Kanon (Bibel)
Der Kanon der Bibel, genannt auch Bibelkanon und Kanon der Heiligen Schrift, ist jene Reihe von Büchern, die das Judentum und das Christentum als Bestandteile ihrer Bibel festgelegt (kanonisiert) und so zum Maßstab (Kanon) ihrer Religionsausübung gemacht haben.
Im Judentum wurde zuerst die Tora, die fünf Bücher Mose, zur normativen Heiligen Schrift (ca. 800–250 v. Chr.), der weitere prophetische und weisheitliche Schriften zur Seite gestellt wurden. Etwa 100 n. Chr. wurde endgültig festgelegt, welche hebräischen Schriften zum dreiteiligen Tanach gehören. Da das Judentum keine oberste Lehrautorität kennt, blieben griechisch übersetzte Bibelversionen neben dem Tanach bestehen.
Die Alte Kirche übernahm alle Schriften des Tanach und stellte sie als Altes Testament (AT) dem Neuen Testament (NT) voran, das um 400 endgültig kanonisiert wurde. Damit bestätigte sie die bleibende Geltung der jüdischen Bibel für den christlichen Glauben. Die Römisch-katholische Kirche und Orthodoxe Kirchen übernahmen zudem weitere Bücher aus der griechischen Septuaginta in ihr AT. Die Lutherbibel begrenzte das AT auf jene 39 Bücher, deren hebräische Texte in anderer Anordnung auch im Tanach kanonisiert sind.
Begriff
Das griechische Lehnwort κανών (kanon) geht auf das hebräische קָנֶה (qaneh, vgl. Ez 40,3 ) zurück und bezeichnet ursprünglich ein Holz- oder Bambusrohr, das im Bauhandwerk als Messlatte, Lineal, Richtscheit oder Waagebalken verwendet wurde. Es benannte im Hellenismus auch einen ethischen Maßstab, eine Richtschnur, Regel oder Vorschrift für eine Erkenntnis, ein Urteil oder Verhalten.
In diesem Sinn einer handlungsleitenden Norm erscheint es viermal im NT (2 Kor 10,13.15.16 ; Gal 6,16 ). Schriften christlicher Theologen verbinden es seit etwa 150 mit Begriffen wie Wahrheit, Glauben und Kirche (lateinisch: regula veritatis/fidei/ecclesiae) und beziehen es zur Abgrenzung von Häresien auf Teile oder die Gesamtheit der in der Kirche anerkannten Glaubens- und Lehrtradition.
Dabei bezeichnete der Ausdruck sowohl einen inhaltlichen Wahrheitsanspruch als Norm dieser Tradition als auch ihren äußeren Umfang als Katalog oder Liste maßgebender Dokumente:
„Der Kanon ist die Norm, nach der alles in der Kirche sich richtet; kanonisieren heißt: als Bestandteil dieser Norm anerkennen.“
Erst seit etwa 350 bezogen christliche Theologen den Kanonbegriff auf alle in der Kirche anerkannten heiligen Schriften, also auf ihre Bibel. Bis dahin hießen die im Judentum und Christentum als normativ anerkannten Glaubensdokumente übereinstimmend Schrift, Schriften, Weisung (hebr. tora) bzw. Gesetz (griech. nómos).[2]
Tanach
Die jüdische, überwiegend auf Hebräisch abgefasste Bibel entstand als fortlaufende Sammlung zuerst mündlicher Überlieferungen, die dann verschriftet, in größere Komplexe eingebaut, vielfach überarbeitet, als Wort Gottes und Zeugnis davon weitergegeben und weiter gedeutet wurden. Besonders in den als Gottes Offenbarung geltenden Rechtstraditionen lag der Anstoß sowohl zu einer ständigen Auslegung und Überarbeitung für die eigene Zeit als auch zur verbindlichen Verschriftung, wortgetreuen Abschrift und abschließenden Festlegung.
Das Deuteronomium, Devarim, hebräisch: „Worte“, deszitiert, ergänzt und aktualisiert ältere Gesetzeskorpora, autorisiert sie als große Moserede und gab ihnen damit für alle Israeliten kanonischen Rang. Eine Vorform des Deuteronomiums legitimierte Josias Kultzentralisation (um 622 v. Chr.). Die feierliche Verlesung der Tora nach dem Wiederaufbau des Tempels (ab 539 v. Chr.; Neh 8,1) setzt ihre kanonische Geltung für das Judentum voraus. Abgeschlossen war sie spätestens mit dem Beginn ihrer griechischen Übersetzung (um 250 v. Chr.). Sie blieb auch für die Samaritaner, die sich vom Jerusalemer Tempelkult trennten, die alleingültige Heilige Schrift: Daraus entstand ihr Samaritanischer Pentateuch.
