Martini (Automobilfabrik)
Martini (1897–1934) war die bedeutendste und erfolgreichste schweizerische Personenwagenfabrik.[1] In den 37 Jahren ihres Bestehens wurden rund 3.500 Fahrzeuge hergestellt.[2]
Der Betrieb ging aus der von dem Schweizer Konstrukteur und Erfinder Friedrich von Martini 1860 in Frauenfeld, Kanton Thurgau, gegründeten Maschinenfabrik F. Martini & Co. hervor, ein Unternehmen, das anfangs Buchbinde- und Stickmaschinen,[3] ab 1869 hauptsächlich Gewehre Martini-Henry-Gewehr herstellte. Am 1. Juli 1897 wird die Firma als Aktiengesellschaft vormals F. Martini & Co. eingetragen.
Geschichte
Adolf und Max von Martini, die Söhne Friedrich von Martinis, brachten ab 1897 in rascher Folge Personenwagen auf den Markt. Ihr erstes eigenes Modell, ein offener Motorwagen mit Zweizylinder-Heckmotor, der noch stark an Konstruktionen von Carl Benz erinnerte, wurde bereits 1898 verbessert. 1899 folgte Typ 3 mit Frontmotor. 1901 entwickelten sie Typ 4, ein Auto mit 10 PS, das auch als Basis für einen ersten Lastwagen diente. 1902 hatten sie zwei neue V-Vierzylinder mit 10 und 16 PS im Programm und gingen im gleichen Jahr eine Lizenzvereinbarung mit dem französischen Hersteller Rochet-Schneider ein, dessen an den Mercedes-Simplex angelehntes 14/18-PS-Modell sie nachbauten. Der starke Absatz dieser Wagen ermutigte zur Ausweitung der Produktionskapazitäten.[4]
Zu diesem Zweck errichtete man 1903 in Saint-Blaise bei Neuchâtel eine moderne Fabrikanlage. Für die rasch wachsende Belegschaft baute man nahe dem Werk eine Siedlung zweistöckiger Häuser mit Gärten, die als denkmalgeschützte "Cité Martini" noch heute bewohnt wird. Die Motoren wurden bis 1917 weiterhin in Frauenfeld hergestellt.[5]
Neues Werk in der Westschweiz
Autorennen und andere sportliche Wettbewerbe spielten bei Martini eine wichtige Rolle bei der Vermarktung der eigenen Produkte. Die als schnell und ausdauernd geltenden Martinis errangen zahlreiche Achtungserfolge und machten die Marke auch im Ausland bekannt. 1905 hatte man schon eine ansehnliche Modellpalette im Angebot: 4-Zylinder-Maschinen in Stärken von 16, 20, 25 und 40 PS in mehreren Aufbauvarianten, vom reinen Chassis bis zu fertig karossierten offenen Phaetons und halb oder ganz geschlossenen Limousinen. Man produzierte nicht nur für den begrenzten heimischen Markt, sondern exportierte nach Frankreich, England, ja bis nach Nord- und Südamerika, Neuseeland, Kanada, Russland und Ägypten. Mit dem englischen Importeur H.H.P. Deasy konnte ein Kapitalgeber gewonnen werden, der durch Aufsehen erregende Aktionen Reklame für die Marke machte.
Deasy unternahm mehrere Rekordfahrten, unter anderem eine Fahrt auf Zahnradbahnschienen die 2045 m hohen Rochers-de-Naye bei Montreux hinauf, eine Strecke von immerhin elf Kilometern bei zum Teil 23 % Steigung, die sein 14 HP Martini schneller zurücklegte, als die Bergbahn selbst.[6] Eine andere Werbeaktion bestand in einer Zuverlässigkeitsfahrt 3.000 km quer durch die Alpen, über 34 Pässe in Frankreich, Italien und der Schweiz und einen Gesamthöhenunterschied von 37.000 Metern hinweg.
