Kestner Gesellschaft
Die Kestner Gesellschaft ist ein seit 1916 bestehender Kunstverein in Hannover und Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine. Die Kestner Gesellschaft ist zu unterscheiden von dem ebenfalls in Hannover beheimateten kulturhistorischen Museum August Kestner. Beide hannoversche Institutionen sind nach August Kestner (1777–1853) benannt, der sich um das Kunst- und Kulturleben der Stadt verdient gemacht hatte.
Geschichte
Gründung 1916 und erste Jahre
Die Gesellschaft wurde am 31. August 1916 in den wirtschaftlich schwierigen Jahren des Ersten Weltkriegs gegründet.[1] Zu den Gründungsmitgliedern gehörte der Sanitätsrat und Kunstliebhaber Leo Catzenstein.[2] Die Gründung erfolgte zusammen mit der Hannoverschen Sezession zur Belebung des Kunstlebens. Gründungsanlass war das als „stocksteif“ kritisierte kulturelle Klima der Provinzstadt Hannover, in welcher der Stadtdirektor unabhängige Ausstellungsmöglichkeiten, insbesondere für zeitgenössische Kunst, verhinderte. Daraufhin hatten der Direktor des Kestner-Museums und Direktor der Städtischen Galerie Brinckmann in Gemeinschaft mit dem Maler und Direktor der Kunstgewerbeschule Wilhelm von Debschitz beschlossen, einen neuen Verein ins Leben zu rufen. Das Anliegen war, international wichtige Künstler mit ihren aktuellen Werken nach Hannover zu holen. Der erste Direktor der Räume in der Königstraße war Paul Erich Küppers (1890–1922).[3] Zu den Gründern gehörten neben dem Fabrikanten Hermann Bahlsen und dem Verleger August Madsack auch der Inhaber der Pelikanwerke Fritz Beindorff. In der ersten Ausstellung wurden neue Bilder von Max Liebermann gezeigt.
Nach dem Ersten Weltkrieg stellte die Schauburg ihre Bühne zwischen Dezember 1919 und April 1920 der Kestner Gesellschaft „für einige mutige Theater-Experimente zur Verfügung“.[4][5] Unter Eckart von Sydow, dem zweiten Direktor nach Küppers frühem Tod, erhielt El Lissitzky im Jahr 1923 eine erste Ausstellung und den Auftrag, eine Mappe mit Lithografien als Jahresgabe für die Mitglieder zu entwerfen. Es entstand die sogenannte Proun-Mappe. Im selben Jahr wurden noch fünf weitere Mappen von Karl Schmidt-Rottluff, Max Kaus, Martel Schwichtenberg, Willy Robert Huth und László Moholy-Nagy aufgelegt.[6] Der Verein hatte unter der Leitung von Alexander Dorner und Justus Bier seine Blüte als Wegbereiter zur modernen Kunst.
Schließung 1936
Im Jahr 1936 drängten die Nationalsozialisten auf die Entlassung des Direktors Justus Bier, weil er jüdischer Herkunft war. Der Vorstand der Kestner Gesellschaft lehnte eine Kollaboration jedoch ab und entschied sich stattdessen 1936 zur Schließung. Justus Bier konnte über die Schweiz in die USA fliehen.[7]
Neugründung Warmbüchenstraße 1948
Nachdem die Kestner Gesellschaft 1936 ihren Betrieb eingestellt hatte, erfolgte die Neugründung 1948 in der Warmbüchenstraße. Dabei übernahm Alfred Hentzen die Direktion, von 1955 bis 1962 Werner Schmalenbach. Unterstützer waren unter anderem (erneut) Hermann Bahlsen, Wilhelm Stichweh, Bernhard Sprengel und Günther Beindorff, der Direktor der Pelikan-Werke. Von 1963 bis 1973 war Wieland Schmied der Leiter des Hauses, ab 1974 Carl Haenlein. Unter seiner Direktion bezog die Kestner Gesellschaft 1997 das neue Haus in der Goseriede.
