Scheinanglizismus
Als Scheinanglizismus (auch Pseudoanglizismus) werden Wörter in der deutschen oder einer anderen Sprache bezeichnet, die lexikalische Elemente des Englischen benutzen, um einen Neologismus zu schaffen, der im Englischen unbekannt ist oder nur in einer anderen Bedeutung verwendet wird.[1] Scheinanglizismen sind dem Feld der Scheinentlehnungen zuzuordnen. Diese Wörter sind als Pseudoentlehnungen im englischen Sprachraum unbekannt oder haben dort eine andere Bedeutung, sodass es mit Muttersprachlern zu Verständigungsproblemen kommen kann. Sie sind somit eine besondere Form der sogenannten falschen Freunde.[2]
Scheinanglizismen kommen in vielen Sprachen vor, so zum Beispiel im Deutschen, im Niederländischen, im mexikanischen Spanisch, im Französischen und im Japanischen. Im Japanischen wurde dafür mit Wasei Eigo ein eigener Begriff geprägt.
„Die Herkunft solcher Ausdrücke bleibt zu untersuchen. Möglicherweise wurden sie geprägt von Sprechern des Deutschen, die für das Gemeinte einen englischen Ausdruck gebrauchen wollten und – auf Basis des Deutschen oder durch Imagination – einen solchen selbst geprägt haben. Dabei kann es sein, dass sie die tatsächlich existenten englischen Wörter […] nicht kannten oder dass die eigene Prägung den Zweck besser zu erfüllen schien.“[3]
Scheinanglizismen verdeutlichen die Tatsache, dass es sich bei Anglizismen nicht um englische Wörter in einer Zielsprache handelt, sondern um in die Zielsprache kopierte Neologismen mit einer eigenständigen, mitunter von der Herkunftssprache abweichenden Semantik und Bedeutungsgeschichte.
Beispiele
Deutsch
- „Handy“ (ausgesprochen [ˈhɛndi]). Dieses Wort bezeichnet im Deutschen ein Mobiltelefon. Es wird im englischsprachigen Raum nicht als Bezeichnung für solche Geräte benutzt.[4] Ein ähnlicher Begriff diente z. B. zur Unterscheidung zweier militärisch genutzter mobiler Funkgeräte von Motorola. Das Rucksackfunkgerät wurde Walkie-Talkie genannt, das Handsprechfunkgerät Handie-Talkie. Bereits im Mobilfunklexikon von Gusbeth (Franzis 1990) war zu lesen: „Handheld-Telefone (oder Handy)“. Auch die im selben Verlag erschienene Funkschau schrieb in Heft 1/1990 (S. 16): „Soll in den USA Konkurrenz durch NECP3-Mobiltelefon bekommen: Motorolas Handy MicroTac“. Die Unternehmen Bosch und Hagenuk vertrieben ihre Mobiltelefone im Jahr 1993 ebenfalls als Handy. Es handelt sich also ursprünglich um die Kurzform einer Produktbezeichnung, die zwar aus dem englischsprachigen Raum stammt, dort aber nicht mehr gebräuchlich ist. Sie geht auf eine Umschreibung (handy „handlich“, „praktisch“ oder „gelegen“) zurück. Im britischen Englisch bezeichnet man Mobiltelefone als mobile phones (kurz mobiles), im amerikanischen Englisch als cellular phones (kurz cell phones oder schlicht cells), in Singapur und Indonesien findet man den Ausdruck handphone. Im Standardenglisch besteht "handy" nur als Adjektiv, als Substantiv wird es umgangssprachlich als Abkürzung für "Handjob" benutzt.
