Wien Nordbahnhof
Der Wiener Nordbahnhof war ein Bahnhof in Wien und wurde 1838 beim Praterstern eröffnet. 1865 in neuem Gebäude in Betrieb genommen, war er bis 1918 als Ausgangspunkt der Kaiser Ferdinands-Nordbahn bzw. der k.k. Nordbahn der wichtigste und größte Bahnhof der Habsburgermonarchie. Da die 1837 im ersten Abschnitt (Floridsdorf–Deutsch-Wagram) in Betrieb genommene Nordbahn die erste Dampfeisenbahn im Kaisertum Österreich war, zählte der ursprüngliche Nordbahnhof auch zu den ältesten Bahnhöfen des Landes.
1918–1945 war der Bahnhof weiterhin in Betrieb; seine Größe entsprach nun aber nicht mehr den bescheidener gewordenen Wirtschafts- und Verkehrsverbindungen nach Nordosten. In der Schlacht um Wien 1945 stark beschädigt, wurde der Bahnhof nach dem Zweiten Weltkrieg nur mehr als Frachtenbahnhof Wien Nord weiterbetrieben. Die Funktionen im Personenverkehr gingen vorerst auf den Nordwestbahnhof und von 1959 an auf den heutigen Bahnhof Wien Praterstern über, der sich zu einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der Stadt entwickelte. 1965 wurde das historische Bahnhofsgebäude, das bis dahin als Ruine dagestanden war und nach heutigen Kriterien die Restaurierung verdient hätte, abgerissen. Seit den 1990er Jahren zieht sich die Bahn auch aus dem seit den 2010er Jahren Nordbahnviertel genannten Areal des Frachtenbahnhofes zurück, wo nun ein neuer Stadtteil entsteht.
Lage
Der Bahnhof befand sich im 2. Wiener Gemeindebezirk, der Leopoldstadt, im zentralen Stadtbereich direkt nördlich des Pratersterns, der sich zum großen Verkehrsknotenpunkt entwickelte. Er war im Personenverkehr von der Nordbahnstraße aus zugänglich, im Frachtenverkehr im Wesentlichen von der Lassallestraße aus.
Das Bahngelände war etwa wie folgt begrenzt (heutige Straßennamen):
- im Westen: Nordbahnstraße und Dresdner Straße
- im Norden: Innstraße (seit 1900 Grenze zwischen 2. und 20. Bezirk)
- im Nordosten: Vorgartenstraße
- im Südosten: Lassallestraße
So ist heute auch das Stadtentwicklungsgebiet Nordbahnhofgelände begrenzt, für das sich in den 2010er Jahren der Einfachheit halber die Bezeichnung Nordbahnviertel ergeben hat.
An das Bahngelände schließt westlich der Nordbahnstraße bis zur Heinestraße und zur Taborstraße das früher Nordbahnviertel genannte Wohngebiet an, das mit dem Bahnhof auf ehemaligem Donauaugelände entstand und seit etwa 2010 als Volkertviertel und Alliiertenviertel bezeichnet wird.[1]
Geschichte
Der 1. Nordbahnhof 1838–1865
Im Zuge des Baues der Nordbahn durch die Aktiengesellschaft Kaiser Ferdinands-Nordbahn wurde der erste k.k. Nordbahnhof 1837/1838 am Donau-seitigen Rand der Vorstadt Leopoldstadt erbaut und am 6. Jänner 1838 eröffnet. Der Bahnhof lag auf einer Insel in der unregulierten Donau in damals noch landwirtschaftlich genutztem, immer wieder überschwemmtem Gebiet und wurde neben der Forstmeisterallee, der späteren Nordbahnstraße, angelegt. Wenige hundert Meter nördlich des Abfertigungsgebäudes hatte die Bahnstrecke einen Donauarm, das Fahnenstangenwasser, zu überqueren. Wegen der Hochwassergefahr wurde das Areal aufgeschüttet und lag 4,4 Meter über dem Straßenniveau.
Das Areal des Bahnhofs hatte eine Fläche von 24.829 m² und war von einer 2,5 m hohen Mauer umschlossen; bei der Einfahrt befand sich ein Tor, das vor dem ersten Zug geöffnet und nach dem letzten Zug geschlossen wurde. Der Bahnhof hatte sechs Gleise, acht Weichen sowie Drehscheiben mit 28 Anschlüssen. Daneben gab es Werkstätten und eine große Zahl von Nebengebäuden.
1850 wurde das Areal nach Wien eingemeindet und zum Teil des 2. Bezirks erklärt, wodurch der Bahnhof auch amtlich im Stadtgebiet von Wien lag.
1865–1918
Aufgrund des stark zunehmenden Passagieraufkommens war der Bahnhof bald zu klein und musste einem Neubau weichen. 1859–1865 wurde, wieder unweit des Pratersterns, ein neues, vergleichsweise luxuriöses Bahnhofsgebäude errichtet; dahinter lag der Frachtenbahnhof, der sich zur Zeit seiner größten Ausdehnung fast bis ans Ufer der 1868–1875 regulierten Donau erstreckte. 1859 erfolgte auch die Betriebsaufnahme der Verbindungsbahn vom Nord- zum Südbahnhof.
