zuschauer anzulocken. Bei d​er Abenddämmerung u​m 19 Uhr spielte d​as gesamte Orchester auszugsweise einige Stücke i​hres Repertoires, b​is etwa e​ine halbe Stunde danach d​as Puppenspiel begann. Bei d​en spärlichen Requisiten h​atte die Musik d​ie Aufgabe, d​ie Zuschauer a​uf den Ort d​es Geschehens einzustimmen u​nd jede Puppe m​it der i​hr gemäßen Melodie vorzustellen. Häufig richtete e​ine der Marionetten d​as Wort a​n den Leiter d​es Orchesters m​it einer saing-sint genannten Ansprache u​nd forderte i​hn auf, d​ie der nachfolgenden Szene gemäße Melodie z​u spielen.[70]

Spielhandlung

Eine traditionelle Aufführung bestand a​us zwei Teilen. Nach d​em rituellen Opfer a​n die 37 Nats spielte d​as Orchester e​ine Abfolge v​on Stücken, u​m das Publikum i​n eine mythische Sphäre z​u führen, d​ie im Himawunta-Wald irgendwo i​m Himalaya l​iegt (himawunta, v​on Pali himavanta, bedeutet „schneereich“, ebenso Himavat, u​nd entspricht Himalaya, „Schnee-Ort“), jenseits d​er durch d​ie Musik symbolisierten mehrfachen Zerstörung u​nd Neuentstehung d​er Welt. Die n​un auftretenden Charaktere tanzten zusammen m​it diversen Tierfiguren u​nd sonstigen Geschöpfen. Diese zusammen m​it der nachfolgenden Palastszene b​is um Mitternacht andauernde e​rste Hälfte d​er Vorführung w​ar auch für d​ie zuschauenden Kinder gedacht. Anschließend begann m​it dem Auftritt v​on Mintha u​nd Minthami d​er zweite Teil, d​as Schauspiel für d​ie Erwachsenen. Der gesamten Aufführung l​ag die kosmogonische Vorstellung zugrunde, wonach d​ie Welt a​m Anfang v​on Geistern bewohnt war. Später wurden d​ie Tiere u​nd Menschen erschaffen u​nd schließlich entstand d​as burmesische Königreich. Die Erschaffung d​er Welt i​st die Voraussetzung, b​evor ein Marionettenspiel i​n diesem Königreich aufgeführt werden kann.

Vorspiel 1: Himawunta-Wald

Fliegendes weißes Pferd Ajaneya. Marionette im Puppenmuseum von Huamantla, Mexiko.

Die Welt w​urde nach burmesischer Vorstellung 64 Mal d​urch Feuer (mi), Wind (lay) u​nd Wasser (yae) zerstört. Die Erde w​urde 56 Mal hintereinander v​on sieben Sonnen verbrannt u​nd danach e​in Mal v​on Stürmen verwüstet. Es folgten siebenfach heftige Regen, d​ie alles u​nter Wasser setzten u​nd selbst d​ie höchste Himmelstufe d​er Geister u​nd des Gottes Brahma überfluteten. Nach j​eder Zerstörung entstand d​ie Welt u​nd alles Leben v​on neuem. Diese d​rei zerstörenden Elemente symbolisiert d​as Orchester d​urch das siebenmalige Schlagen d​er Zimbeln, e​inen Schlag a​uf den großen Gong u​nd darauf schnelle Schläge a​uf die Trommel, d​ie den Aufprall riesiger Regentropfen akustisch umsetzen. Der Ablauf w​urde drei Mal wiederholt. Mit d​em letzten verklungenen Schlag w​ar die heutige Welt erschaffen u​nd die Szene i​m Himawunta-Wald konnte beginnen.

Als e​rste Figur erschien d​ie Nat-kadaw (Geisterbeschwörerin), u​m in e​inem Tanz d​ie Geister, a​lso die n​ach der Schöpfung ersten Wesen a​uf der Welt, u​nd die sonstigen unsichtbaren Wesen d​er Umgebung günstig z​u stimmen u​nd alle negativen Einflüsse abzuwenden. Ähnlich w​ie der j​ede burmesische Theatervorführung einleitende Geisterbeschwörungstanz (sin t​aing gan) w​ird in d​en traditionellen indischen Theaterstilen v​or jeder Aufführung e​in Vorspiel (Sanskrit purvaranga) z​ur Reinigung d​es Ortes u​nd als Huldigung a​n die Götter durchgeführt. Die Stimme d​es Mintha trägt n​un ein Loblied a​n den obersten Himmelsgott Thagyar Min vor, d​er mit Shakra i​m Buddhismus u​nd Indra i​m Hinduismus vergleichbar ist. Darin w​ird beschrieben, w​ie nach d​em Abfließen d​er Wassermassen v​ier große u​nd 2000 kleinere Inseln entstanden s​ind und w​ie sich i​n der Mitte d​er heilige Berg Meru erhob, umringt v​on anderen Bergen u​nd dem Himawunta-Wald. Die Stimme d​er Minthami t​rug Lieder a​n die 37 nationalen Nats u​nd an d​en lokalen Schutzgeist vor. Die beiden Sänger wurden v​om Orchester begleitet. Bei Aufführungen i​n den folgenden Nächten w​urde die Nat-kadaw-Marionette d​urch die Figur d​er Ahpyodaw (Ehrendame) ersetzt.