Um 200 v. Chr. war auch die Sammlung der Prophetenbücher abgeschlossen, die der Tora als zweiter Hauptteil der jüdischen Bibel nachgeordnet wurden. Sie sind in den Schriftrollen vom Toten Meer (entstanden zwischen 200 v. und 40 n. Chr.) als bekannt vorausgesetzt und großenteils in Handschriften überliefert und kommentiert.
Um 96 nannte Flavius Josephus 22 Bücher der heutigen jüdischen Bibel, wobei er vier davon – vermutlich die Psalmen, Sprüche Salomos, Prediger (Kohelet) und Hoheslied – den nichtprophetischen Schriften zuordnete. Etwa gleichzeitig nannte das 4. Buch Esra (14,18–48) 24 von Esra diktierte, verbalinspirierte heilige Schriften.
Der Umfang des dritten Teils blieb im Judentum umstritten; bei einer Zusammenkunft seiner wichtigsten Vertreter in Jawne (um 100) soll er festgelegt worden sein. Dabei wurden die Megillot (Hoheslied, Ruth, Klagelieder, Prediger, Ester) sowie das lange umstrittene Buch Daniel, Esra, Nehemia und die beiden Chronikbücher in ihn aufgenommen, nicht aber eine Reihe griechischer Schriften, die Eingang in die Septuaginta fanden: darunter Jesus Sirach und die Makkabäerbücher. Diskussionen der Rabbiner über die Zugehörigkeit des Predigerbuchs und des Hohenliedes dauerten laut der Mischna (mJad 3,5) auch nach 100 an.[3]
In der jüdischen Diaspora wurden oft auch bei der Kanonisierung des Tanach ausgeschlossene Schriften aus der Septuaginta verlesen. Diese wurde ab etwa 400 der christlichen Aneignung überlassen. Neue Übersetzungen des Tanachs ins Griechische von Aquila, Symmachus dem Ebioniten oder Theodotion konnten sich im rabbinischen Judentum nicht durchsetzen.
Altes Testament
Marcion wollte die jüdische Bibel um 150 aus der christlichen Bibel ausschließen und nur ein vom Judentum „gereinigtes“, reduziertes NT anerkennen. Demgegenüber behielten die Kirchenväter die jüdischen heiligen Schriften als gültigen ersten Teil des christlichen Bibelkanons bei.[5] Bei den Kirchenvätern finden sich gelegentlich auch Bezugnahmen auf die sogenannten „deuterokanonischen“ Schriften, die in Septuaginta-Handschriften enthalten sind, ohne von Rabbinern anerkannt worden zu sein.
Melito von Sardes übersetzte den griechischen Ausdruck palaia diathēkē – „Alter Bund“ (2 Kor 3,14) um 170 auf Lateinisch erstmals mit vetus testamentum („Altes Testament“) und bezog ihn auf sämtliche ihm bekannten heiligen jüdischen Schriften. Seine Liste davon umfasste alle Schriften des Tanach außer dem Buch Ester. Er stellte diese Liste laut Eusebius von Caesarea nach einer eigens dazu unternommenen Forschungsreise nach Palästina auf.[6] Auch Origenes kannte den Kanon des Tanach, bezeichnete die Makkabäerbücher und das Henochbuch als nicht dazugehörig und die nicht öffentlich gebrauchten Zusatzschriften als apokryph („verborgen“). Für Hieronymus war der Tanach 393 vom Heiligen Geist inspirierte hebraica veritas („hebräische Wahrheit“).
Die Bischofssynoden von Rom (382), Hippo (393) und Karthago (397, 419) schlossen jedoch auch die Bücher Judit, Tobit, Weisheit Salomos, 1. und 2. Makkabäer, Jesus Sirach, Baruch mit dem Jeremia und griechische Zusätze zu Ester und Daniel in den Kanon des AT ein. Sie folgten damit den mehrheitlich aus Heidenchristen bestehenden Gemeinden des Mittelmeerraums außerhalb Palästinas, in deren Gottesdiensten griechische Septuagintatexte verlesen wurden.
