Irši
Irši (deutsch: Hirschenhof) ist eine Ortschaft im Iršu pagasts (Gemeinde Iršu) im Bezirk Aizkraukle in Lettland. Sie liegt etwa 100 Kilometer östlich von Riga. Von 1766 bis 1939 befand sich hier die größte deutsche Kolonie in Lettland. Die Kolonisten lebten mehr von den Deutsch-Balten als von den Letten isoliert. In der Kolonie entwickelte sich eine eigene deutsche Mundart.
Irši (dt. Hirschenhof) | |||
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Hilfe zu Wappen | |||
Basisdaten | |||
Staat: | Lettland | ||
Verwaltungsbezirk: | Bezirk Aizkraukle | ||
Koordinaten: | 56° 47′ N, 25° 36′ O | ||
Einwohner: | 299 (2020) | ||
Höhe: | 131 m | ||
Webseite: | www.koknese.lv | ||
Geschichte
Das Landgut Hirschenhof verdankt seinen Namen dem schwedischen Kapitän Abraham Larsson Hirsch, dem die schwedische Königin Christina das Land 1637 schenkte.[1] Hirsch verkaufte das Gut 1650 an den Kriegskommissar Kronshern. Ende des 17. Jahrhunderts wurden in Schwedisch-Livland im Zuge der sogenannten Reduktionen Güter der livländischen Ritterschaft von der Regierung eingezogen. Hirschenhof wurde damit wieder ein Krongut. Mit dem Frieden von Nystad 1721 wurde Livland nach dem Nordischen Krieg Teil des Russischen Reichs.
Gründung der Kolonie Hirschenhof
Kaiserin Katharina II. holte ab 1763 deutsche Bauern in ihr Herrschaftsgebiet, die bis dahin wenig bevölkerte Gegenden besiedeln und fortschrittliche Methoden in der Landwirtschaft einführen sollten. Den Kolonisten wurden jeweils ein Haus und mindestens 30 Dessjatinen, etwas mehr als 30 Hektar, Ackerland als unveräußerliches „Erbe“ versprochen. Das war deutlich mehr Land, als die meisten einheimischen Bauern bewirtschafteten. Dazu wurden ihnen verschiedene Sonderrechte gewährt wie Steuerbefreiungen für die ersten Jahre und auch danach Steuererleichterungen, Religionsfreiheit und das Recht zur Selbstverwaltung; auch vom Militärdienst und der Pflicht zur Einquartierung waren sie für hundert Jahre befreit, obwohl sie die russische Staatsangehörigkeit annehmen mussten. Angeworben von russischen Werbern kamen die meisten Kolonisten von Lübeck aus per Schiff nach St. Petersburg und reisten von dort in ihre neuen Siedlungsgebiete bei Saratow an der Wolga. Viele dieser Siedler waren bereits 1759 dem Aufruf der dänischen Regierung zur Kolonisierung der Heide- und Moorgebiete im Herzogtum Schleswig gefolgt und hatten das ihnen dort zugeteilte Land wieder verlassen, weil die Kultivierung nicht gelungen war und/oder die zugeteilten Parzellen zu klein waren. Ihnen galt die russische Werbung besonders, da sie bereits Erfahrung mit der Moorkultivierung mitbrachten.[2] Für die Verträge mit den Kolonisten und deren Betreuung war die 1762 gegründete „Tutelkanzlei für Ausländer“ zuständig.
