Verfassung des Kantons Zürich
Die Verfassung des Kantons Zürich (KV) ist die rechtliche Grundordnung des Schweizer Kantons Zürich. Als kantonale Verfassung regelt sie den Aufbau des Kantons, legt die Grundlagen für das Funktionieren der Behörden sowie der Gesetzgebung fest und umschreibt die Bürger- und Volksrechte. In der Rechtshierarchie steht sie unterhalb der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft sowie der Bundesgesetz und oberhalb aller kantonaler Gesetze und Verordnungen sowie aller kommunaler und landeskirchlicher Rechtserlasse. Die heute gültige Verfassung datiert vom 27. Februar 2005 und trat am 1. Januar 2006 in Kraft.
Von 1356 bis 1798 bildete die Brunsche Zunftverfassung die Grundlage der Reichsstadt und späteren Republik Zürich, wobei die Stadt Zürich fast uneingeschränkt über seine Untertanengebiete herrschte. Nach der Helvetik und der Mediation konnte die Stadt während der Restauration ihre Vorherrschaft vorübergehend wiedererlangen. Nach dem Beginn der Regeneration im Jahr 1831 waren Stadt und frühere Untertanengebiete gleichberechtigt. Danach formte sich schrittweise die direkte Demokratie im Kanton Zürich mit dem Ausbau der Volksrechte auf Staats- und Gemeindeebene sowie der Konkretisierung der Volkssouveränität.
Eine Vorreiterrolle spielte dabei die von Winterthur ausgehende und von der École de Winterthour geprägte demokratische Bewegung. Sie erzwang 1869 die Ausarbeitung einer neuen, modernen Verfassung, die in ihren Grundzügen über 130 Jahre lang bestehen blieb und anderen Kantonsverfassungen sowie der Bundesverfassung von 1874 als Vorbild diente. Die Zürcher Verfassung war die erste, bei der die direkte Demokratie in der Schweiz systematisch verwirklicht wurde.[1]
Aktuelle Verfassung
Aufbau und Inhalt
Gegliedert ist die Verfassung in die Präambel und in zwölf Abschnitte mit insgesamt 145 Artikeln. Aus Gründen der Übersichtlichkeit sind mehrere Abschnitte weiter in Unterabschnitte gegliedert.
|
|
|
Besondere Merkmale
Die Verfassung von 2005 ist die erste des Kantons Zürich mit einer eigentlichen Präambel. Jene von 1831 verzichtete ganz darauf, während sich jene von 1869 mit einem kurzen Einleitungssatz begnügte. Im Gegensatz zur Bundesverfassung fehlt ein Gottesbezug, stattdessen wird auf die «Verantwortung gegenüber der Schöpfung» und das «Wissen um die Grenzen menschlicher Macht» verwiesen. Im Unterschied zur Bundesverfassung sind die Sozialziele ausführlicher gehalten. Bei den Grundrechten zusätzlich enthalten sind das Recht auf Zugang zu amtlichen Dokumenten, die freie Wahl der Form des partnerschaftlichen Zusammenlebens und die Gebärdensprache als Teil der Sprachenfreiheit.
Als einziger Kanton ohne Landsgemeinde kennt Zürich das Volksrecht der Einzelinitiative, bei der eine Einzelperson eine Änderung der Kantonsverfassung oder eines kantonalen Gesetzes beantragen kann. Ebenfalls einmalig in der Schweiz ist das Recht der Behördeninitiative, die üblicherweise von der Exekutive einer Gemeinde ausgeht. Beide werden in Artikel 31 geregelt.