Tabelle von Tanach und AT
Tanach
Synode von Javne (ca. 100) |
Septuaginta
Alte Kirche (ca. 400) |
AT römisch-katholisch
Vulgata (Trient 1546) |
AT orthodox
Synode von Jerusalem (1672) |
AT evangelisch
Lutherbibel (1534) |
---|---|---|---|---|
kursiv: Pseudepigraphen | kursiv: Deuterokanonische | kursiv: Anaginoskomena | ||
Tora | Pentateuch | Fünf Bücher Moses | ||
Bereschit (בְּרֵאשִׁית) |
Gen = Genesis |
1. Buch Mose 2. Buch Mose 3. Buch Mose 4. Buch Mose 5. Buch Mose | ||
Nevi’im (Propheten) | Geschichtsbücher | |||
Vordere Propheten
Hintere Propheten
|
Josua
1. Buch der König(reich)e (1Sam) 1. Buch Paralipomenon (1Chr) 1. Buch Esdras (3Esra) Ester (mit Zusätzen) 1. Buch der Makkabäer |
Josua | ||
1 Esra (Esra) |
1. Esdras (3Esra) |
Esra | ||
Ketuvim (Schriften) | Bücher der Weisheit | Dichtung / Lehrbücher | ||
Psalmen |
Psalmen (mit Ps 151) |
Ijob |
Ijob |
Hiob |
Kleine Propheten | Große Propheten | |||
Osee (Hos) |
Jesaja |
Jes |
Jes | |
Kleine Propheten | ||||
Hos = Hosea | ||||
Große Propheten | ||||
Isaias (Jes) | ||||
Apokryphen (1592) | Anhang | |||
OrMan = Oratio Manasse |
4 Makk |
Neues Testament
Umfang
Die 27 in griechischer Sprache verfassten Schriften des NT wurden spätestens mit dem 39. Osterfestbrief des Athanasius (367) von fast allen damaligen Christen als gültiger Teil des Bibelkanons anerkannt. Sie gehören in fast allen christlichen Konfessionen bis heute unumstritten dazu; nur ihre Reihenfolge variiert etwas.
Unumstritten waren immer die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, die Paulusbriefe, die Pastoralbriefe und der 1. Brief des Johannes. Teilweise angezweifelt, aber schließlich von allen christlichen Traditionen anerkannt, wurden die folgenden drei Bücher:
- der Hebräerbrief (im Osten nie angezweifelt, im Westen auch nach dem Ende der Antike umstritten)
- der Brief des Jakobus und
- der 1. Brief des Petrus (wurde nur selten angezweifelt).
Von fast allen Traditionen anerkannt wurden folgende fünf Bücher:
- der 2. Brief des Petrus (oft angezweifelt),
- der 2. und 3. Brief des Johannes
- der Brief des Judas und
- die Offenbarung des Johannes (im Westen nicht angezweifelt, im Osten teils noch im 17. Jahrhundert verworfen).
Nur in der assyrischen Tradition, beginnend mit der syrischen Peschitta, sind die genannten fünf Bücher nicht anerkannt.
Mehrere Schriften wurden zeitweise regional hochgeschätzt, aber schließlich nicht ins Neue Testament aufgenommen:
- der 1. und 2. Clemensbrief,
- die Didache (in der Spätantike verworfen, 1873 wiederentdeckt),
- der Barnabasbrief,
- der Hirte des Hermas,
- das Hebräerevangelium und
- die Offenbarung des Petrus.
Paulusbriefe
Zuerst wurden die Paulusbriefe gesammelt; 2 Petr 3,15 f. setzt bereits eine Sammlung voraus, die laut einigen NT-Historikern (David Trobisch, Robinson) schon um 70 im Umlauf war. Sie wurden in den christlichen Gemeinden als über den aktuellen Anlass hinaus maßgebliches Evangelium verlesen (1 Thess 5,27 ; Röm 16,16 ). Der Autor Paulus von Tarsus wünschte ihre Weitergabe auch an Gemeinden, die er nicht selbst gegründet hatte (Gal 1,2 ; 2 Kor 1,1 ); sie wurden nach Kol 4,16 ausgetauscht, wobei vor Fälschungen gewarnt wurde (2 Thess 2,2 ; 2 Thess 3,17 ). Damit erkannten auch seine Gegner die Autorität des Paulus an (2 Kor 10,10 f. ). Umfang und Reihenfolge der Paulusbriefsammlung blieb jedoch bis etwa 200 uneinheitlich.
Zweites Jahrhundert
Seit dem späten 2. Jahrhundert erstellten Kirchenväter Listen, sogenannte Kataloge kanonischer Bücher. Ihr wichtigstes Kriterium für die Aufnahme in den Kanon war die Verfasserschaft durch einen von Jesus selbst berufenen Apostel oder eine von einem Apostel autorisierte Abfassung. Das Matthäus- und Johannesevangelium galten als apostolisch, das Markusevangelium als von Simon Petrus, das Lukasevangelium von Paulus bestätigt.