Goseriede 1997
1997 bezog die Kestner Gesellschaft nach einem Umbau das ehemalige Goseriedebad am Steintor.[8] Das Bad war 1902–1905 vom Stadtbaurat und späteren Abgeordneten des Provinziallandtages Carl Wolff als ein im Jugendstil gestaltetes Hallenbad erbaut worden. 1990 erwarb die Verlagsgesellschaft Madsack[9] das Gebäude und bot Teile (das ehemalige Damenbad und die Eingangshalle mit sämtlichen Nebenräumen) der Kestner Gesellschaft zur Nutzung an. Das Herrenschwimmbad wurde vom Rundfunksender Radio ffn übernommen. Nach einem international besetzten Architektenwettbewerb mit Unterstützung der NORD/LB und der Stiftung Niedersachsen wurde das Haus von den hannoverschen Architekten Kai-Michael Koch, Anne Panse und Andreas Christian Hühn in Zusammenarbeit mit der Kestner Gesellschaft bis 1997 umgebaut und im selben Jahr mit dem BDA-Preis ausgezeichnet. Es verfügt mit fünf Hallen auf zwei Ebenen über insgesamt 1500 m² Ausstellungsfläche, eine Bibliothek, eine Buchhandlung und ein Bistro-Restaurant.[10] Im Gegensatz zum Vorgängerhaus genügt es den Anforderungen eines modernen Ausstellungsbetriebes.[9] Der Standort ist unmittelbar neben dem Anzeigerhochhaus.
Zum Vorstand und zum Kuratorium gehören namhafte Vertreter der Wirtschaft. Der Kunstverein ist mit etwa 3.500 Mitgliedern (2012) einer der größten und renommiertesten in Deutschland.[11] Für besonderes Aufsehen sorgte 2005 das Projekt Haus im Schlamm des spanischen Künstlers Santiago Sierra, bei dem ein begehbarer Raum mit Schlamm an den Bau des Maschsees erinnern sollte. 2007 kooperierten die hannoverschen Ausstellungshäuser Kestnergesellschaft, Kunstverein Hannover und Sprengel Museum Hannover bei der Ausstellung Made in Germany erstmals und zeigten parallel zur documenta eine Überblicksschau zur jungen zeitgenössischen Kunst von in Deutschland lebenden Künstlern. Über 60.000 Interessierte besuchten die Ausstellung, die von Mai bis August 2012 stattfand.[12][13] Die dritte Auflage der Kooperationsausstellung richtet sich 2017 erstmals thematisch aus und legt den Schwerpunkt auf die Produktion von Kunst und die Produktionsbedingungen in Deutschland.
Als Direktor war von 2003 bis 2014 Veit Görner bestellt. Zuvor hatte dieser bereits als Kurator am Kunstmuseum Wolfsburg und als Direktor des Künstlerhauses Stuttgart gearbeitet.[14]
Als erste Frau in der Geschichte des Hauses leitete Christina Végh von 2015 bis 2019 die Kestner Gesellschaft. Die Kunsthistorikerin war von 2000 bis 2004 am Kunstmuseum Basel als Kuratorin tätig, von 2004 bis 2014 führte sie als Direktorin den Bonner Kunstverein. 2016 beging die Kestner Gesellschaft ihr 100-jähriges Jubiläum.[15] Das Jubiläum stand ganz unter dem Motto „Stellung nehmen“ und wurde mit zwei Ausstellungen und zahlreichen Veranstaltungen und einem Jubiläumswochenende gefeiert. Ende 2019 verließ Christina Végh die Kestner Gesellschaft und übernahm 2020 als Direktorin die Kunsthalle Bielefeld. Seit November 2020 ist Adam Budak der Direktor der Kestner Gesellschaft.