- „Beamer“ als Synonym für „Video-Projektor“. Das Wort kann von Englischsprechern leicht als „Anstrahler“ (von to beam) verstanden werden, wird so jedoch ebenfalls nicht verwendet. In der nordamerikanischen Umgangssprache bezeichnet beamer ein Fahrzeug von BMW,[4] in Großbritannien ist das Wort ein Fachausdruck für eine bestimmte Art des Wurfs beim Cricket, die Bedeutung als BMW wird jedoch auch benutzt.[5] In der technischen Fachsprache der Weberei steht es für Kettenanschärer[6][7]. Ein Video-Projektor heißt im Englischen video projector oder digital projector.[8]
- „Oldtimer“. Ein historisches Automobil heißt im englischsprachigen Raum classic car oder vintage car (old-timer bedeutet im Englischen „alter Mann“).[9]
- Homeoffice wird von Muttersprachlern zwar möglicherweise verstanden, allerdings nicht verwendet. Stattdessen wird dort „from home“ oder „remotely“ gearbeitet; mancher nennt den Vorgang auch „remote working“. Als „Home Office“ wird in Großbritannien das Innenministerium bezeichnet. Zwar scheint es sowohl dort als auch in den Vereinigten Staaten den Begriff „home office“ für ein kleines Heimbüro zu geben – idiomatisch jedoch in dem Sinne, wie im Deutschen das Wort benutzt wird, ist es nicht. So heißt es in England nicht über einen Arbeitnehmer, er „mache Homeoffice“.[10]
- Im Deutschen bedeutet „Sport“ jegliche Form von körperlicher Aktivität. Das englische Wort „sport“ bezieht sich jedoch speziell nur auf wettbewerbsorientierte körperliche Aktivitäten. Der richtige englische Begriff dafür wäre „exercise“.
- Hometrainer ist zusammengesetzt aus home (= „Zuhause“) und trainer (= „Übungsleiter“). Im Deutschen bezeichnet dies ein „Übungsgerät (z. B. stationäres Fahrrad) für den Hausgebrauch zum Konditions- und Ausgleichssport oder zu heilgymnastischen Zwecken“. Dieser scheinbar englische Ausdruck existiert im Englischen aber nicht einmal. Um sich auf solch ein Übungsgerät zu beziehen, spricht man von exercise bicycle.[2]
- Weitere Beispiele:
Scheinanglizismus | Beschreibung | Bezeichnung im Englischen |
---|---|---|
Basecap | Kopfbedeckung | englisch baseball cap |
Bodybag | Tasche | Leichensack[4] |
Cornern | Kommunikation und Trinken an Straßenecken | Börsenjargon: durch Großkäufe Marktenge herbeiführen, um Kurssteigerungen zu verursachen.[11] |
Dressman | männliches Model | kann als Transvestit interpretiert werden; englisch male model |
Evergreen | älteres Musikstück, das immer noch Airplay erhält | immergrüne Pflanzen[12] |
Finisher | Fotolabor | englisch Photographic processing |
Homestory | Berichterstattung über das Privatleben von Prominenten | englisch exclusive story |
Mailbox beim Telefon/Handy | Postfach in der Telekommunikation | bedeutet im Englischen Hausbriefkasten[4] |
Peeling[13] | kosmetische oder dermatologische Behandlung, bei der oberflächliche Schichten der Haut flächig entfernt werden | englisch scrubbing oder förmlicher englisch exfoliation |
Public Viewing[4] | öffentliche Liveübertragung von Sportereignissen oder anderen Veranstaltungen auf Videowänden | ist in England die öffentliche Aufbahrung mit offenem Sarg; englisch public sports broadcast |
Service Point | Informations-Schalter | englisch information-desk |
Andere Sprachen
- In vielen Sprachen ist Happy End ein Ausdruck für „einen [unerwarteten] glücklichen Ausgang eines Konflikts oder einer Liebesgeschichte“. Im Englischen wäre dieser Ausdruck allerdings falsch, da es happy ending heißen muss.[2]
- Ein weiterer europäischer Scheinanglizismus ist Smoking. In den meisten europäischen Sprachen bezeichnet dieses Wort einen „meist schwarzen Abendanzug mit seidenem Revers für kleinere gesellschaftliche Veranstaltungen“. Im Englischen ist diese Bedeutung von Smoking aber inexistent. Im Englischen bedeutet smoking „das Rauchen“,[2] der Abendanzug heißt im amerikanischen Englisch tuxedo, im britischen Englisch dinner suit oder dinner jacket.