Historische Entwicklung
Widerstandstradition für eine gerechte Herrschaft
Die im Jahr 1336 eingeführte Brunsche Zunftverfassung festigte in Zürich die Macht der Zünfte, die allmählich den Einfluss des Adels zurückdrängten. Ihren Einfluss in den Untertanengebieten sicherte sich die Stadt mit der Aufnahme von Ausburgern, mit Burgrechten und der Übernahme von Vogteirechten, mit denen auch Hoheitsrechte verbunden waren. Stadt und Landschaft bildeten ein Doppelgemeinwesen, das nicht durch eine Verfassung, sondern durch die höchste Gewalt bzw. das Regiment vereinigt war. Während für die Stadt die «Fundamentalsatzungen» massgeblich waren, unterstanden die Landleute dem «Landrecht». Seit dem Westfälischen Frieden von 1648 (Unabhängigkeit der Schweiz vom Deutschen Reich) bezeichnete sich Zürich nicht mehr als «Reichsstadt Zürich», sondern als «Republik Zürich». 1713 kam es auf Druck der Zünfte und der Landbevölkerung zu einer Verfassungsrevision. Trotzdem blieb das Regiment der Stadt auf der Landschaft durch zahlreiche Mandate wirksam, die bis in alle Einzelheiten das religiöse und sittliche Leben der Untertanen regelten und der Stadt das Monopol auf wirtschaftlichem Gebiet verschafften.[2]
1794 wurde das Stäfner Memorial verfasst, in dem auf die urkundlich verbrieften Rechte der Zürcher Landbevölkerung der vor- und nachreformatorischen Zeit hingewiesen wurde, die als «alte Freiheiten» in den Waldmannschen Spruchbriefen von 1489 und den Kappeler Briefen von 1532 (die Stadt hatte sich verpflichtet, ohne Wissen und Willen ihrer Landleute keine Bündnisse abzuschliessen) festgehalten waren. Mit dieser Bittschrift an den städtischen Rat forderten sie eine Verfassung, die Gleichstellung aller Bürger, die Gewerbe- und Bildungsfreiheit, die Ablösung der Feudallasten und die Wiederherstellung der alten Gemeinderechte. Bevor die Bittschrift vorgelegt werden konnte, liess der Rat die Führer der Bewegung verhaften und verurteilen. Die Unnachgiebigkeit der Regierung und die Strafen mobilisierten die gesamte Landschaft und die Stadt, wo aufgeklärte Bürger Reformen nach französischem Vorbild verlangten (Stäfnerhandel).
Der Einmarsch der französischen Truppen in die Alte Eidgenossenschaft 1798 verstärkte die revolutionäre Stimmung bei der ländlichen Oberschicht (Seegemeinden, Knonauer Amt, Zürcher Oberland). Der radikale Führer der Landschaft, der Stäfner Johann Caspar Pfenninger, erzwang den Rücktritt des Rates. Eine mehrheitlich von Landschaftsvertretern zusammengesetzte Landeskommission begann eine Verfassung auszuarbeiten, musste sich jedoch am 29. März 1798 der von Frankreich diktierten helvetischen Verfassung unterwerfen. Das bedeutete das Ende der Republik Zürich und ihr Gebiet wurde als Kanton Zürich zu einem Verwaltungsbezirk der Helvetischen Republik.
Da die Stadt Zürich ihre beherrschende Rolle über die Landschaft in der Helvetik verloren hatte, wollte sie ihre Ansprüche aufgrund der Mediationsverfassung erneut durchsetzen. Sie verlangte einen Huldigungseid auf die neue kantonale Verfassung und die Obrigkeit. Im Bockenkrieg von 1804 wehrte sich die Landbevölkerung militärisch siegreich aber sonst erfolglos gegen die neuen Gesetze. Mit der Restaurationsverfassung von 1814 kehrte Zürich wieder zum Grossen Rat des Ancien Régime zurück.
Die Verfassung von 1831
Die Julirevolution von 1830 in Frankreich unterstützte in der Schweiz die Regeneration. Anfang des 19. Jahrhunderts lebten im Kanton Zürich 88 Prozent der Bevölkerung auf dem Land, wo sie in der Landwirtschaft und in den ersten Fabriken arbeiteten. Die Fabriken waren auf dem Land entstanden, weil es dort günstige Wasserkraft und genügend Arbeitskräfte gab. Weil die Landschaft politisch wenig mitbestimmen konnte, wurden von der liberalen Bewegung (Bürgertum und Fabrikanten) mit organisierten Volksversammlungen entscheidende politische Veränderungsprozesse ausgelöst.