Neben diesem Kriterium gab es noch zwei weitere wichtige Kriterien: die Orthodoxie (Rechtgläubigkeit, also die Übereinstimmung mit der Lehre der Kirchen) sowie das Verwendetwerden in den kirchlichen Gottesdiensten der verschiedenen Regionen. Dass diese Kriterien auch schon vor 170 angewandt wurden, wird oft vermutet,[7] ist aber nicht durch historische Quellen gesichert. Daher wurden diese ca. 100 Jahre bis etwa 170 in Bezug auf die Bildung des NT-Kanons als „geheimnisvolles Jahrhundert“ bezeichnet.[8]
„Auch waren die später sogenannten neutestamentlichen Schriften durchaus im kirchlichen Gebrauch. Sie wurden in den Gottesdiensten gelesen, sie galten als Richtschnur für die Ordnung der Gemeinden und wurden als Hilfe für den Katechumenenunterricht verwendet. Auch in theologischer Hinsicht bediente man sich ihrer selbstverständlich.“
Um 150 existierte eine Sammlung der vier Evangelien, die Tatian für sein Diatessaron verwendete. Das Johannesevangelium war um 125 in Ägypten in Gebrauch. Solche von den Kirchenvätern oft zitierten Schriften des NTs (oder schriftliche Vorformen davon?) wurden schon früh als Autorität betrachtet, ähnlich wie die Schriften des ATs. Hier einige Beispiele (wobei 1. Tim. und 2. Petrus nach einigen konservativen Theologen echt sind, also um 60 n. Chr. geschrieben wurden):
- Im 2. Petrusbrief 3,15f steht:
„Und achtet die Langmut unseres Herrn für Errettung, wie auch unser geliebter Bruder Paulus nach der ihm gegebenen Weisheit euch geschrieben hat, wie auch in allen Briefen, wenn er in ihnen von diesen Dingen redet. In diesen Briefen ist einiges schwer zu verstehen, was die Unwissenden und Unbefestigten verdrehen wie auch die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben.“
In Vers 16 werden die Paulusbriefe mit „den übrigen Schriften“ gleichgesetzt – mit τη γραφή (tê graphê ‚die Schrift‘) ist im NT normalerweise das AT oder ein Teil davon gemeint.
- In 1 Tim 5,18 heißt es:
„Denn die Schrift sagt: ‚Du sollst dem Ochsen zum Dreschen keinen Maulkorb anlegen‘, und: ‚Wer arbeitet, hat ein Recht auf seinen Lohn.‘“
Das erste Zitat ist Dtn 24,5 , das zweite findet sich nicht im AT, jedoch wörtlich in Lk 10,7 .
- Der zweite Clemensbrief zitiert Jesaja 54,1 als Gottes Wort:
„Denn die Einsame hat jetzt viel mehr Söhne als die Vermählte, spricht der Herr.“
Der übernächste Satz sagt:
„Und wieder eine andere Schrift sagt [Mt 9,13]: ‚Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.‘ Er [Gott] meint das wirklich …“
Der älteste Katalog zum NT, der Kanon Muratori (ca. 170), umfasst auch die Offenbarung des Petrus (mit Vorbehalten[10]), aber nicht die heute kanonischen Briefe 1. und 2. Petrus, Hebräer, Jakobus und 3. Johannes.[11]
Irenäus von Lyon stellte um 185 n. Chr. seine kanonische Liste inspirierter Schriften zusammen, in der der Philemon-, 2. Petrus-, 2. und 3. Johannes-, Hebräer- und Judas-Brief fehlen, aber zusätzlich der Hirt des Hermas aufgeführt ist.
Drittes Jahrhundert
Origenes bespricht ca. 230 in seinen Kommentaren alle heute im NT enthaltenen Werke ausführlich, bezeichnet allerdings neben vier nicht in das NT aufgenommenen Werken (Barnabasbrief, Hirt des Hermas, Didache, Hebräerevangelium) auch sechs kanonische Briefe (Hebräer, 2. Petrus, 2. und 3. Johannes, Jakobus, Judas) als umstritten. In seinen Homilien zu Josua präsentierte Origenes bereits eine Liste neutestamentlicher Schriften, die mit dem 27-Schriften-NT übereinstimmt.[12]
Auch die Kanonizität der Offenbarung des Johannes war damals im Osten noch umstritten.[13]
Viertes Jahrhundert
Die aus dieser Zeit erhaltenen Handschriften (z. B. Codex Sinaiticus, Codex Alexandrinus) spiegeln diese Meinungsvielfalt in den in ihnen enthaltenen Werken wider, indem ersterer den Hirten des Hermas und den Barnabasbrief, letzterer die beiden Clemensbriefe enthält.