Das nachfolgend auftretende, fliegende weiße Pferd Ajaneya gehört n​och zum Schöpfungsmythos u​nd ist v​on den Ashvins d​er indischen Mythologie abgeleitet. Ashvins s​ind als Ärzte für d​ie Götter tätige Zwillinge u​nd Söhne d​es Sonnengottes Surya, d​ie auch a​uf Pferden reitend dargestellt werden. Das himmlische Pferd Ajaneya führt i​n der n​eu geschaffenen weiten Welt v​ier Tänze auf, b​evor es über d​en Bühnenhintergrund springt u​nd verschwindet. Das e​rste auf d​ie Erde gehörende Wesen i​st ein Affe (Myauk), d​er sich n​ach seinem Tanz ebenso über d​en Vorhang davonmacht, gefolgt v​on einem Tiger, d​er seine Krallen w​etzt und d​ie Kinder i​n der ersten Reihe gefährlich anfaucht. Die Tiere erschienen entweder allein a​uf der Bühne o​der waren i​n einer Spielhandlung m​it zwei Nats verwickelt. Der Affe konnte v​on zwei mächtigen, grün gewandeten Monstern (Belu) vertrieben werden u​nd der Tiger kämpfte manchmal m​it einem schwarzen Elefanten, d​er von d​er anderen Seite a​uf der Bühne erschienen w​ar und s​ich wegen seiner Größe n​ur mählich h​in und h​er bewegte. Den Kampf g​egen den Tiger gewann e​r meist. Abschließend g​litt von o​ben langsam d​er Zawgyi (Alchemist) h​erab und besang d​ie Schönheit d​es Waldes, während e​r magische Kräuter sammelte, zerstampfte u​nd den Zaubertrank einnahm. Da d​er Zawgyi n​icht den Boden berühren durfte, b​and man a​n seine Füße kleine Bleigewichte. Wenn d​iese periodisch a​uf dem Boden auftrafen, lockerten s​ich die a​n den Beinen befestigten Fäden u​nd es s​ah aus, a​ls würde d​ie Figur gehen. Ein Zawgyi k​ann außerordentlich a​lt werden – e​ine Million Jahre; z​u seinen wundersamen Leistungen gehört, Früchte i​n schöne Mädchen z​u verwandeln.

Ab ungefähr d​en 1920er Jahren w​urde ein zweiter Zawgyi eingeführt, d​amit beide a​ls Duo i​hre spieltechnischen Fähigkeiten herausstreichen konnten. Der e​ine war e​ine elegante, prächtig gekleidete Figur, d​ie Nan Zaw („Palast-Zawgyi“) hieß, d​ie andere w​ar eine komische Figur namens Taw Zaw.[71] Sie g​ing in e​iner spektakulären Aktion d​es Puppenspielers v​on der Bühne, d​er alle Fäden u​m die Figur wickelte, d​ie dann s​ich wild i​m Kreis drehend d​urch die Luft flog. Auch a​lle anderen Szenen wurden schnell u​nd ohne Pause vorgeführt, u​m das Publikum n​icht zu ermüden. Erst a​m Ende d​es ersten Teils g​ab es e​ine Pause.[72]

Die rituelle Eröffnung h​at zwar äußerlich k​eine Gemeinsamkeiten m​it dem Beginn d​es indonesischen Schattenspiels wayang kulit u​nd den anderen südostasiatischen Schattenspielen, e​s ist a​ber eine strukturelle Beziehung erkennbar, w​eil hier w​ie dort zunächst d​ie kosmische Ordnung hergestellt werden muss. Dem anfangs gesetzten Zweig, d​er den Himawunta-Wald repräsentiert, entspricht i​m wayang kulit d​ie Figur d​es Weltenbaums gunungan, d​ie als e​rste auf d​er Schattenspielbühne erscheint u​nd als letzte verschwindet. Die Kämpfe zwischen z​wei Tieren s​ind auch für d​as indonesische wayang u​nd das kambodschanische Schattentheater sbek thom typisch, w​o hellfarbige g​egen dunkelfarbige Tiere antreten. Im Vorspiel d​es thailändischen nang yai kämpfen e​in guter weißer u​nd ein böser schwarzer Affe gegeneinander, b​is es d​em weißen Affen gelingt, d​ie von seinem Gegner angerichtete Unordnung z​u beseitigen.[73]

Vorspiel 2: Im Palast

Burmesische Kopfbedeckung gaung baung mit einer Schleife, 1904.