Mit der Planung waren mehrere Architekten beauftragt; der Entwurf im maurischen Stil stammt im Wesentlichen von Theodor Hoffmann.[2] Die Ausschmückung der Räume wurde von Bildhauern und Freskenmalern durchgeführt. Die Eröffnung erfolgte am 15. Oktober 1865. Das Empfangsgebäude war, wie bei anderen großen Bahnhöfen dieser Zeit, ein ausgesprochenes Repräsentationsgebäude und war z. B. mit einem Hofwartesalon für den kaiserlichen Hof ausgestattet. Für die Züge stand eine geräumige Halle in Hochlage zur Verfügung. Im Vestibül stand eine Statue des Gründers und Hauptfinanziers der Nordbahn, Salomon Rothschild[3], die 1869/1870 von Johann Meixner angefertigt worden war. Sie wurde 1938 von den Nationalsozialisten abmontiert und ist heute als Leihgabe des Technischen Museums Wien im Jüdischen Museum Wien zu sehen.[4][5]
Gegenüber dem Haupteingang des zweiten Nordbahnhofs wurde an der Nordbahnstraße 50 zur Wiener Weltausstellung 1873 das große Hotel Donau errichtet. Das Gebäude wurde später als Direktion der k.k. Kaiser Ferdinands-Nordbahn, dann der Bundesbahndirektion Wien genutzt und wird, unter Denkmalschutz gestellt, bis heute von ÖBB-Dienststellen verwendet. Ebenfalls 1873 wurde hinter dem Hotel das luxuriöse Römische Bad eröffnet.
1895 wurde die Gasbeleuchtung durch elektrisches Licht ersetzt. Um 1900 umfasste das Bahnhofsgelände insgesamt 36 Hektar. 1906 wurde die bis dahin private Nordbahn in die k.k. Staatsbahnen eingegliedert, d. h. verstaatlicht.
In der Zeit der k.u.k. Monarchie bis 1918 war der Nordbahnhof einer der bedeutendsten Bahnhöfe in Europa und mit den Verbindungen nach Brünn, Kattowitz, Krakau und Lemberg der wichtigste Bahnhof Wiens. Für viele Zuwanderer aus den Kronländern Galizien, Bukowina, Böhmen und Mähren war er das Tor nach Wien. Die erste elektrische Straßenbahnlinie Wiens, die spätere (und heutige) Linie 5, verband den Bahnhof seit 1897 mit dem Nordwestbahnhof, dem Franz-Josefs-Bahnhof und dem Westbahnhof.
Die 1899 zur Endstation der Wiener Stadtbahn aufgewertete Haltestelle Wien Praterstern war zwar betrieblich vom Nordbahnhof getrennt, sorgte aber dennoch für eine bessere Integration desselbigen in den Nah- und Regionalverkehr.[6]
Der Nordbahnhof spielte im Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle: Hier wurden viele Truppentransporte an die russische Front abgefertigt und Verwundetentransporte aus dem Frontgebiet übernommen. Hier kamen 1914 / 1915 vor dem Eindringen der russischen Armee in Galizien geflohene Menschen an, 1917 / 1918 die aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassenen österreichischen Soldaten.
1918–1945
Mitte der 1920er Jahre verfügte der Nordbahnhof über zwei Heizhäuser, sechs Kohlenhöfe, Ladegleise mit bis zu über einem Kilometer Länge und ein Petroleummagazin. Zur Donauuferbahn gab es bis nach 2010 eine nahe der Innstraße im halbkreisförmigen Bogen geführte Direktverbindung.
Im März 1938 flüchteten viele, die Verfolgung befürchteten, vor den die Macht übernehmenden Nationalsozialisten mit der Nordbahn über Lundenburg (Břeclav) in die Tschechoslowakei. Ab 1943 wurden jüdische Wiener vom Nordbahnhof aus in Vernichtungslager deportiert; zuvor waren die Deportationszüge vom Aspangbahnhof abgefahren.
1945–1965
In der Schlacht um Wien in der Endphase des Zweiten Weltkriegs wurde der Bahnhof am 12. März 1945 durch Bombentreffer und Anfang April 1945 durch Artillerie schwer beschädigt. Die Nordbahnbrücke über die Donau war infolge der Kampfhandlungen bis 1957 unbenutzbar; die Nordbahnzüge wurden bis 1959 vom Nordwestbahnhof aus über die Nordwestbahnbrücke geführt.