Eusebius von Caesarea stellte um 300 in seiner Kirchengeschichte dar, wie die Kirchen des Römischen Reiches neutestamentliche Schriften einschätzten.[14] Hier bahnt sich der spätere 27-Bücher-Kanon an, indem später jene Schriften, die Eusebius als „umstritten“ (als „Antilegomena“) bezeichnet, „die aber bei den meisten in Ansehen stehen“), aufgenommen wurden. Diese spätere Entscheidung – wie sie dann von Athanasius vollzogen wurde – war also „inklusiv“. Kyrill von Jerusalem führt um die Mitte des 4. Jahrhunderts in Jerusalem in seinen katechetischen Vorträgen einen Kanon auf, der bis auf die Offenbarung des Johannes alle Bücher des Neuen Testaments enthält. Athanasius von Alexandria führt 367 im 39. Osterfestbrief alle Bücher des heutigen Neuen Testaments auf, weicht im Alten Testament aber noch etwas von der heute üblichen Liste ab, indem er das Buch des Baruch und den Brief des Jeremia mit aufnimmt und das Buch Ester weglässt.[15] Gregor von Nazianz listet in einem Gedicht alle Bücher des heutigen Neuen Testaments bis auf die Offenbarung des Johannes auf.
Die dritte Synode von Karthago, eine lokale Synode, die nur für den Bereich Nordafrika sprach, erkannte 397 den Kanon an (46 Schriften aus dem Alten, 27 aus den Neuen Testament) und verbot, andere Schriften im Gottesdienst als göttliche Schriften zu verlesen.
„Gleichwohl ist es erstaunlich, mit welcher Treffsicherheit die damalige Kirche im ganzen die wesentlichen und auch zuverlässigsten Schriften in den Kanon aufgenommen hat. Es gibt schwerlich eine andere Schrift, deren Aufnahme in den Kanon man nachträglich wünschen möchte.“
Mittelalter
Die im neuzeitlichen Protestantismus geprägte Vorstellung, dass der Kanon des Neuen Testaments seit dem 4. Jahrhundert eindeutig feststand, kann allerdings für die mittelalterliche Bibel nicht ohne Einschränkungen bestätigt werden. Die vorreformatorische mittelalterliche Bibel ist neben einem festen Kernbestand durch poröse Ränder gekennzeichnet, sodass aus moderner Sicht außerbiblische Schriften wie das Protoevangelium des Jakobus lange Zeit auf Augenhöhe mit den kanonischen Evangelien gelesen werden konnten. Der pseudepigraphische Laodizenerbrief, ein apokrypher Paulusbrief, war zwar bereits in der Spätantike von Hieronymus abgelehnt worden, wurde in manchen Handschriften der Vulgata aber dennoch jahrhundertelang als kanonischer Paulusbrief überliefert und war auch in allen 17 deutschen Übersetzungen des Neuen Testaments vor der Lutherbibel enthalten. Die Entstehung eines geschlossenen neutestamentlichen Bibelkanons ist im Wesentlichen ein Produkt des 16. Jahrhunderts, als reformatorische Kanonkritik und die darauf reagierenden Reformbeschlüsse des Konzils von Trient erstmals und zunächst nur im Westen scharfe Grenzen zwischen kanonischen und nichtkanonischen Büchern zogen. 1531 kam mit der Zürcher Bibel die erste gedruckte vollständige Bibelausgabe auf den Markt. Die Beschlüsse reformierter Synoden in den Jahrzehnten nach Trient führten zu einer faktischen Kanonisierung der Lutherbibel in den lutherisch beeinflussten Kirchen.[17]
Reformation
Im Christentum fand die formale Kanonisierung erst im 4. Jahrhundert statt. Letztlich jedoch war die christliche Kanonisierung ein wandlungsvoller Prozess. Grundlage war zu jener Zeit die Septuaginta, die griechische Übersetzung des Tanach und einiger weiterer Schriften. Für die katholische Kirche entfaltete allerdings die lateinische Neuübersetzung durch Hieronymus, die Vulgata, wesentlich größere Bedeutung. Im lateinischen Westen des Reiches war man zunehmend nicht mehr in der Lage, mit der griechischen Septuaginta zu arbeiten.