- Im Französischen lässt sich das Beispiel footing finden, das von der [inexistenten] Verlaufsform des englischen Wortes foot (= „Fuß“) abgeleitet ist und für „Laufen in mäßigem Tempo als Fitnesstraining“ steht. Im Englischen wird dieser Vorgang aber – wie im Deutschen auch – mit jogging (bzw. deutsch Jogging) bezeichnet.[2] Weitere Begriffe sind pressing für „Bügeln“ (engl. ironing) oder training für den Sportanzug (engl. tracksuit).
- Weitere Beispiele für Scheinanglizismen in mehreren Sprachen: Autostop,[14][15] Drive-in, Slip (Kleidung).
Gegenbeispiele
- Weder „round about“ noch „roundabout“ sind Scheinanglizismen: Der Anglizismus round about „ungefähr“ wird fälschlicherweise oft zusammengeschrieben („roundabout“). Im Englischen bedeutet roundabout jedoch „umständlich“, „weitschweifig“ sowie „nicht direkt, sondern um etwas rundherum laufend/führend“ (wie bspw. ein Kreisverkehr, dessen englische Bezeichnung dementsprechend ebenfalls „roundabout“ lautet). Hingegen bedeutet round about „ungefähr“, „circa“, „um … herum“ sowie „in der Umgebung, in der Nähe von“, was in der Regel auch der Intention entspricht. Im Englischen wird round about insbesondere auch in Verbindung mit (Geld-)Beträgen und Zeitangaben verwendet sowie allgemein bei Mengenangaben, z. B. „round about 1.35 million sheep“, d. h. die Verwendung des Anglizismus entspricht in den meisten Kontexten auch jenen im Englischen.[16] Die Verwendung von round about im Deutschen ist aus stilistischer Sicht nichtsdestoweniger umstritten, da es zum einen naheliegt, stattdessen Wörter wie „circa“ oder „ungefähr“ zu benutzen, und zum anderen round about im englischen Sprachraum teilweise als umgangssprachlich oder informell gilt.[17] Darüber hinaus führt die Verwechslung mit roundabout häufig zur falschen Annahme, der Sprecher bzw. Autor habe das Wort falsch verwendet.
Bewertung
Im sprachpolitischen und besonders im sprachkritischen Diskurs werden Scheinanglizismen oft als Beleg für eine Bedrohung der deutschen Sprache durch angloamerikanischen Einfluss angeführt (siehe auch Denglisch, Sprachpflege). Die Ästhetik des Ausdrucks und die kulturelle Eigenständigkeit des Deutschen leide unter der Verwendung von Anglizismen und Scheinanglizismen.
Von anderer Seite wird die Bildung von Scheinanglizismen als Zeichen der Lebendigkeit der Sprache und ihrer Fähigkeit gesehen, die expressiven Möglichkeiten durch kreative Nutzung fremder Einflüsse zu erweitern. Zudem seien viele Anglizismen und Scheinanglizismen Modewörter und verschwänden mit dem Abebben der Mode wieder aus dem Sprachgebrauch.[18]
Literatur
- Petra Braselmann: Anglizismen. In: Ingo Kolboom, Thomas Kotschi, Edward Reichel (Hrsg.): Handbuch Französisch. Sprache, Literatur, Kultur, Gesellschaft. Schmidt, Berlin 2002, S. 204–208, ISBN 978-3-503-06126-6; N.A.: 2008, ISBN 978-3-503-09830-9.