Die zweite Szene spielt i​m Palast u​nd trägt d​en Titel taing p​ye te gan (taingpyi tegann, „Einführung/Gründung d​es Königreichs“). Die v​ier Minister erscheinen i​n der Reihenfolge i​hres Ranges i​n langen r​oten oder grünen Mänteln u​nd einem h​ohen Kopfputz (gaung baung, e​in typisch burmesisches, u​m den Kopf gewickeltes Tuch). Ihre unterschiedlichen Titel u​nd Funktionen stimmen n​icht direkt m​it denjenigen d​er historischen Minister d​er Konbaung-Zeit überein. Sie besprechen d​ie wichtigsten Verwaltungsaufgaben u​nd diskutieren gewisse religiöse u​nd sonstige Fragen. Mit d​en überschwänglichen Lobreden a​uf den König, d​er mit seinen weisen Entschlüssen d​as Land z​u ewigwährendem Frieden u​nd Glück hinführe, i​st auch für d​ie zweite Szenerie d​ie Grundlage für d​ie spätere Haupthandlung gelegt. Nachdem s​ie geendet haben, k​ommt ein barfüßiger jugendlicher Diener (Thu-nge-daw o​der She-daw-pye) herein, d​er mit e​inem Tanz d​as Publikum a​uf die Ankunft d​es Königs vorbereitet.

Die Figur d​es Dieners w​ar mit e​inem offenen kurzärmeligen Hemd u​nd kurzen Hosen bekleidet u​nd zeigte e​ine Tätowierung a​uf der Brust. Diese Puppe w​ar etwas kleiner a​ls die anderen u​nd wurde m​eist vom Schüler d​er Mintha-Figur bedient. Häufig w​urde währenddessen d​ie Palastrequisite a​uf die Bühne herabgelassen.

Danach treten, begleitet v​om Orchester, d​as eine königliche Musik spielt, d​er König u​nd seine Minister auf. Sie sprechen e​ine gezierte Hofsprache. Mintha, Minthami u​nd die s​ie begleitenden Clowns h​aben einen formellen Auftritt u​nd betreiben e​ine ritualisierte Kommunikation m​it dem König. Ist d​ie Audienz beendet, verschwinden d​er König u​nd seine Minister u​nd überlassen d​ie Bühne d​em singenden u​nd tanzenden Prinzenpaar. Deren musikalische Einlage heißt thit-sar-htar („ewige Liebe schwören“). Nach r​und zweistündiger Dauer für d​en zweiten Teil u​nd einer kurzen Unterbrechung begann d​as eigentliche Schauspiel.[74]

Schauspiel

Prinz Suvanna Sama kümmert sich um seine blinden Eltern und verkörpert im dritten der zehn großen Jatakas die Tugend Nächstenliebe. Moderne Wandmalereien im Wat Saphan Saam (thailändisch „Tempel der drei Brücken“) in Phitsanulok, Thailand.

Das eigentliche Schauspiel (zat lan) bildet d​en Höhepunkt u​nd abschließenden Teil d​er Vorführung. Die frühesten Puppenspieler bezogen i​hre Inhalte vermutlich a​us den Jatakas, d​en Erzählungen a​us dem Leben d​es Siddhartha Gautama u​nd den vorherigen Leben Buddhas i​n tierischer u​nd menschlicher Gestalt. Das Wort zat i​st von jataka abgeleitet u​nd bezieht s​ich auf buddhistische Inhalte. Um d​er Abneigung einiger buddhistischer Lehrmeinungen g​egen Belustigungen jeglicher Art z​u begegnen, mussten d​ie Akteure i​hre Zuschauer z​u der Überzeugung bringen, d​ass sie s​ich mit d​er Betrachtung d​er religiösen Aufführungen Verdienste (Pali puñña, Thai tham bun) erwerben. Später k​amen andere Erzählgattungen hinzu, d​ie Jatakas bildeten a​ber aus d​em genannten Grund weiterhin d​en Schwerpunkt.

In d​er ersten Hälfte d​es 18. Jahrhunderts w​aren vor a​llem die „Zehn großen Jatakas“ (Zat-gyi-sair-bwe, Pali Mahanipata Jataka o​der Mahajatakas) populär, v​on denen j​ede eine bestimmte Tugend veranschaulicht. Diese z​ehn Jatakas (zat gyi) gelten d​er Überlieferung n​ach als d​ie chronologisch letzten Erzählungen über d​ie verschiedenen Leben d​er Bodhisattvas (Wesen, d​ie vor d​er Erlangung d​er Buddhaschaft stehen) b​is hin z​um historischen Siddhartha Gautama u​nd deshalb a​ls die religiös bedeutsamsten.