Am 22. November 1830 versammelten sich erstmals rund 10'000 Männer der zürcherischen Landschaft in Uster (Ustertag) und verlangten mit dem «Memorial von Uster» eine neue Verfassung. Sie wollten aufgrund ihrer gewachsenen wirtschaftlichen Stärke endlich eine angemessene Vertretung im Parlament haben. Gewerbetreibende und Bauern forderten von der Regierung Schutz für die Zünfte sowie für Klein- und Kleinstbetriebe und eine Erleichterung bei der Ablösung ihrer Feudallasten (Zehnt). Die Forderungen der Volksbewegung führte zur Auflösung des Parlamentes (Grossrat), das auf den 6. Dezember Neuwahlen nach dem geforderten Vertretungsprinzip ansetzte. Eine 13er-Kommission arbeitete einen Verfassungsentwurf mit der Volkssouveränität als oberstes Staatsprinzip aus. Die Verfassung stärkte die Gemeinden und gab ihnen das Recht auf eigene Gemeindeordnungen im Rahmen des kantonalen Rechts.
Die am 20. März 1831 vom Volk in der ersten kantonalen Abstimmung mit 96 Prozent der Stimmenden angenommene neue, liberale Verfassung trat drei Tage später in Kraft. Der Kanton Zürich wurde ein souveräner Stand der Schweizerischen Eidgenossenschaft mit einer repräsentativen Verfassung.[3] Die Liberalen begannen mit einer Bildungsoffensive[4] (Bildungsgesetz von 1832, Gründung der demokratischen Volksschule, des Lehrerseminars und der Universität Zürich) und der Kirchenerneuerung, weil die Volkssouveränität nur von einem gebildeten Volk wahrgenommen werden könne. Für die wachsende Volkswirtschaft wurden die Zollschranken abgebaut, die Weg- und Brückenzölle aufgehoben und der Strassenbau forciert.
Der liberale Aufbruch mit der Modernisierung missachtete alte traditionelle Rechte der Landbevölkerung. Von der neuen Gesellschaftsordnung profitierten Unternehmer, Juristen und Lehrer während Kleinbauern, Heimarbeiter und die alten Eliten die Verlierer waren. Die Einführung neuer Schulbücher mit religionsfreien Inhalten und die Berufung von David Friedrich Strauss an die Universität (Straussenhandel) waren der Auslöser für den Marsch von 2’000 erzürnten und bewaffneten Landbewohnern nach Zürich. Der Züriputsch vom 6. September 1839 stürzte die liberale Kantonsregierung.
Demokratische Bewegung im Kanton Zürich
Mit der Industrialisierung der Schweiz erlebte die Stadt Zürich ein starkes wirtschaftliches Wachstum und wurde zum Verkehrsknotenpunkt ausgebaut. Die Stadt wurde gegenüber der Landschaft privilegiert. Bauern und Gewerbetreibende hatten Mühe, Kredite zu bekommen, weil Begüterte ihr Geld bevorzugt in den neuen Eisenbahnaktien anlegten, statt in die ländliche Wirtschaft. Der Grosse Rat lehnte eine Bank für das Volk mehrmals ab. In den 1840er und 1850er Jahren hatte sich eine linksliberale und frühsozialistische Bewegung gebildet, die von Johann Jakob Treichler und Karl Bürkli angeführt wurden. Treichler und Bürkli waren Mitglieder der seit 1846 bestehenden Zürcher Sektion des Grütlivereins und engagierten sich für den 1851 gegründeten Konsumverein Zürich. In den 1860er Jahren bildeten sich in der industrialisierten Nordwest- und Ostschweiz Demokratische Bewegungen gegen die Machtkonzentration bei den erfolgreichen Industriellen («System Escher») und dem dominierenden rechtsliberalen Freisinn. Weil die liberale Wirtschaftspolitik auf Zürich konzentriert war, fühlten sich Winterthur und viele Landgebiete benachteiligt.
Das geistige Zentrum der Demokratiebewegung wurde der Winterthurer Landbote mit seinem Redaktor Salomon Bleuler. Die ausstrahlende demokratische Staatstheorie wurde in der Westschweiz als École de Winterthour bezeichnet.[5] Die Demokraten von Winterthur bildeten ein Zentralkomitee, das ein Parteiprogramm erarbeitete, die Revision der Verfassung forderte und beschloss, das Programm der Bewegung an den «Landsgemeinden» bekannt zu geben.