In einem Befehl vom 10. Mai 1766 verfügte Katharina II., dass auch auf den weitgehend wüstliegenden Krongütern Hirschenhof und dem etwas nördlich davon gelegenen Helfreichshof – heute im Bezirk Madona – aus Deutschland angeworbene Neusiedler Waldgebiete in Ackerland verwandeln und auf ertragsarmen Heideböden eine bäuerliche Musterkolonie anlegen sollten.[2] Die bisherigen Bewohner, acht Familien einheimischer Leibeigene, die nur einen Teil des bewaldeten Gebiets mit einfachsten Mitteln bewirtschafteten, wurden auf andere Krongüter umgesiedelt. Am 17. August 1766 unterzeichneten die ersten 69 künftigen Hirschenhöfer in Oranienbaum die Verträge, ehe sie von dem künftigen Kolonie-Aufseher, dem Landmesser Hinrich Erich Abramson, in ihre neue Heimat gebracht wurden. Von den im Herbst 1766 in Hirschenhof eintreffenden 85 Familien mit insgesamt 262 Personen[3] stammten viele ursprünglich aus der Kurpfalz.[4] Vierzig der neuen Hirschhöfer Familien, zumeist Pfälzer, hatten bereits an dem dänischen Heidekolonisierungsprojekt teilgenommen und dort wegen der schlechten Bedingungen aufgegeben.[2] Aber auch in Lettland fanden die Kolonisten weder die versprochenen Häuser noch urbares Land vor. Selbst die Parzellen waren noch nicht abgesteckt und das notwendige Gerät war auch nicht vorhanden. Die Holzhäuser nach einheitlichem Bautyp wurden erst nach der Ankunft der neuen Bewohner errichtet. Unter diesen Umständen dauerte es lange, bis die Böden urbar gemacht wurden und Ertrag brachten, zumal unter den Neusiedlern nur wenige erfahrene Landwirte waren.[5] Den an das Leben in Dörfern gewohnten Kolonisten fiel es auch schwer, sich damit anzufreunden, dass ihre neuen Höfe vereinzelt lagen.
In den ersten Jahren starben viele der Kolonisten. Da etliche die Kolonie verlassen wollten und manchen auch die Flucht gelang, setzte der Kolonie-Aufseher Militär ein, um sie daran zu hindern und zur Weiterarbeit zu zwingen, denn die russische Regierung hatte hohe Ausgaben in das Kolonisierungsprojekt gesteckt, die die Kolonisten abzuarbeiten hatten. 1769 standen zwölf der 85 Höfe leer, weshalb bis 1782 weitere Kolonistenfamilien nach Hirschenhof kamen. Zusätzlich zur eigenen Arbeitskraft beschäftigten die Kolonisten Letten als Knechte und Mägde. Das Angebot, in die Kolonistenverträge für die freien Höfe einzusteigen, lehnten die Letten jedoch ab.[6] Nach der Dritten polnischen Teilung 1795 ließen sich Polen, die auch als nunmehr russische Staatsangehörige anders als die Letten keine Leibeigenen waren, als Arbeitskräfte in der Kolonie nieder.[7]
Hirschenhof im 19. Jahrhundert
Trotz der schwierigen Anfangsbedingungen dauerte es nur eine Generation, bis die Kolonie wuchs. Das Land, das laut Vertrag nicht verkauft und geteilt werden durfte, wurde knapp, obwohl die Kolonisten bis ins 20. Jahrhundert hinein fast nur untereinander heirateten. Diese Binnenheiraten waren auch darin begründet, dass die Kolonisten für Eheschließungen mit Auswärtigen eine Genehmigung aus Riga beantragen mussten.[8] Jüngere Söhne, die nicht als Erbe in den Pachtvertrag eintreten konnten, verließen daher schon bald die Kolonie, um sich woanders in Livland Arbeit zu suchen. Das wurde mit der Flucht aus der Leibeigenschaft gleichgesetzt und entsprechend bestraft. Am 21. September 1798 verfügte daher das Generalgouverment in Riga, dass sich alle Hirschenhöfer in die Kolonie zurückzubegeben hätten. Dort bekamen sie Pässe, die es ihnen ermöglichten, in Riga oder an anderen Orten nach Arbeit zu suchen.[9] Dafür mussten sie jährlich 2,5 Taler an die Krone errichten.[10] Ihren privilegierten Status als Kolonisten durften sie beibehalten, solange sie in der Kolonie eingeschrieben waren. Das konnte die Pacht oder den Erwerb von Gasthöfen, Mühlen oder Glashütten erleichtern. Es war aber nicht möglich, zusätzlich zu den Privilegien Bürgerrechte in den Städten und damit die Mitgliedschaft bei den deutschen Zünften zu erhalten. Die Niederlassung als Handwerksmeister in den deutsch-baltisch dominierten Städten war damit nicht möglich. Viele Hirschenhöfer ließen sich daher nach ihrer Ausbildung wieder in der Kolonie nieder. Andere zogen in lettische und russische Städte und integrierten sich dort in das deutsch-baltische Bürgertum, mussten dafür aber ihren privilegierten Status als Kolonisten aufgeben.