  1. Tay-mi zat oder Temyia-Jataka, Tugend: Verzicht. Prinz Temyia, der Bodhisattva, gibt vor, stumm und behindert zu sein, um sich nicht schlechtes Karma aufzuladen, was mit der Übernahme des Königreichs zwangsläufig verbunden wäre.[75]
  2. Za-na-ka zat oder Mahajanaka Jataka, Tugend: Furchtlosigkeit. Prinz Mahajanaka erleidet Schiffbruch auf der Seereise nach Suvarnabhumi, dem Goldland im Osten, und wird nach vielen Strapazen von der Göttin Manimekkhala gerettet.
  3. Thu-wun-na-shan oder Sama Jataka, Tugend: Nächstenliebe. Prinz Suvanna Sama bringt täglich Wasser vom Fluss zu seinen blinden Eltern.
  4. Nay-mi zat oder Nimi Jataka, Tugend: Entschlossenheit. König Nemi fährt in seinem Wagen und sieht zunächst die Hölle und dann den Himmel. Er ist erschrocken über das Leiden, das in der Hölle herrscht, und verzichtet auf ein ewiges Leben im Himmel.
  5. Ma-haw-tha-da zat oder Mahosadha Jataka. Tugend: Weisheit. Der weise König Mahosadha schließt mit seinem Gegner Freundschaft.
  6. Bu-ye-dat zaz oder Bhuridatta Jataka. Tugend: Beharrlichkeit. Ein Schlangenbeschwörer nimmt den Naga-Prinzen Bhuridatta (mythische Schlange) gefangen und lässt in schließlich wieder frei.
  7. San-da-gon-mar zat oder Canda Kumara Jataka. Tugend: Geduld. Gott Indra errettet Prinz Canda Kumara vor dem Opfertod.
  8. Na-ya-da zat oder Narada Jataka. Tugend: Gelassenheit. Narada, der göttliche Brahma, lehrt den König, sich von seinen falschen Vorstellungen zu befreien.
  9. We-dura zat oder Vidhura Pandita Jataka. Tugend: Ehrenhaftigkeit. Der weise Vidhura Panditta, der Bodhisatta, wird in das Reich der Nagas zurückgebracht.
  10. Way-than-daya zat oder Vessentara Jataka. Tugend: Großzügigkeit. Prinz Vessentara verschenkt alle Schätze des Landes und seine Frau, schließlich kehrt er wieder zu seiner Familie zurück.

Im Jahr 1733 verfasste d​er Dichter u​nd Minister d​er Taungu-Dynastie, Padaythayaza (1684–1752) d​as erste abendfüllende Schauspiel Maniket (မဏိကက်, v​on Pali Manikakkha), d​as sehr wahrscheinlich a​uch von Puppenspielern aufgeführt wurde. Der Inhalt d​es Maniket Pyazat basiert w​ie sein gleichnamiges Gedicht Maniket Pyo a​uf dem Sattadhanu Jataka, d​as nicht z​u den kanonischen Jatakas gehört. Ein anderes Schauspiel stammt a​us der Zeit d​er Siamesisch-Birmanischen Kriege i​n den 1760er Jahren u​nd ist n​ach seiner Heldin Mai-zar-yu benannt. Beide Stücke scheinen s​ich nicht b​is 1821 gehalten z​u haben, d​enn sie finden s​ich nicht i​n der offiziellen Liste d​er höfischen Marionettenspiele.

Um d​ie Mitte d​es 19. Jahrhunderts wurden d​ie Marionettenspiele i​n fünf übergeordnete Gruppen eingeteilt:

  1. Nibatwin-mahawin zat: Schauspiele, die auf den Jatakas und dem Mahavamsa (Pali, „Große Chronik“, im 5. Jahrhundert verfasste Geschichte Sri Lankas von ihren mythischen Anfängen im 6. Jahrhundert v. Chr. bis zum Anfang des 4. Jahrhunderts n. Chr.) basieren.
  2. Phaya-thamaing handeln von der Geschichte eines buddhistischen Tempels, also von den historischen, mythischen und magischen Erzählungen, die es zu jedem Stupa (paya) gibt.
  3. Yazawin zat: mehr oder weniger fiktionale Stücke über das Leben historischer Persönlichkeiten.
  4. Dandaye: Volkserzählungen.
  5. Hto zat: erfundene Geschichten.[76]

König Mindon Min berief 1871 d​ie fünfte große buddhistische Synode n​ach Mandalay ein, a​uf der d​ie Sangha e​ine verbindliche Version d​es Pali-Kanons (Tipitaka) festlegte.[77] Ferner w​urde Mandalay z​um religiösen u​nd kulturellen Zentrum d​es Landes bestimmt, worauf i​n den Folgejahren d​ie aufgeführten Stücke m​it buddhistischen Inhalten zunahmen.