Bei einer Wette gegen Rolls-Royce („Battle of the Cylinders“ – 4.000 Meilen / 4-Zylinder-Martini gegen Sechszylinder-Rolls-Royce) unterlag Deasy allerdings.
Erste Krise
Das Jahr 1910 brachte erste Verluste.[7] Zwar wurden insgesamt 260 Wagen hergestellt und über eigene Vertriebsgesellschaften in Paris, Berlin, London, Madrid, Lissabon und in New York verkauft – verdient hatte man dennoch nur wenig, da immer noch in aufwendiger Handarbeit produziert wurde. Hinzu kam der überraschende Konkurs der eigenen Hausbank. Ständig auf der Suche nach neuem Kapital, firmierte Martini mehrmals um, geriet in britische (Martini Automobile Co. Ltd.), französische, dann wieder in Schweizer Hände, wurde schliesslich umgewandelt in Neue Martini Automobilgesellschaft, während Adol und Max von Martini das Unternehmen bereits verlassen hatten.[8]
Bis 1914 wurde eine leicht gestraffte Modellreihe weitergebaut (u. a. drei verschiedene Personen-, zwei Lastkraftwagen und ein kleiner Omnibus). Dabei wurden wieder bescheidene Gewinne erzielt. Während des Ersten Weltkriegs besserte sich die Auftragslage ganz erheblich, und die Jahresproduktion von Martini erreichte 1917 mit annähernd 350 Fahrzeugen den Höhepunkt.
1919 geriet die Firma erneut in heftige Turbulenzen, da Grossserien-Hersteller wie Fiat, Ford oder Citroën sehr viel preisgünstiger anboten. Martini war es in der Zwischenzeit weder gelungen, interessante Neuheiten zu entwickeln, noch seine Produktionsweise zu rationalisieren. Bis 1925 hielt man sich mit einem einzigen Modell über Wasser, dem Tourenwagen TF, einer nur leicht modifizierten Variante des alten 18/24-PS-Vierzylinders aus dem Jahr 1913. Während die meisten ausländischen Mitbewerber bereits doppelt so starke, wesentlich schnellere und komplett karossierte Sechszylinder zu Preisen von 14.000 Franken anboten, verlangte Martini allein für das Chassis seiner veralteten Vierzylinder-Version 17.000 Franken. Das Ende der renommierten Marke schien bereits besiegelt.
Steiger-Martini
1924 trat eine überraschende Wende ein, als es den Brüdern Walther und Robert Steiger gelang, die Aktienmehrheit bei Martini zu übernehmen.[9] Beide stammten aus der Familie von in Ulm ansässigen Schweizer Textilindustriellen (Steiger & Deschler) und verfügten nicht nur über Kapital, sondern auch über Erfahrung im Automobilbau. Walther Steiger, der im württembergischen Burgrieden seit 1920 viel beachtete Personenwagen herstellte, übernahm die technische Leitung bei Martini.
1926 wurde auf dem Genfer Auto-Salon das neu konstruierte Modell Martini-Six, Typ FU vorgestellt, ein komfortabler Tourenwagen mit 3,1-Liter-Sechszylindermotor, der 70 PS (51 kW) leistete. Die grosse, zuverlässige Reiselimousine war über 100 km/h schnell und verfügte über einen elektrischen Anlasser und eine auf alle vier Räder wirkende Unterdruck-Bremshilfe, sowie ein Vakuum-Benzinfördersystem.