Das änderte sich erst mit der Renaissance, in der humanistische Gelehrte wie der Hebraist Johannes Reuchlin und der Gräzist Erasmus von Rotterdam ein neues Interesse für die Antike zu wecken verstanden. Mit dem Ruf ad fontes sollte historisch – und auch bald theologisch – nach den originalen Quellen gefragt werden. Bahnbrechend waren die nun mit Hilfe der neu erfundenen Drucktechnik auch in entsprechenden Größenordnungen verlegten ersten Textausgaben in der Ursprache. Für das hebräische Alte Testament war das die Ausgabe von Jakob ben Chaim, 1524/25 in Venedig bei Daniel Bomberg publiziert („Bombergiana“). (Vgl. 1516 die Ausgabe des griechischen NT durch Erasmus.)
Insofern griffen die Reformatoren auf den hebräischen Kanon des Tanach zurück, während die Katholische Kirche, allerdings erst nach einigen Auseinandersetzungen,[18] auf dem Konzil von Trient am Umfang der lateinischen Vulgata und die Orthodoxe Kirche an der Septuaginta festhielt. Die über den hebräischen Bestand hinaus in der Septuaginta vermittelten Schriften hielt Martin Luther dennoch für Bücher, so der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten, und doch nützlich und gut zu lesen sind; ähnlich sieht es auch die Anglikanische Kirche. Die eher calvinistisch geprägten Traditionen innerhalb des Protestantismus verwerfen diese Bücher jedoch meist vollständig.
„Daneben sind nochmals andere Bücher in der Bibel enthalten: das 3. und 4. Buch Esra, das zweite Buch Esther, Tobias, Judith, Susanna, Beel und die Makkabäerbücher, dazu das Buch Baruch, das Buch der Weisheit und die Sprüche der Weisen; diese werden zwar alle in der Kirche gelesen und haben ihren Sinn und Zweck, sie werden aber den vorher erwähnten Büchern [Jesaja, Jeremia usw.] nicht gleichgestellt. Denn man pflegt nicht mit diesen Büchern zu argumentieren in Streitfragen der Religion usw.“
Insofern besteht heute zwischen orthodoxen, römisch-katholischen und protestantischen Kirchen Uneinigkeit bezüglich der nicht im Tanach enthaltenen Schriften, die je nach Standpunkt als (alttestamentliche) Apokryphen oder Deuterokanonische Schriften bezeichnet werden. Für evangelisch-katholische Gemeinschaftsprojekte hat sich darüber hinaus der Begriff „Spätschriften des Alten Testaments“ eingebürgert.
Im Zuge der Reformation wurde der bisher übliche Umfang des Kanons des Alten Testaments, der sich an der Septuaginta orientierte, in Frage gestellt. Martin Luther orientierte sich bei seiner Übersetzung des Alten Testaments am jüdischen, hebräischen Kanon, der – um 100 n. Chr. in seinem heutigen Umfang festgelegt – weniger Schriften umfasste als die um 200 v. Chr. entstandene Septuaginta (d. h. ohne die Bücher Judith, Tobit, teilweise Daniel und Ester, Makkabäer, Sirach, Weisheit und Baruch). Die katholische Kirche legte sich daraufhin im Zuge der Gegenreformation und lehramtlich verbindlich im Konzil von Trient auf den Umfang der Septuaginta für das Alte Testament fest. Die lutherischen Kirchen haben den Umfang des Kanons weder für das Alte noch für das Neue Testament jemals in einem offiziellen Bekenntnistext festgelegt, haben sich aber faktisch an die Entscheidung Luthers gehalten. Die Offenheit des Kanonumfangs konnte aber auch theologisch-programmatisch begründet werden. Die reformierten Kirchen haben in ihren Bekenntnistexten den Umfang des biblischen Kanons durch Kanonlisten klar definiert. In der Ostkirche ist der Umfang des Schriftenkanons ebenfalls nie eindeutig definiert worden.
Siehe auch
Literatur
- Bibel insgesamt
- Egbert Ballhorn, Georg Steins (Hrsg.): Der Bibelkanon in der Bibelauslegung: Beispielexegesen und Methodenreflexionen. Kohlhammer, Stuttgart 2007, ISBN 3-17-019109-8 (347 Seiten).
- Jean-Marie Auwers, Henk Jan De Jonge (Hrsg.): The Biblical Canons (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium). Leuven University Press, 2003, ISBN 90-429-1154-9 (LXXXVIII, 717, 8 Seiten).