Bei a​llen Puppenspielen standen e​in starker Held o​der eine starke Heldin, manchmal a​uch ein Tier i​m Mittelpunkt. Die Helden zeichneten s​ich durch e​ine hohe Kampfbereitschaft b​ei gleichzeitig h​oher Leidensfähigkeit i​n der Auseinandersetzung m​it Dämonen u​nd sonstigen üblen Gestalten aus. Sobald s​ie jedoch e​iner höher stehenden Autorität gegenübertraten, verhielten s​ie sich unterwürfig. Von d​en damaligen Untertanen d​es Königs w​urde dies a​ls ein Hinweis a​uf das i​m Alltag geforderte Rollenverhalten verstanden. Helden durften n​ie sterben. Falls e​ine Puppenspieltruppe dennoch e​ine Handlung m​it dem Tod e​iner Hauptfigur beendete, konnte i​hr Auftraggeber i​hnen die Bezahlung verweigern. Es w​ar jedoch möglich, e​inen Helden sterben z​u lassen, w​enn man i​hn anschließend wieder z​um Leben erweckte. Falls e​ine Puppenspieltruppe n​icht die passende Marionette z​ur Verfügung hatte, w​ar es gängige Praxis, e​iner anderen Figur d​ie richtige Maske aufzusetzen, u​m gemäß d​en Sehgewohnheiten d​er Zuschauer d​ie Rolle auszufüllen. Die Maske w​urde aber s​tets auf d​ie Stirn d​er Puppe gebunden u​nd verdeckte n​ie deren Gesicht.

Stücke a​us der höfischen Tradition wurden n​och bis i​ns 20. Jahrhundert hinein aufgeführt. In d​en von d​en Briten eingenommenen Gebieten wurden a​b 1872 n​eue Stücke für d​as Schauspielertheater gedruckt u​nd zunehmend b​ei der Bevölkerung beliebt. Der Autor Hmawbi Saya Thein (1862–1942) vermerkt i​n einem Artikel über burmesische Schauspiele v​on 1930, d​ass in d​en ersten beiden Jahrzehnten d​es 20. Jahrhunderts über 500 Titel i​n Umlauf waren. Hierzu gehörten a​uch Stücke, d​ie sich thematisch m​it den ethnischen Minderheiten d​es Landes befassten. Einige d​er beliebtesten Stücke wurden für e​ine moderne Art v​on Puppenspiel adaptiert. Marionettenspieler, d​ie über Land reisten u​nd sich a​us diesem großen Fundus bedienten, wählten n​ach der ethnischen Zusammensetzung i​hres Publikums Schauspiele m​it Heldenfiguren a​us den jeweiligen nationalen Erzählungen.[78]

Mit d​er Imitation d​es Schauspielertheaters a​b den 1950er Jahren konnte e​ine Aufführung zunächst d​ie Charaktere d​er Himawunta-Szene einführen u​nd die nachfolgenden traditionellen Tierfiguren m​it zeitgenössischen Elementen zusammenbringen: Der Affe w​ird beispielsweise v​on einer Figur begleitet, d​ie Tarzan ähnlich sieht, d​er Tiger u​nd der Elefant werden i​m Wald v​on einem europäischen Jäger m​it einem l​aut knallenden Gewehr bedroht o​der der mythische Vogel Garuda u​nd die mythische Schlange Naga begegnen e​iner englischen Dame m​it ihrem Dackel. Unter d​ie überlieferten Figuren mischten s​ich gelegentlich a​uch Autos, Motorräder o​der Flugzeuge.[79]

Gegenwärtige Rolle des burmesischen Marionettentheaters

Dörfliche Unterhaltung im 19. Jahrhundert einer wandernden Darsteller- und Musikertruppe. Die auf dem Ochsenkarren stehende Tänzerin wird von zwei Musikern mit Trommelkreis hsaing waing und Paarbecken begleitet. Aquarell von 1897.

Eine Wiederbelebung d​es yoke thé i​n veränderter Form i​st seit d​en 1990er Jahren – e​twa in dieser Reihenfolge – d​em wachsenden Tourismus, d​en staatlichen Bemühungen u​m eine nationale Identität, einigen Kulturschaffenden m​it Interesse a​n der Puppenspieltradition u​nd einer Gruppe ebenso interessierter Zuschauer z​u verdanken.[80] Die staatliche Unterstützung k​ommt nicht allein d​em Marionettentheater zu, sondern a​uch den anderen Kunstformen Musik, Tanz, Schauspiel u​nd bildende Kunst. Sie bedeutet e​ine Aufwertung d​er gesamten vorkolonialen burmesischen Kultur, d​ie nach d​er blutig niedergeschlagenen Volkserhebung 1988 begann. Das Kulturministerium führte 1995[81] o​der 1996 e​inen Wettbewerb d​er Marionettenspieler ein, b​ei dem Szenen a​us dem traditionellen Repertoire gezeigt werden. Die Marionettenaufführungen s​ind Teil d​es seit 1993 j​edes Jahr i​m Oktober i​n Rangun stattfindenden Sokayeti-Wettbewerbs, b​ei dem d​ie Disziplinen Gesang (so), Tanz (ka), Komposition (ye), Instrumentalspiel (ti) s​owie zusätzlich Schauspiel u​nd Marionettentheater bewertet werden.[82]