Diese Volksversammlungen fanden am 15. Dezember 1867 mit rund 18'000 Männer (mehr als ein Viertel aller Stimmberechtigten) in Uster, Bülach, Winterthur und Zürich statt, um die direkte politische Mitsprache sowie sozialpolitische Reformen zu fordern.[6] An den Versammlungen kamen beinahe 27‘000 Unterschriften für eine Verfassungsänderung zusammen. Gemäss der 1865 angenommenen Verfassungsrevision musste das Volk über eine Verfassungsänderung entscheiden, wenn 10’000 Bürger eine solche begehrten. In der darauffolgenden Volksabstimmung vom 26. Januar 1868 stimmte das Zürcher Volk mit einem Mehr von 50’000 gegen 7’000 Stimmen (bei 65’000 Stimmberechtigten) für die Totalrevision der Staatsverfassung sowie ebenfalls mit einem grossen Mehr für einen Verfassungsrat.
«Eine Verfassung ist aber keine stilistische Examenarbeit. Die sogenannten logischen, schönen philosophischen Verfassungen haben sich nie eines langen Lebens erfreut. Wäre mit solchen geholfen, so würden die überlebten Republiken noch da sein, welche sich einst bei Rousseau Verfassungen bestellten, weil sie kein Volk hatten, in welchem die wahren Verfassungen latent sind bis zum letzten Augenblick. Uns scheinen jene Verfassungen die schönsten zu sein, in welchen, ohne Rücksicht auf Stil und Symmetrie, ein Concretum, ein errungenes Recht neben dem andern liegt, wie die harten glänzenden Körner im Granit, und welche zugleich die klarste Geschichte ihrer selbst sind.»
Die Verfassung von 1869
Die Verfassung von 1869 war der erste konsequente Versuch, die Idee der reinen Volksherrschaft in einer den modernen Kulturverhältnissen entsprechenden Form durchzuführen. Es gab jedoch wichtige Vorläufer, einige Kantone hatten bereits das Veto (Gesetzesreferendum), andere die Initiative, ausgebaute Volksrechte gab es bereits im Kanton Luzern (1841, 1848 wieder abgebaut) und im Kanton Baselland wie im Kanton Zürich im Zuge der Demokratischen Bewegung.
Die Verfassung von 1869 ist aus dem Gegenspiel der Demokraten und der Liberalen in den Beratungen des Verfassungsrates entstanden. Die Initiative lag bei der 1867 gegründeten Demokratischen Partei des Kantons Zürich und bei der Stadt Winterthur. Sie fand ihren grössten Rückhalt in der Beamten- und Lehrerschaft. Das wichtigste Presseorgan, das die Partei unterstützte, war der Winterthurer Landbote.[8] Die Gegenbewegung in den Beratungen kam von den Liberalen. Die Wirtschaftsliberalen hatten die Liberale Partei gegründet, deren Mittelpunkt vorwiegend die Stadt Zürich war. Ihr Presseorgan war die Neue Zürcher Zeitung. Die Liberalen gingen Ende des 19. Jahrhunderts mit den Demokraten ein Zweckbündnis ein.[9]
Im März 1868 wurden vom Volk 222 Verfassungsräte gewählt, zumeist Männer mit politischer Erfahrung. Die Anhänger der Revision konnten zwei Drittel der Sitze erringen. Der Verfassungsrat wählte den Winterthurer Stadtpräsident Johann Jakob Sulzer zu ihrem Präsidenten. Bis Ende Mai hatte das Volk Gelegenheit, seine Wünsche für die neue Verfassung in der Form von Petitionen abzugeben. Ende Mai wurde vom Verfassungsrat eine 35er-Kommission mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs bestimmt, mit der Weisung «das Prinzip der direkten Gesetzgebung durch das Volk zu verwirklichen». Das Parlament, so erklärte Johann Caspar Sieber 1868 im Verfassungsrat, solle künftig lediglich noch als «vorberathende Commission» fungieren. Die Kommission war fast ausschliesslich aus Demokraten zusammengesetzt. Der erste Verfassungsentwurf wurde am 1. August 1868 im Landboten veröffentlicht und den Verfassungsräten zugestellt. Der im August von der 35er-Kommission bereinigte Entwurf wurde gegen Ende des Monats im Landboten und in der NZZ publiziert.