Ausgestellte Künstler (Auswahl)
Zu den Künstlern, die in der mehr als 100-jährigen Geschichte in der Kestner Gesellschaft ausgestellt wurden, zählen namhafte Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts:
- Ernst Oppler (1917)
- Paul Klee (1919)
- Wassily Kandinsky (1923)
- El Lissitzky (1923)
- Kurt Schwitters (1924)
- Emil Nolde (1934, 1948)
- Joan Miró (1952, 1956, 1989)
- Jean Dubuffet (1960)
- Marcel Duchamp (1965)
- Pablo Picasso (1973, 1993)
- Alfred Hrdlicka (1974)
- Georg Baselitz (1987)
- Joseph Beuys (1975, 1990)
- Wolf Vostell (1977)
- Eva Hesse (1979)
- Andy Warhol (1981 – erste Retrospektive in Deutschland, 2001)
- Richard Hamilton (1990)
- Richard Prince (1991)
- Jannis Kounellis (1991)
- Robert Wilson (1991)
- Louise Bourgeois (1994)
- Rebecca Horn (1978, 1991, 1997)
- Antoni Tàpies (1962, 1998)
- Jonathan Meese (2002)
- Maria Lassnig (2002)
- Thomas Ruff (2003)
- Chris Cunningham (2004)
- Peter Doig (2004)
- Santiago Sierra (2005)
- Thomas Hirschhorn (2006)
- Bettina Rheims (2008)
- Nathalie Djurberg (2010)
- André Butzer (2011)
- David LaChapelle (2011)
- Daniel Richter (2011)
- Alex Katz (2011/12)
- Andy Hope 1930 (2012)
- Monika Baer (2016)
- Annette Kelm (2017)
- Guerrilla Girls (2018)
- Christa Dichgans (2018)
- Christopher Williams (2018)
- Roman Signer (2018)
- Walter Dahn (2019)
- Goshka Macuga (2019)
- John Baldessari (2019)
- Judy Chicago (2019)
- Miriam Schapiro (2019)
Kestnerchronik
Die Geschichte der Kestner Gesellschaft ist in einer dreibändigen Chronik festgehalten. Die Chronikbände 1 bis 3 dokumentieren die fast 100 Jahre Kestner-Historie von 1916 bis 2011. Bereits 1966 hatte der damalige Direktor Wieland Schmied mit der umfassenden Dokumentation Wegbereiter zur modernen Kunst einen Überblick über die ersten fünfzig Jahre der Kestner Gesellschaft geliefert. An die Tradition dieses lange vergriffenen Standardwerkes schließt die neue Chronikreihe an. Das erste Buch, erschienen im Jahr 2006, erzählt die Geschichte der Kestner Gesellschaft von ihrer Gründung 1916 in der Königstraße bis zu ihrer Schließung auf Druck der Nationalsozialisten im Jahr 1936. Buch 2 der Chronik aus dem Jahr 2009 setzt nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Wiederaufbau der Kestner Gesellschaft in der Warmbüchenstraße ein. Der dritte und vorläufig letzte Band schließlich dokumentiert die Zeit ab 1997 im aktuellen Domizil der Kestner Gesellschaft an der Goseriede 11. Zahlreiche Fotografien von Künstlern und Kunstwerken, Abbildungen von historischen Dokumenten und ausführliche Texte zu Ausstellungen und Veranstaltungen illustrieren die erfolgreiche Arbeit und ereignisreiche Geschichte der Kestnergesellschaft. Mit der Chronik erhält der Leser nicht nur einen Einblick hinter die Kulissen eines der renommiertesten Kunstvereine Deutschlands, sondern zugleich einen Überblick über die wichtigsten Eckdaten internationaler zeitgenössischer Kunst.
Kestnereditionen
Die Kestnereditionen erscheinen seit 2003 regelmäßig zu jeder Ausstellung. Grafik, Fotografie oder andere Arbeiten werden exklusiv für die Mitglieder der Kestner Gesellschaft in geringer Auflage und zu einem günstigen Preis angeboten.
Literatur
- Wieland Schmied: Wegbereiter zur modernen Kunst – 50 Jahre Kestner-Gesellschaft. Hannover 1966.
- Ines Katenhusen: Kunst und Politik. Hannovers Auseinandersetzungen mit der Moderne in der Weimarer Republik. Hahn, Hannover 1998, ISBN 3-7752-4955-9, S. 242ff.
- Veit Görner: Kestnerchronik. Buch 1, Hannover 2006, Buch 2, Hannover 2009.