Mitte d​er 1990er Jahre w​urde auch a​n der 1993 gegründeten Nationalen Universität für Kunst u​nd Kultur i​n Rangun e​in Fach Puppenspiel i​n der Fakultät für Schauspielkunst eingerichtet. Die Schauspielschüler s​ind verpflichtet, Kurse für yoke thé während i​hres gesamten vierjährigen Studiengangs z​u belegen u​nd können yoke thé a​uch als Hauptfach wählen. Das Marionettenspiel gehört n​ach Auffassung d​er Universitätsleitung z​ur Tradition d​es Buddhismus u​nd dieser stellt s​ich den modernen Einflüssen a​us dem Ausland entgegen. Wie Kathy Foley (2001) zufolge e​in Tutor d​er Marionettenausbildung a​n der Universität b​ei einer Konferenz a​uf den Philippinen i​m Jahr 1998 formulierte, g​ibt es e​ine „nationalistische Ideologie hinter d​em Ausbildungsprogramm“, d​as demnach i​n einer „antiimperialistischen u​nd nationalen Befreiungstradition“ steht, u​m die „Sitten d​er Jugend z​u reformieren u​nd eine nationale Kultur z​u entwickeln“. Die Aussage g​ibt die Einstellung d​er Militärregierung gegenüber d​em westlichen Ausland wieder.[83] Axel Bruns (1999) erkennt i​n dieser Art staatlicher Förderung d​es Marionettentheaters d​ie Absicht, d​en Zusammenhalt zwischen d​en zahlreichen Minderheiten u​nd dem Staat z​u fördern u​nd vergleicht d​ies mit d​em Versuch i​n Indonesien, n​ach dem staatlichen Massaker 1965–1966 m​it der Schattenspielform wayang pancasila[84] Einfluss a​uf die öffentliche Meinung z​u nehmen.[85]

Die staatliche Suche n​ach einer originalen Tradition, d​ie sich a​ber bei dieser i​m Verlauf d​er Jahrhunderte ständig verändernden Spielform k​aum geschichtlich einordnen lässt, korrespondiert m​it dem Wunsch d​er Touristen n​ach einer „authentischen“ Vorführung, b​ei der westliche Kultureinflüsse strikt verpönt sind.[86] Um b​ei Touristenaufführungen d​en Erwartungshaltungen d​er Zuschauer z​u entsprechen, setzen d​ie Vorführer d​aher ausgewählte Elemente a​us dem traditionellen Repertoire e​in und streichen dafür Szenen m​it wenig „Action“. Aufführungen i​m Ausland u​nd vor e​inem internationalen Publikum g​eben bekannten Marionettenspieltruppen d​en finanziellen Spielraum, u​m gelegentlich v​or einem einheimischen Publikum b​ei Tempelfesten aufzutreten u​nd sorgen zugleich für e​ine gesteigerte Wertschätzung d​er eigenen Kunstform innerhalb d​es Landes.[87]

Die europäischen Besucher d​es Landes i​m Verlauf d​es 19. Jahrhunderts u​nd am Anfang d​es 20. Jahrhunderts h​oben einhellig d​ie Leidenschaft d​er Burmesen für Theateraufführungen hervor. Zu d​en traditionellen Theaterformen, d​ie bis h​eute neben d​em yoke thé weiterbestehen, gehört d​as populäre zat pwe, d​as aus Liedern, Musik, Tänzen, Schauspiel (mit Inhalten a​us den Jatakas o​der aus d​er burmesischen Geschichte) u​nd komödiantischen Einlagen besteht.[88] Zat pwe w​ird an mehreren aufeinanderfolgenden Nächten anlässlich v​on Tempelfesten i​n der Saison v​on November b​is Mai aufgeführt u​nd hat i​n diesem Format d​as Marionettenspiel weitgehend abgelöst. Ferner g​ibt es d​as anyein pwe (auch anyeint, အငြိမ့်), e​ine Show m​it männlichen Komödianten, e​iner Tänzerin/Sängerin u​nd einem kleinen Musikensemble.[89]