Der Verfassungrat befasste sich mit den Entwürfen in zwei Beratungssessionen vom August bis März und stimmte am 31. März 1869 im Verhältnis von 145 zu 46 für die neue Verfassung. An der Volksabstimmung vom 18. April 1869 wurde die neue Verfassung mit 61 Prozent Ja angenommen, bei einer Stimmbeteiligung von 91 Prozent. Sie war die erste direktdemokratische Verfassung in der Schweiz. Kein anderer Kanton hatte bisher einen solch radikalen Wandel von einem reinen Repräsentativsystem zu einem Modell mit weitreichenden direktdemokratischen Elementen vollzogen. Die Idee der reinen Volksherrschaft wurde in einer den modernen Kulturverhältnissen entsprechenden Form eingeführt. Die Demokratische Bewegung hatte mit der Kantonsverfassung einen grossen Sieg errungen.
Ausbau der demokratischen Rechte
Am 18. April 1869 weitete der Kanton Zürich den Einfluss der Stimmbürger mit Volksinitiative, Referendum, Volkswahl des Regierungsrats auf die Politik aus. Die damals geschaffene Verfassungsordnung hat im Grunde bis heute Bestand.[10] Das zentrale Element der neuen Verfassung, die Volkssouveränität, wurde im ersten Artikel der Verfassung konkretisiert. Damit war der Freistaat nicht mehr ein demokratisch-repräsentativer, sondern ein direktdemokratischer, in dem der Volkswille, die wahre öffentliche Meinung, das höchste Gesetz darstellt. Während die Verfassung von 1831 noch festgelegt hatte, die Staatsgewalt werde durch den Grossen Rat als Stellvertreter des Volkes ausgeübt, lautete der Artikel 1 der neuen Verfassung wie folgt: Die Staatsgewalt beruht auf der Gesamtheit des Volkes. Sie wird unmittelbar durch die Aktivbürger und mittelbar durch die Behörden und Beamten ausgeübt.[11]
Bisher konnte das Volk nur die Mitglieder des Grossen Rates (neu Kantonsrat) wählen, damit diese als Volksstellvertreter die Gesetze erliessen. Mit dem neuen Volksinitiativ- und Referendumsrecht konnte das Volk nun direkt auf die Gesetzgebung (Vorschläge, Verfassungsänderungen, Gesetze, Konkordate) Einfluss nehmen. Für die Initiative waren 5000 Unterschriften erforderlich, beim Referendum (inklusive Finanzreferendum) mussten dem Volk im Frühjahr und im Herbst obligatorisch die vom Kantonsrat ausgearbeiteten Gesetze vorgelegt werden. Mit der Einzelinitiative konnte ein einzelner Stimmbürger ein Begehren lancieren (mit Unterstützung von mindestens einem Drittel der Kantonsräte).
Der Regierungsrat wurde nicht mehr durch das Parlament, sondern direkt durch die Bürger gewählt. Die Zürcher Ständeräte wurden in Volkswahlen bestimmt. Auf Gemeindeebene wurden die Geistlichen und Lehrer der Volksschule von Gemeindegenossen gewählt und nach sechs Jahren bestätigt. Im sozialpolitischen Bereich wurde der Volksschulunterricht obligatorisch und kostenlos, die Progression wurde auf die Vermögensteuer ausgedehnt. Dank dem Engagement von Johann Jakob Keller wurde die Zürcher Kantonalbank geschaffen (Eröffnung der ersten Filiale am 15. Februar 1870), um die wirtschaftliche Entwicklung der Landschaft zu fördern, in dem sie dem Gewerbe und dem Volk Kredite zu fairen Bedingungen gab. Der Kanton hatte das auf Selbsthilfe beruhende Genossenschaftswesen zu fördern und Arbeiterschutzgesetze zu erlassen. Das Koalitionsverbot wurde aufgehoben, womit die Gründung von Gewerkschaften möglich wurde. Die Wehrpflichtigen wurden vom Staat ausgerüstet. Die Todes- und Kettenstrafe wurde abgeschafft.[12]
Die Gemeindefreiheit wurde durch weitgehende Rechte der Gemeindeversammlungen gewährleistet: Aufsicht über Gemeindeverwaltung, Festsetzung des jährlichen Budgets, Annahme der Jahresrechnung, Bewilligung der Steuersätze, Genehmigung von grösseren Ausgaben. Mit der systematischen Verwirklichung der direkten Demokratie wurde der Kanton Zürich zum Wegbereiter für die Einführung und den Ausbau der direkten Demokratie in anderen Kantonen sowie auf Bundesebene: 1869 und 1870 führten die Kantone Bern, Solothurn, Thurgau und Aargau das obligatorische Referendum ein. Auf Bundesebene folgte das Referendum 1874 und die Initiative 1891.[13]
Die Wirtschaftsfreiheit wurde im Artikel 21 geregelt: Die Ausübung jeder Berufsart in Kunst und Wissenschaft, Handel und Gewerbe ist frei. Vorbehalten sind die gesetzlichen und polizeilichen Vorschriften, die das öffentliche Wohl erfordert.