- Lee Martin McDonald, James A. Sanders (Hrsg.): The Canon Debate. Hendrickson, Peabody/Mass. 2002, ISBN 1-56563-517-5 (X, 662 Seiten).
- Matthias Haudel: Die Bibel und die Einheit der Kirchen. Eine Untersuchung der Studien von „Glauben und Kirchenverfassung“ (= Kirche und Konfession. Band 34). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993, 2. Auflage ebenda 1995, 3. Auflage 2012, ISBN 978-3-525-56538-4.
- Wolfhart Pannenberg, Theodor Schneider: Verbindliches Zeugnis, Band 1: Kanon, Schrift, Tradition (= Dialog der Kirchen. 7). Herder, Freiburg 1992, ISBN 3-451-22868-8 (399 Seiten).
- Frederick Fyvie Bruce: The Canon of Scripture. InterVarsity, Downers Grove 1988, ISBN 0-8308-1258-X (349 Seiten).
- Adolf M. Ritter: Zur Kanonbildung in der Alten Kirche. In: Charisma und Caritas. Aufsätze zur Alten Kirche. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997, ISBN 3-525-58160-2, S. 273 ff.
- Karlmann Beyschlag: Grundriss der Dogmengeschichte. Bd. 1: Gott und Welt. 2. Auflage. Darmstadt 1988, S. 172–185.
- Franz Stuhlhofer: Der Gebrauch der Bibel von Jesus bis Euseb. Eine statistische Untersuchung zur Kanonsgeschichte. SCM R. Brockhaus, Wuppertal 1988, ISBN 3-417-29335-9.
- Altes Testament
- William J. Abraham: Canon and Criterion in Christian Theology: From the Fathers to Feminism. Oxford University Press, Oxford 2002, ISBN 0-19-925003-0 (508 Seiten).
- Andreas Hahn: Canon Hebraeorum – Canon Ecclesiae: Zur deuterokanonischen Frage im Rahmen der Begründung alttestamentlicher Schriftkanonizität in neuerer römisch-katholischer Dogmatik. LIT-Verlag, Münster u. a. 2010, ISBN 978-3-643-90013-5 (408 Seiten).
- Lee Martin McDonald: The Formation of Christian Biblical Canon: Revised and Expanded Edition. Hendrickson, Peabody/Mass. 1995, ISBN 1-56563-052-1 (XXXVI, 340 Seiten).
- Hans Peter Rüger: Der Umfang des alttestamentlichen Kanons in den verschiedenen kirchlichen Traditionen. In: Siegfried Meurer (Hrsg.): Die Apokryphenfrage im ökumenischen Horizont (Bibel im Gespräch 3). 2. Auflage. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1993, ISBN 3-438-06222-4 (159 Seiten).
- Michael Schmaus, Alois Grillmeier, Leo Scheffczyk, Alexander Sand: Die Anfänge eines christlichen Kanons (I/3a Teil 1). Herder, Freiburg/Basel/Wien 1974, ISBN 3-451-00725-8 (90 Seiten).
- Hans von Campenhausen: Die Entstehung der christlichen Bibel (Beiträge zur historischen Theologie, 39). Mohr Siebeck, Tübingen 2003, ISBN 3-16-148227-1 (unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. v. 1968; VIII, 402 Seiten).
- Neues Testament
- Bruce Metzger: Der Kanon des Neuen Testaments: Entstehung, Entwicklung, Bedeutung. Patmos-Verlag, Düsseldorf 1993, ISBN 3-491-71104-5 (303 Seiten).
- Theodor Zahn: Grundriß der Geschichte des Neutestamentlichen Kanons. 3. Auflage. R.Brockhaus, Wuppertal 1985, ISBN 3-417-29235-2 (mit Register, sonst Nachdruck der 2. Aufl. 1904; 110 Seiten).
- Geoffrey Mark Hahneman: The Muratorian Fragment and the Development of the Canon (Oxford Theological Monographs). Clarendon Press, Oxford 1992, ISBN 0-19-826341-4 (XI, 237 Seiten).
- David Trobisch: The First Edition of the New Testament (Novum Testamentum et orbis antiquus). Oxford University Press, Oxford / New York 2000, ISBN 0-19-511240-7 (VIII, 175 Seiten).
- Michael J. Kruger: Canon Revisited: Establishing the Origins and Authority of the New Testament Books. Crossway, Wheaton 2012, ISBN 978-1433505003
Weblinks
Anmerkungen
- Adolf Jülicher: Einleitung in das Neue Testament. 7. Auflage. Tübingen 1931, S. 555.