Bereits 1927 präsentierte Martini in den Typen FUG und FUS eine neue 4,4-Liter-Sechszylinder-Maschine mit Zenith-Doppelvergaser, Zentralschmierung und Schnellganggetriebe, die zwischen 90 und 100 PS (66 und 73 kW) leistete und selbst die schweren Pullman-Versionen auf bis zu 130 km/h beschleunigte. Neben Coupés und Cabriolets wurden geräumige, vier- bis sechssitzige Limousinen und Landaulets in verschiedenen Ausführungen angeboten. Viele dieser luxuriös ausgestatteten Personenwagen wurden bei Carrosserie Georges Gangloff in Genf karossiert. Mit dem gleichen Motor, auf längerem, verstärktem Unterbau, stellte man zudem eine kleine Serie Lastwagen und Muldenkipper, Lieferwagen und Taxis, Krankenwagen und Omnibusse her.[10]
Export
1928 gründete Martini in München eine Verkaufsniederlassung für Deutschland, wo der Martini-Six unter Nutzung des guten Namens, den sich die Steiger-Automobile erworben hatten, als 17/100-PS-Steiger-Martini angeboten wurde. Als Kühlerfigur diente der vom Steiger her bekannte Steinbock aus dem eigenen Familienwappen.[11]
Motorsport
Nach Jahren der Pause widmete sich die Firma auch wieder der Entwicklung und Pflege spezieller Rennversionen. Mit leistungsstarken, schnellen Tourenwagen und eigens hergestellten Roadstervarianten nahmen Werks- und Privatfahrer an zahlreichen Autorennen teil.[10]
Bekannte Namen wie Monard, Gacon, Caspar, Giger und Berli holten gegen starke internationale Konkurrenz immer wieder erste Ränge für die Schweizer Marke. Geradezu sensationell siegten 1929 gleich vier Martinis beim Internationalen Klausenrennen, der damals härtesten Bergprüfung Europas.
Allmähliches Ende
Trotz grosser Anstrengungen kam man mit der kostspieligen Produktion aber nie in rentable Regionen und erreichte auch die Absatzziele nicht. Die damals eher autofeindlichen Gesetze der Schweiz, zunehmender Konkurrenzdruck aus dem Ausland und die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise trugen das Ihre dazu bei. Auch der Versuch, mit dem 1930–1932 in Lizenz gefertigten deutschen Wanderer-Modell W11 (Martini KM, 6 Zylinder, 50 PS) die Gewinnzone zu erreichen, scheiterte. Das Projekt eines preiswerten, modern konzipierten Fronttrieblers blieb aus finanziellen Gründen bereits in der Planungsphase stecken.[12]
Von 1932 bis 1934 baute eine stark reduzierte Belegschaft noch einige Dutzend der überarbeiteten, grossen 4,4-Liter-Limousinen (nun als Martini NF) weiter. Mit einer Leistung von 95 PS, synchronisiertem 4-Gang-Getriebe, Niederrahmenkonstruktion, Lockheed-Bremsen und hydraulischen Stossdämpfern stellte der NF „ein modernes und luxuriöses Fahrzeug dar, das durch seine hervorragende Qualität ganz fraglos zur Weltextraklasse zählt“.[12] Aber auch dieses Modell konnte die Firma nicht mehr retten. Am 12. Juni 1934 wurden die Werkstore für immer geschlossen.
Circa 20 in verschiedenen Museen und Privatsammlungen verbliebene, exzellent erhaltene Martini-Wagen zeugen bis heute vom hohen Standard dieser einst berühmten Schweizer Marke.
Die wichtigsten Modelle
Typ | Bauzeit | Zylinder | Hubraum | Leistung | Vmax |
---|---|---|---|---|---|
Martini 20/24 HP | 1903–1905 | 4 V | 4712 cm³ | 24 PS (17 kW) | 50 km/h |
Martini GA | 1912 | 4 | 2412 cm³ | 12 PS (9 kW) | 60 km/h |
Martini TF | 1919–1925 | 4 in Reihe | 3815 cm³ | 35–45 PS (26–33 kW) | 90 km/h |
Martini FU / FUN | 1927–1931 | 6 in Reihe | 3097 cm³ | 55–70 PS (40–51 kW) | 100 km/h |
Martini FUG/FUS/FN | 1927–1931 | 6 in Reihe | 4379 cm³ | 70–90 PS (51–66 kW) | 120 km/h |
Martini KM | 1930–1932 | 6 in Reihe | 2540 cm³ | 50 PS (37 kW) | 100 km/h |
Martini NF | 1932–1934 | 6 in Reihe | 4379 cm³ | 95–100 PS (70–73 kW) | 130 km/h |
Literatur
- Hans Heinrich von Fersen, u. a.: Klassische Wagen 1919–1939, Köln 1994. ISBN 3-8228-8944-X.