Heutige Kantonsverfassung
Die Verfassung von 1869 galt damals als die modernste Europas, entwickelte sich aber über die Jahrzehnte durch fast 50 Teilrevisionen allmählich zu einem unübersichtlichen Flickwerk. Sowohl 1968 als auch 1980 gab es politische Vorstösse, die ohne Erfolg eine Totalrevision forderten. 1991 stimmte der Kantonsrat schliesslich einer Motion zu, stellte aber die Bedingung, dass ein Verfassungsrat gebildet werden müsse, obwohl dies in der Verfassung so gar nicht vorgesehen war. Nach zahlreichen ergebnislosen Kommissionssitzungen schlug Regierungsrat Markus Notter schliesslich ein separates Verfassungsgesetz vor, das die genauen Modalitäten einer Totalrevision durch einen Verfassungsrat regeln sollte.[14] Dieser Vorschlag stiess im Kantonsrat auf Zustimmung. Bei der Volksabstimmung am 13. Juni 1999 nahmen 65,8 % der Abstimmenden die Vorlage an. Die Wahl des 100-köpfigen Verfassungsrates erfolgte am 18. Juni 2000.[15]
Nach über vierjähriger Arbeit lag der Entwurf vor. Kantonsrat und Regierungsrat empfahlen die Annahme, ebenso die meisten Parteien. Sie argumentierten, die neue Verfassung begrenze die Staatsaufgaben, verbessere Rechtssicherheit und Transparenz der Verwaltung und wahre die Interessen von Wirtschaft, Handel und Gewerbe. Das neue Werk stehe für einen freiheitlichen, sicheren, gesunden und sparsamen Staat und führe zu mehr Demokratie. Ausgaben- und Schuldenbremse würden zu einem haushälterischen Umgang mit den Steuereinnahmen beitragen. Widerstand leisteten die SVP und einzelne FDP-Vertreter. Ihrer Meinung nach bestand kein Grund, die erfolgreiche Verfassung von 1869 gegen eine neue einzutauschen. Sie sei von einer linken Ideologie geprägt und bringe zahlreiche neue Staatsaufgaben, höhere Steuern und neue Gesetze.[16] Bei der Volksabstimmung vom 27. Februar 2005 wurde die neue Verfassung mit einem Ja-Stimmenanteil von 64,24 % angenommen.[17] In Kraft trat sie am 1. Januar 2006.
Literatur
Kommentare
- Markus Arnold u. a.: Die neue Zürcher Kantonsverfassung (= Materialien zur Zürcher Verfassungsreform. Band 9). Schulthess Juristische Medien AG, Zürich/Basel/Genf 2006, ISBN 3-7255-5156-1.
- Leo Lorenzo Fosco u. a.: Die Entstehung der neuen Zürcher Kantonsverfassung (= Materialien zur Zürcher Verfassungsreform. Band 8). Schulthess Juristische Medien AG, Zürich/Basel/Genf 2006, ISBN 3-7255-5155-3.
- Isabelle Häner, Markus Rüssli, Evi Schwarzenbach (Hrsg.): Kommentar zur Zürcher Kantonsverfassung. Schulthess Juristische Medien AG Verlag, Zürich 2007, ISBN 978-3-7255-5363-1.