- Ines Katenhusen: Kestner-Gesellschaft, kestnergesellschaft. In: Klaus Mlynek, Waldemar R. Röhrbein (Hrsg.) u. a.: Stadtlexikon Hannover. Von den Anfängen bis in die Gegenwart. Schlütersche, Hannover 2009, ISBN 978-3-89993-662-9, S. 345 f.
- Helmut Knocke, Hugo Thielen: Kestnergesellschaft. In: Hannover Kunst- und Kultur-Lexikon, S. 126 u. ö.
- Ines Katenhusen: Beindorff, Bier, Bode. Zur Geschichte der Kestner-Gesellschaft im Nationalsozialismus. In: Hannoversche Geschichtsblätter, N.F. 74 (2020), S. 213–221.
Weblinks
Einzelnachweise
- Ines Katenhusen: Kestner-Gesellschaft, kestnergesellschaft (siehe Literatur)
- Peter Schulze: Catzenstein, Leo. In: Dirk Böttcher, Klaus Mlynek, Waldemar R. Röhrbein, Hugo Thielen: Hannoversches Biographisches Lexikon. Von den Anfängen bis in die Gegenwart. Schlütersche, Hannover 2002, ISBN 3-87706-706-9, S. 84; online über Google-Bücher
- Elke von Radziewsky: Alchimie im Damenbad – Im altneuen Haus mit Rebecca Horn: Die Kestner-Gesellschaft in Hannover im dritten Stadium. In: Die Zeit. 23. Mai 1997, abgerufen am 21. Juni 2008.
- Klaus Mlynek: Schauburg. In: Geschichte der Stadt Hannover, Band 2, Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, mit Beiträgen von Dieter Brosius, Klaus Mlynek und Waldemar R. Röhrbein, Schlütersche, Hannover 1994, ISBN 3-87706-364-0, S. 469 f., 571.
- Ines Katenhusen: Kunst und Politik. 1998, S. 266.
- 1923. Die Mappen der Kestner-Gesellschaft. (Kaus, Lissitzky, Moholy-Nagy, Schmidt-Rottluff und Schwichtenberg) 9. April 2008 bis 29. Juni 2008. In: artmap. Sprengel Museum, abgerufen am 22. Oktober 2019.
- Harald Fricke: Im Palast der Fantasie Die Kestner-Gesellschaft in Hannover begeht ihr 75-jähriges Jubiläum [...] Der Kunstauffassung der Nazis hatte der Verein sich in den Dreißigerjahren verweigert. In: taz.de, 24. August 2002.
- Geschichte: Umzug in die Goseriede. In: Website der Kestner Gesellschaft. Abgerufen am 22. Oktober 2019.
- Geschichte des Goseriedebades. (Nicht mehr online verfügbar.) In: Website der Kestner Gesellschaft. Archiviert vom Original am 4. November 2008; abgerufen am 22. Oktober 2019.
- Martin Tschechne, Dieter Leistner: Und wann kommt Leonardo ins Damenbad? In: art – Das Kunstmagazin. Mai 1997, archiviert vom Original am 14. Dezember 2013; abgerufen am 29. Juni 2008 (Heftarchiv, Ausgabe 5/1997, S. 36–39).
- Kestnergesellschaft stellt dritte Chronik vor. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung. 26. Juli 2012, abgerufen am 23. Januar 2020.
- MADE IN GERMANY ZWEI. Sprengel Museum Hannover, Kestnergesellschaft und Kunstverein Hannover, 19. August 2012, abgerufen am 23. Januar 2020.
- Ingeborg Wiensowski: Kunstschau "Made in Germany Zwei" – Und wo geht's um die heiße Ware? In: Der Spiegel. 15. Mai 2012, abgerufen am 27. Juli 2012.
- Joachim Güntner: Ende einer Ära. In: Neue Zürcher Zeitung. 20. Juni 2002, abgerufen am 21. Juni 2008 (Neuer Direktor für Kestner-Gesellschaft).
- Wo geht’s hier zur Avantgarde? In: FAZ, 16. August 2016, S. 13.