- Wilhelm Schneemelcher: Bibel III: Die Entstehung des Kanons des Neuen Testaments und der christlichen Bibel. In: Theologische Realenzyklopädie, Band 1. S. 25 ff.
- Hans Jürgen Becker: Bibel, II. Altes Testament. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. (RGG), 4. Auflage, Tübingen 1998, S. 1410.
- Franz Stuhlhofer: Für Jesus und die Urchristen war der bezüglich seines Umfangs noch nicht endgültig festgelegte, aber schon dreiteilige Tanach die maßgebende Heilige Schrift. Schon das apokryphe Buch Jesus Sirach (um 190 v. Chr. entstanden), das von der Katholischen Kirche zum Alten Testament gerechnet wird, setzt eine dreiteilige, aus Tora (den fünf Büchern des Mose), Geschichts- (Jos, Ri, Sam, Kön) und Prophetenbüchern (Jes, Jer, Ez und Zwölfprophetenbuch) bestehende Bibel voraus. Der um 117 v. Chr. entstandene griechische Prolog dazu nennt eine unbestimmte Zahl weiterer, poetisch-weisheitlicher „Schriften“. Auf einen dreiteiligen Tanach bezogen sie ihre eigene Botschaft und legitimierten sie als deren Auslegung. Trotz inhaltlicher Differenzen etwa zur Rolle der Tora im Galaterbrief (vgl. Mt 5,17 ff.) blieben die jüdischen heiligen Schriften für sie verbindliche Offenbarungszeugnisse JHWHs, dessen Willen Jesus Christus endgültig erfüllt und in seiner Auslegung bekräftigt habe. (Die altkirchliche Kanonsgeschichte im Spiegel evangelikaler Literatur. In: Gerhard Maier (Hrsg.): Der Kanon der Bibel. Brunnen, Gießen 1990, S. 165–197, das Schaubild auf S. 166.)
- Erich Zenger: Einleitung in das Alte Testament. 2. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 1996, S. 28.
- Brief des Melito an Onesimus um 170 n. Chr.; die Liste von Melito auf griechisch und englisch.
- Siehe z. B. Bruce Metzger: Der Kanon des Neuen Testaments. Ostfildern 2012, S. 238 und 240.
- Siehe Franz Graf-Stuhlhofer: Das geheimnisvolle Jahrhundert in Bezug auf den neutestamentlichen Kanon (ca. 70–170 n. Chr.), in: Glauben und Denken heute, Heft 1 von 2020, S. 38–44.
- Bernhard Lohse: Epochen der Dogmengeschichte. 5. Auflage. Kreuz, Stuttgart/Berlin 1983, ISBN 3-7831-0702-4, S. 31–32.
- Als umstritten gekennzeichnet: „die manche von uns nicht in der Kirche lesen lassen“
- Er erwähnt zwei anerkannte Johannesbriefe, wobei er aus 1. Joh. bereits zuvor zitiert hatte. Meinte er mit den zwei anerkannten 2. Joh. und 3. Joh. – nachdem 1. Joh. schon vorher besprochen war?
- Joachim Orth: Das Muratorische Fragment. Die Frage seiner Datierung. Aachen 2020, S. 201f.
- Bernhard Lohse: Epochen der Dogmengeschichte. Stuttgart/Berlin 1983, S. 35.
- Eusebius von Caesarea, Historia Ecclesiastica III, 25 (u. a.)
- 39. Osterfestbrief des Athanasius
- Bernhard Lohse: Epochen der Dogmengeschichte. Stuttgart/Berlin 1983, S. 37.
- Helmut Zander: Das Wort Gottes hat eine sehr irdische Geschichte: Wie die Bibel entstanden ist (Rezension zu: Konrad Schmid, Jens Schröter: Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften. München 2019). In: NZZ, 27. Oktober 2019, abgerufen am 2. November 2019.
- Unter anderem griff der humanistisch gebildete Luther-Gegner Thomas Cajetan wieder entschieden auf die Kanon-Kritik des Hieronymus zurück: vgl. Ulrich Horst: Der Streit um die hl. Schrift zwischen Kardinal Cajetan und Ambrosius Catharinus. In: Leo Scheffczyk u. a. (Hrsg.): Wahrheit und Verkündigung. Festschrift für Michael Schmaus: Band 1, Paderborn 1967, S. 551–577.
- Heinrich Bullinger: Christliches Glaubensleben. Summa christenlicher Religion 1556 (= Klassiker der Reformation). Limache, Basel 1995, ISBN 3-9520867-0-3, S. 13.