Mit Beginn des nach 1945 folgenden Kalten Kriegs wurden die Grenzen der nördlichen und östlichen Nachbarstaaten geschlossen, die Nordbahnstrecke verlor ihre überregionale Bedeutung. (Dennoch war noch auf Stadtplänen der Nachkriegszeit zu lesen, die Nordbahn verkehre nach Brünn, Krakau, Lemberg und Czernowitz.[7])
Der Bahnhofsbau wurde dem Verfall preisgegeben und am 21. Mai 1965 gesprengt. Der Wiener Historiker Georg Rigele erklärte dazu Jahrzehnte später, der Abriss habe keine Proteste, keine öffentlichen Kontroversen ausgelöst. Es handelte sich um den stillen, unreflektierten (zumindest nicht debattierten) Abbruch einer historischen Beziehung, um den Verlust eines … symbolhaften Ortes für den tschechischen, polnischen und jüdischen Anteil an der Wiener Geschichte.[8]
In den Jahren vor dem Abriss waren vor der Kulisse des Bahnhofsgebäudes an der Nordbahnstraße noch Filmszenen entstanden, in denen das Attentat von Sarajevo von 1914 und der ungarische Aufstand von 1956 gegen das stalinistische Regime nachgespielt wurden. Im 1955 gedrehten Film Sarajevo – Um Thron und Liebe stellte die historische Eingangshalle des Bahnhofs das Rathaus von Sarajevo dar.
Frachtenbahnhof 1945–2005
Von 1945 bis nach 2000 wurde im Nordbahnhofgelände weiterhin Güterverkehr abgewickelt. 1945–1955 befand sich der Bahnhof im sowjetischen Sektor der Stadt. Der Eiserne Vorhang wirkte bis 1989 verkehrshemmend. Die ÖBB nützten das weitläufige Gelände unter anderem zum Abstellen nicht (mehr) benötigter Schienenfahrzeuge, angesiedelte Firmen wickelten hier auch Verkehr ab, bei dem die Bahn keine oder eine geringe Rolle spielte.
Nach der Schaffung moderner Güterverkehrseinrichtungen an anderen Standorten einigten sich Bundesbahnen und Stadtverwaltung darauf, das Gelände sukzessive für neue Nutzungen freizugeben. 1979 wurde als erstes Bahnareal an der Nordseite der Lassallestraße freigegeben; es wurde mit Bürogebäuden usw. verbaut. 1994 wurde das Leitbild Nordbahnhof beschlossen. 2005 wurde auch für das große nördlich an den bereits bebauten Streifen an der Lassallestraße anschließende Areal der Flächenwidmungsplan beschlossen. Der Rudolf-Bednar-Park wurde 2008 eröffnet. 2011/2012 fand zur Aktualisierung des Leitbildes von 1994 neuerlich ein städtebaulicher Wettbewerb statt, der im Städtebaulichen Leitbild 2014 resultierte; die ursprünglichen Planungen wurden angepasst, siehe Nordbahnviertel.
Literatur
- Franz Haas: Der Wiener Nordbahnhof 1837–2018. bahnmedien.at, Wien 2018, ISBN 978-3-903177-03-1
- Franz Haas: Der Wiener Nordbahnhof. Sutton Verlag, Erfurt 2006, ISBN 3-86680-036-3.
- Alfred Horn: Eisenbahn-Bilderalbum. Band 6: Die Zeit von 1945 bis 1955. Wiederaufbau, Besatzungszeit, Fremd- und Beutelokomotiven, Privat-, Lokal- und Werksbahnen. Bohmann, Wien 2002, ISBN 3-901983-15-5.
- Wolfgang Kos, Günter Dinhobl (Hrsg.): Großer Bahnhof. Wien und die weite Welt. Czernin, Wien 2006, ISBN 3-7076-0212-5 (Sonderausstellung des Wien-Museums 332), (Ausstellungskatalog, Wien, Wien-Museum, 28. September 2006 bis 25. Februar 2007).
- Manfred Schenekl: Versuch einer Sozialgeschichte des Wiener Nordbahnhofes in den Jahren 1838–1945. Univ. Dipl. Arb. Wien 1993.
- Der Nordbahnhof in Wien. In: Die Gartenlaube. Heft 22, 1867, S. 341–343 (Volltext [Wikisource]).
- Der Neubau des Personenbahnhofs der Kaiser Ferdinands Nordbahn in der Allgemeinen Bauzeitung auf Anno (Austrian Newspapers Online)
- Pläne des Nordbahnhofs in der Bauzeitung von 1870
Weblinks
Einzelnachweise
- Evelyn Klein, Gustav Glaser: Peripherie in der Stadt. Das Wiener Nordbahnviertel. Einblicke, Erkundungen, Analysen, StudienVerlag, Innsbruck 2006, ISBN 978-3-7065-4189-3
- Klein, Glaser, S. 30
- Felix Czeike: Historisches Lexikon Wien, Band 4, Kremayr & Scheriau, Wien 1995, ISBN 3-218-00546-9, S. 417
- Statue Salomon Mayer Freiherr von Rothschild, aus dem Vestibül des Nordbahnhofs, auf Google Arts & Culture, abgerufen am 7. Juni 2020
- Roman Sandgruber: Rothschild. Glanz und Untergang des Wiener Welthauses. Molden Verlag, Wien 2018, S. 468
- Der Nordbahnhof auf tramway.at, abgerufen am 4. April 2020
- 50 Jahre Wien Museum. Werbeprospekt April 2009, herausgegeben vom Wien Museum, mit Faksimile eines Verkehrsplanes um 1950
- Georg Rigele: Abbruch einer historischen Beziehung. In: Website Der Standard, 31. Mai 2002, gedruckte Ausgabe vom 1./2. Juni 2002