- Joachim Grzega: Zu den pseudo-englischen Fremdwörtern im Deutschen (und zum Einfluss des Englischen auf das Deutsche generell). In: Joachim Grzega: Sprachwissenschaft ohne Fachchinesisch. 7 aktuelle Studien für alle Sprachinteressierten. Shaker, Aachen 2001, S. 57–70, ISBN 978-3-8265-8826-6.
- Ageliki Ikonomidis: Anglizismen auf gut Deutsch: Ein Leitfaden zur Verwendung von Anglizismen in deutschen Texten. Buske, Hamburg 2009, ISBN 3-87548-560-2.
- Alexander Onysko: Anglicisms in German: Borrowing, Lexical Productivity, and Written Codeswitching (= Linguistik: Impulse & Tendenzen. Nr. 23). Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-019946-8, Kapitel 4: Pseudo anglicisms and hybrid anglicisms (englisch).
Weblinks
- Robbin D. Knapp: Erfundene englische Wörter im Deutschen. In: Robb: Menschliche Sprachen.
- Beliebter Anglizismus. Wo das Homeoffice zu Hause ist, von Katja Scholtz, FAZ 18. April 2020
Einzelnachweise
- Definition nach Alexander Onysko: Anglicisms in German: Borrowing, Lexical Productivity, and Written Codeswitching (= Linguistik: Impulse & Tendenzen. Nr. 23). Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-019946-8, Kapitel 4: Pseudo anglicisms and hybrid anglicisms (englisch).
- Joachim Grzega: Introduction to linguistics from a global perspective. An alternative approach to language and languages (= Lincom coursebooks in linguistics, 19). Lincom Europa, München 2011, S. 45.
- Christian Lehmann: Sprachwandel: Scheinanglizismus.
- Typisch Englisch? Denglische Wörter, die nur Deutsche verstehen, spotlight-online.de
- Or drive in, in a Beamer or a Merc. Abgerufen am 9. Juli 2021.
- Patent DE60209900T2: Verbessertes Verfahren und System zum Herstellen von Reifenkorden. Angemeldet am 20. Mai 2002, veröffentlicht am 5. Oktober 2006, Anmelder: Performance Fibres Inc, Erfinder: Harvey Rowan (Seite 4, Abschnitt 0025: „Die so hergestellten Fäden werden für den Transport zu einem Abnehmer typischerweise über einen Kettenanschärer (beamer) oder eine Kettenschärmaschine (warper) beim Umschlagvorgang 14 gespult oder gespindelt …“).
- https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/35GBLTSELQLFLAP5UBDGNPFSKSSUOC6U: Kettenschermaschine zum Aufwickeln der durchgezogenen Fäden
- de.pons.eu – Stichwort „Beamer“
- de.pons.eu – Stichwort „Oldtimer“
- Katja Scholtz: Beliebter Anglizismus: Wo das Homeoffice zu Hause ist. In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 22. April 2020]).
- FAZnet Börsenlexikon, Stichwort: Cornern
- Evergreen, filmlexikon.uni-kiel.de
- David Eisermann, Sprachbar: Englisch, wie es nur die Deutschen kennen, dw.com, 22. Mai 2007
- Robert J. Baumgardner: The Englishization of Spanish in Mexico. In: Paul Bruthiaux (Hrsg.): Multilingual Matters 133: Directions in Applied Linguistics. 2005, ISBN 978-1-85359-849-4, S. 241 (englisch, auf Google Books).
- Vocabolario – autostòp. www.treccani.it, abgerufen am 30. Mai 2015 (italienisch, „Termine di uso internazionale (non però nel mondo anglosassone) …“).
- round about | Definition of round about in English by Oxford Dictionaries. Abgerufen am 12. Mai 2019.
- Round about definition and meaning | Collins English Dictionary. Abgerufen am 12. Mai 2019 (englisch).
- Chris Melzer/DPA: Wenn Deutsche Englisch erfinden: Das Handy müsste Händy heißen. Stern, 2. Januar 2014, abgerufen am 9. Februar 2015.