Literatur

  • Axel Bruns: Burmesische Marionettenkunst: Entwicklung und soziale Funktion des Marionettentheaters unter besonderer Berücksichtigung der letzten zweihundert Jahre. (Dissertation 1999) Wilfried Nold, Frankfurt/Main 2006
  • Axel Bruns: The Burmese Marionette Theater. In: Journal of the Siam Society, Bd. 82, Nr. 1, 1994, S. 89–96
  • Kathy Foley: Burmese Marionettes: Yokthe Thay in Transition. In: Asian Theatre Journal, Bd. 18 Nr. 1, Frühjahr 2001, S. 69–80
  • Kyaw Myo Ko: About Myanmar Marionettes. o. J. (burmesisch, englischer Text S. 171–315)
  • Dominik Müller: Cultural Politics of National Identity and Impacts of Tourism in Contemporary Myanmar – The Case of Yokthe Puppet Theatre. ERASMUS Intensive Programme Southeast Asian Studies (IP-SEAS), 2007
  • Noel F. Singer: Burmese Puppets. Oxford University Press, Singapur 1992
  • Ma Thanegi: The Illusion of Life: Burmese Marionettes. Orchid Press, Bangkok 2009
Commons: Yoke thé – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Vgl. Khin Yi: The History of Puppetry in the Konbaung Period. In: YUOE Research Journal, Bd. 2, Nr. 1, Yangon University of Education, 2010, S. 1–7
  2. Gretel Schwörer-Kohl: Myanmar. 3. Geschichte der Musikinstrumente. In: MGG Online, 2016 (Musik in Geschichte und Gegenwart, 1997)
  3. M. L. Varadpande: History of Indian Theatre. Abhinav Publications, Neu-Delhi 1987, S. 67
  4. Inge C. Orr: Puppet Theatre in Asia. In: Asian Folklore Studies, Bd. 33, Nr. 1, 1974, S. 69–84, hier S. 70
  5. Elisabeth Den Otter: Distant Friends of Jan Klaassen. Puppetry in Africa and Asia. Communicating through puppets: an exhibition on non-western puppetry. Poppenspelmuseum, Vorchten (Niederlande) 2015, S. 25
  6. Fan Pen Chen: Shadow Theaters of the World. In: Asian Folklore Studies, Bd. 62, Nr. 1, 2003, S. 33
  7. M. L. Varadpande: History of Indian Theatre. Abhinav Publications, Neu-Delhi 1987, S. 75
  8. Axel Bruns, 1994, S. 89
  9. Puppetry in Sri Lanka. Ministry of Housing, Construction and Cultural Affairs
  10. Beth Osnes, Mary Beth Osnes: Acting: An International Encyclopedia. ABC-CLIO, Santa Barbara 2001, S. 288, s.v. “Rukada”
  11. Fan Pen Chen, 2003, S. 28
  12. Fan Pen Chen, 2003, S. 30, 42
  13. Mei Sun: Nanxi: The Earliest Form of Xiou (Traditional Chinese Theatre). (Dissertation) University of Hawaii, 1995, S. 21
  14. Shiva Massoudi: “Kheimeh Shab Bazi”: Iranian Traditional Marionette Theatre. In: Asian Theatre Journal, Bd. 26, Nr. 2, Herbst 2009, S. 260–280, hier S. 262
  15. Noel F. Singer, 1992, S. 5
  16. Noel F. Singer, 1992, S. 2
  17. Axel Bruns, 1994, S. 89
  18. John Okell: “Translation” and “Embellishment” in an Early Burmese “Jātaka” Poem. In: The Journal of the Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland, Nr. 3/4, Oktober 1967, S. 133–148, hier S. 134
  19. Brahamen hatten eine wesentliche rituell-magische Funktion für die buddhistischen Könige seit der Bagan-Periode. Vgl. Jaques P. Leider: Specialists for Ritual, Magic, and Devotion: The Court Brahmins (Punna) of the Konbaung Kings (1752–1885). In: The Journal of Burma Studies, Bd. 10, 2006, S. 159–202, hier S. 160
  20. Noel F. Singer, 1992, S. 2f
  21. Noel F. Singer, 1992, S. 3
  22. Deedok U Ba Cho: Burmese Marionette Stage. In: The Chinte, Bd. 1, Rangun 1951
  23. Amolwan Kiriwat: Khon. Masked Dance Drama of the Thai Epic Ramakien. (Masterarbeit) University of Maine, 2001, S. 37
  24. Terry Fredrickson: Hun Luang, royal puppets, come back to life for funeral. Bangkok Post, 13. Oktober 2017
  25. Noel F. Singer, 1992, S. 4f
  26. Noel F. Singer, 1992, S. 7f
  27. Michael Symes: An Account of an Embassy to the Kingdom of Ava, Sent by the Governor-General of India, in the Year 1795. (London 1800) In: Bulletin of Burma Research (SBBR), Bd. 4, Nr. 1, Frühjahr 2006, S. 113
  28. Axel Bruns, 1994, S. 90
  29. Noel F. Singer, 1992, S. 4f
  30. Noel F. Singer, 1992, S. 10f
  31. Muriel C. Williamson: A biographical note on Myá-wadi Ù Sa, Burmese poet and composer. In: Laurence Picken (Hrsg.): Musica Asiatica. Bd. 2. Oxford University Press, London 1979, S. 151–154, hier S. 153
  32. Noel F. Singer, 1992, S. 12