- Tobias Jaag, Markus Rüssli: Staats- und Verwaltungsrecht des Kantons Zürich. 5. Auflage. Schulthess Juristische Medien AG, Zürich/Basel/Genf 2019, ISBN 978-3-7255-7133-8.
Verfassungsgeschichte
- Staatsarchiv des Kantons Zürich (Hrsg.): Kleine Zürcher Verfassungsgeschichte 1218–2000. Chronos Verlag, Zürich 2000, ISBN 978-3-905314-03-8 (online).
- Rolf Graber (Hrsg.): Demokratisierungsprozesse in der Schweiz im späten 18. und 19. Jahrhundert. Forschungskolloquium im Rahmen des Forschungsprojekts «Die demokratische Bewegung in der Schweiz von 1770 bis 1870». Eine kommentierte Quellenauswahl (= Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle «Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770–1850». Bd. 409). Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main / Berlin / Bern / Bruxelles / New York / Oxford / Wien 2008, ISBN 978-3-631-56525-4.
- Alfred Kölz: Der demokratische Aufbruch des Zürchervolkes. Eine Quellenstudie zur Entstehung der Zürcher Verfassung von 1869 (= Materialien zur Zürcher Verfassungsreform. Band 1). Schulthess Juristische Medien AG, Zürich/Basel/Genf 2000, ISBN 3-7255-4001-2.
- René Roca, Andreas Auer (Hrsg.): Wege zur direkten Demokratie in den schweizerischen Kantonen (= Schriften zur Demokratieforschung. Band 3). Zentrum für Demokratie Aarau und Verlag Schulthess AG, Zürich/Basel/Genf 2011, ISBN 978-3-7255-6463-7.
- Werner Wüthrich: Die Verfassung des Kantons Zürich von 1869. In: Werner Wüthrich: Wirtschaft und direkte Demokratie in der Schweiz. Geschichte der freiheitlich-demokratischen Wirtschaftsverfassung der Schweiz. Verlag Zeit-Fragen, Zürich 2020, ISBN 978-3-909234-24-0.
- Zürcher Kantonsverfassung. 125 Jahr-Jubliläum. Feier im Rathaus Zürich vom 24. Oktober 1994 (= Kantonsrats-Schrift. Nr. 41, Mai 95) (online).
- Zürcher Kantonsrat, Gedächtnisakt vom 17. April 1944: 75 Jahre Verfassung von 1869.
Weblinks
Einzelnachweise
- NZZ vom 17. April 2019: Der Tag, an dem Zürich sich für eine «wahrhaft demokratische» Verfassung entscheidet
- Meinrad Suter: Regieren und Verwalten im Ancien Régime. In: Artikel Zürich (Kanton). Historisches Lexikon der Schweiz, 24. August 2017, abgerufen am 8. April 2021.
- Verfassung des Kantons Zürich vom 10. März 1831, in Kraft am 23. März 1831
- Schule Schweiz Blog: Volksschule ohne Demokratie?
- Stadt Winterthur: École de Winterthour
- Vor 150 Jahren: Die Demokratische Bewegung pflügt den Kanton Zürich um
- Zürcher Kantonsrat, Gedächtnisakt vom 17. April 1944: 75 Jahre Verfassung von 1869
- Dodis: Demokratische Partei
- Briefedition Alfred Escher: Verfassungskämpfe
- NZZ vom 17. April 2019: Der Tag, an dem Zürich sich für eine «wahrhaft demokratische» Verfassung entscheidet
- Kanton Zürich: Verfassung von 1869
- 150 Jahre ZKB: Jetzt spricht das Volk
- Verfassung des eidgenössischen Standes Zürich vom 18. April 1869
- Markus Notter: Politik und Recht – 15 Jahre Justizdirektor. (PDF, 189 kB) Ius-Alumni der Universität Zürich, 29. September 2011, S. 4–6, abgerufen am 8. April 2021.
- Verfassungsrat, 1991–2006 (Fonds). Staatsarchiv des Kantons Zürich, abgerufen am 8. April 2021.
- Christian Raaflaub: Seilziehen um neue Zürcher Verfassung. Swissinfo, 10. Februar 2005, abgerufen am 8. April 2021.
- Abstimmungsdatenbank. Kanton Zürich, 2021, abgerufen am 8. April 2021.