- Raynald G. Friedli: Automobiles Martini – St.Blaise (Suisse), St-Blaise NE, 1993 (französisch).
- Ferdinand Hediger: Oldtimer – Interessante Automobile von 1885-1939, 3. Auflage Bern 1982. ISBN 3-444-50134-X.
- Ferdinand Hediger: Martini – The best Mountain Climber in Automobile Quarterly, Vol.m 42 Nr.1, 2002 S. 28–41 (englisch).
- Ernest Schmid: Schweizer Autos. Die schweizerische Automobilkonstruktion von 1868 bis heute, 2. Auflage Lausanne 1978.
- Ernest Schmid: Musée de l'automobile, Martigny 1988 (französisch).
Weblinks
- Captain Deasy's Daring Drive (fr, PDF-Datei; 197 kB)
- Klausenrennen Ranking 1929. klausenrennen.com, abgerufen am 29. April 2013.
- Internationales Klausenrennen 1929. Chirons neuer Klausenrekord 16:42,4. In: www-lenya.nzz.ch. Archiviert vom Original am 13. August 2007; abgerufen am 29. April 2013.
- Francois de Dardel: Les automobiles Martini Historie und zahlreiche Bilder.
- Musée de l'automobile in Martigny, zeigt u. a. fünf Martinis.
Einzelnachweise
- Ferdinand Hediger: Oldtimer - Interessante Automobile von 1885-1939, 3. Auflage Bern 1982. ISBN 3-444-50134-X, S. 70.
- Ernest Schmid: Schweizer Autos. Die schweizerische Automobilkonstruktion von 1868 bis heute, 2. Auflage Lausanne 1978, S. 116.
- Friedrich Kick: Notizen über die schweizerische Landesausstellung. In: Polytechnisches Journal. Band 249, 1883, S. 49–59 (hu-berlin.de [abgerufen am 29. Dezember 2020]).
- Ferdinand Hediger: Martini - The best Mountain Climber in Automobile Quarterly, Vol. 42 Nr.1, 2002, S. 31.
- Ernest Schmid: Musée de l'automobile, Martigny 1988, S. 171.
- Ernest Schmid: Schweizer Autos. Die schweizerische Automobilkonstruktion von 1868 bis heute, 2. Auflage Lausanne 1978, S. 109. H.H.P. Deasys Schienenfahrt wurde von zwei Kameramännern der British Mutoscope & Biograph Company festgehalten und liegt als "Captain Deasy's Daring Drive" (70 mm / GB 1903) im National Film & Television Archive in London.
- Ernest Schmid: Musée de l'automobile, Martigny 1988, S. 175.
- Ferdinand Hediger: Martini - The best Mountain Climber in Automobile Quarterly, Vol. 42 Nr.1, 2002, S. 36.
- Ernest Schmid: Musée de l'automobile, Martigny 1988, S. 176
- Ferdinand Hediger: Martini - The best Mountain Climber in Automobile Quarterly, Vol. 42 Nr.1, 2002, S. 40.
- Hans Heinrich von Fersen, u. a.: Klassische Wagen 1919–1939, Köln 1994. ISBN 3-8228-8944-X, S. 243. Der deutsche Prospekt warb mit einem in Neuchâtel fotografierten offenen Martini-Tourer, der – mit "Steiger"-Schriftzug am Kühler – vor einen Hintergrund mit dem Ulmer Münster einkopiert wurde.
- Hans Heinrich von Fersen, u. a.: Klassische Wagen 1919–1939, Köln 1994. ISBN 3-8228-8944-X, S. 244.