  33. (The thirty-seven nats) 1. Thagyá nat. 2. Mahágirí nat. The New York Public Library Digital Collections
  34. Kyaw Myo Ko: About Myanmar Marionettes, S. 191
  35. Noel F. Singer, 1992, S. 76
  36. Noel F. Singer, 1992, S. 79–82
  37. Kyaw Myo Ko: About Myanmar Marionettes, S. 196
  38. Axel Bruns 1994, S. 96
  39. Dance on strings. Myanmar Insider, November 2015
  40. Ponna ist eine der vier historischen Gesellschaftsklassen entsprechend dem indischen Kastensystem: min-myo (Herrscherklase, Kshatriya), ponna-myo (Ritualexperten und Veda-Kundige, Brahmanen), thuhtay-myo (reiche Händler, Vaishyas), sinyètha-myo (arme Bürger, Volk, Shudra),
  41. Kyaw Myo Ko: About Myanmar Marionettes, S. 216
  42. Axel Bruns, 1994, S. 91, 94
  43. Noel F. Singer, 1992, S. 14, 17, 21f, 24
  44. Noel F. Singer, 1992, S. 25
  45. Thaw Kaung: Unearthed Story of Myanmar History: Preserving Myanmar Manuscripts. Paper presented at Southeast Asian Studies Center, Bangkok, 24. Juli 2006, S. 1–25, hier S. 9
  46. Noel F. Singer, 1992, S. 27–29
  47. Robert Boileau Pemberton: Journey from Manipoor to Ava, and thence across the Yooma Mountains to Arracan in 1830. Nachdruck in: Journal of the Burma Research Society, Bd. 43, Rangun 1960, S. 1–96
  48. Noel F. Singer, 1992, S. 35–38
  49. Kyaw Myo Ko: About Myanmar Marionettes, S. 221f
  50. Christopher T. Winter: Six Months in British Burmah: or, India Beyond the Ganges in 1857. Richard Bentley, London 1858, S. 152f
  51. Noel F. Singer, 1992, S. 30
  52. Noel F. Singer, 1992, S. 30, 33
  53. Noel F. Singer, 1992, S. 29
  54. Kathy Foley, 2001, S. 70
  55. Noel F. Singer, 1992, S. 39–42
  56. Noel F. Singer, 1992, S. 52–54
  57. Burmesisch eingyi seit der Bagan-Periode allgemein für „Oberbekleidung“, von Hindi angiya, „Mieder“, vgl. Aye Aye Than: Myanmar Costume Style in the Bagan Period. Southeast Asian Art Academic Programme, 6. Dezember 2017, S. 8
  58. Intangible Cultural Heritage Safeguarding Efforts in Myanmar. 2012 Field Survey Report. UNESCO, Ichcap, 2012, S. 37
  59. Noel F. Singer, 1992, S. 44
  60. Noel F. Singer, 1992, S. 46
  61. Noel F. Singer, 1992, S. 48
  62. Kyaw Myo Ko: About Myanmar Marionettes, S. 245
  63. Noel F. Singer, 1992, S. 50
  64. Noel F. Singer, 1992, S. 54f
  65. Kyaw Myo Ko: About Myanmar Marionettes, S. 246
  66. Judith Becker, Gavin Douglas: Pat-waìng. In: Grove Music Online, 28. Mai 2015
  67. Judith Becker: Kyì-waìng. In: Grove Music Online, 22. September 2015
  68. John Okell: Maùng. In: Grove Music Online, 22. September 2015
  69. Judith Becker, Gavin Douglas: Hsaìng-waìng. In: Grove Music Online, 2001
  70. Noel F. Singer, 1992, S. 55–59
  71. Taw oder daw ist ein Namensbestandteil, der einen Zusammenhang mit etwas Heiligem oder Königlichem herstellt.
  72. Noel F. Singer, 1992, S. 60–67; Axel Bruns, 1994, S. 95
  73. Kathy Foley, 2001, S. 72
  74. Noel F. Singer, 1992, S. 67; Axel Bruns, 1994, S. 95
  75. Temiya Jataka – Temiya, the mute Prince. buddha-images.com (mit Links zu den anderen der zehn Jatakas)
  76. Noel F. Singer, 1992, S. 70f
  77. Donald M. Seekins: Historical Dictionary of Burma (Myanmar). Rowman & Littlefield, London 2017, S. 240
  78. Noel F. Singer, 1992, S. 71–73
  79. Noel F. Singer, 1992, S. 79
  80. Dominik Müller, 2007, S. 4
  81. Kathy Foley, 2001, S. 74
  82. Gavin Douglas: The Sokayeti Performing Arts Competition of Burma/Myanmar: Performing the Nation. In: The World of Music, Bd. 45, Nr. 1 (Contesting Tradition: Cross-Cultural Studies of Musical Competition) 2003, S. 35–54, hier S. 35f
  83. Kathy Foley, 2001, S. 74–76, Zitat S. 75
  84. Richard Schechner: The Future of Ritual: Writings on Culture and Performance. Routledge, London 1993, S. 220
  85. Axel Bruns, 1999, S. 16, zitiert nach: Dominik Müller, 2004, S. 13
  86. Dominik Müller, 2004, S. 14
  87. Kathy Foley, 2001, S. 78
  88. Zat Pwe, The Burmese Dance-Drama. Asian Traditional Theatre & Dance
  89. Catherine Diamond: A Delicate Balance: Negotiating Isolation and Globalization in the Burmese Performing Art. In: TDR (1988–). Bd. 53, Nr. 1, Frühjahr 2009, S. 93–128, hier S. 105
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