Hirschenhof und Helfreichshof zusammen umfassten ursprünglich rund 4500 Hektar Land und nach Erweiterung des Gebiets und der Anlage weiterer Erbpachtstellen 6000 Hektar. Drei größere Waldstücke sollten erhalten bleiben, von denen eins den Kolonisten gemeinsam gehörte. Die Kolonisten wohnten meist auf verstreuten Einzelhöfen. Entgegen dem im Vertrag von 1766 enthaltenen Versprechen, sich selbst verwalten zu dürfen, wurde die Kolonie Hirschenhof lange von den benachbarten deutsch-baltischen Gutsherren betreut bzw. überwacht. Nachdem die lettischen Bauern 1819 aus der Leibeigenschaft entlassen worden waren, versuchten die Hirschenhöfer ihr verbrieftes Recht zur Selbstverwaltung durchzusetzen, doch erst 1830 gelang die Installation einer „Schulzenverwaltung“.[10] Es wurde ein Gemeindehaus im Zentrum der Kolonie errichtet, in dem die monatlichen Versammlungen der Erbpächter und der Haushaltsvorstände der Handwerkerfamilien stattfanden. Die gewählten Schulzen wurden vor dem Pastor in Linden vereidigt, was allerdings nur bedingt eine Befreiung vom deutsch-baltischen Adel war, da die Gutsherren im Kirchspiel über den Pastor und die Kirchspielsangelegenheiten bestimmen konnten.
Bis 1858 konnten die Hischenhöfer ihre steuerliche Privilegien verteidigen. Ab 1867 konnten die bisherigen Erbpächter ihr Land kaufen und Privateigentümer werden. Die Kolonie Hirschenhof wurde damit zu einer eigenen Gemeinde (pagast). Mit fast 3000 Einwohner war die Höchstzahl der Bewohner erreicht. Die auf hundert Jahre begrenzte Befreiung von der Wehrpflicht lief 1874 aus.
Kirche, Bildung und Sprache
Die Kolonisten gehörten dem lettischen lutherischen Kirchspiel Linden (lettisch: Liepkalne) an, dessen Kirche genau zwischen den beiden Kolonien lag und zu der auch eine lettische Schule gehörte. Mitglieder des Kirchspiels waren neben den Kolonisten deutsch-baltische Herren der umliegenden Güter, deren Verwalter und Arbeiter sowie lettische Bauern, die bis 1819 Leibeigene waren. Die Gottesdienste wurden abwechselnd auf Lettisch und Deutsch gehalten. Selbst die Kirchenbücher wurden getrennt für die deutschen und die als „Undeutsche“ bezeichneten Letten geführt. Als Ersatz für die aus dem 17. Jahrhundert stammende Holzkirche in Liepkalne wurde 1867/68 eine steinerne Kirche gebaut.
Eine richtige Schule hatte die Kolonie lange nicht. Viele der neuen Siedler waren Analphabeten. Die meisten hatten die Verträge nur mit drei Kreuzen unzterzeichnet.[11] Einzelne als Schulmeister beauftragte Kolonisten unterrichteten neben ihrem eigentlichen Beruf als Bauern oder Handwerker die Kinder der Nachbarhöfe in ihrer eigenen Wohnung im Lesen. Ab 1810 gab es eine „Schreibschule“, die 1819 im Zusammenhang mit der Aufhebung der Leibeigenschaft in den Ostseegouvernements, die die Landbesitzer zur Einrichtung von Schulen für die Landbevölkerung verpflichtete, ein eigenes Gebäude bekam.[12] An dieser „russischen Schule“ wurden jedoch nur zwanzig Kinder in Schreiben, Rechnen, Religion und Russisch unterrichtet.[13] Noch 1860 waren fast alle Kolonisten Analphabeten.[5] Die erste deutsche Schule mit einem eigens dafür gebauten Schulgebäude wurde erst 1884 am südöstlichen Rand der Kolonie eingerichtet. Die Einrichtung der vierklassigen Elemantarschule im westlichen Teil konnte die Gemeinde 1909 gegen die Schulzen durchsetzen. 1910 wurde mit Hilfe des Deutschen Vereins in Livland zusammen mit dem deutsch-baltischen Adel der Nachbargüter neben der seit 1810 bestehenden russischen Schule eine zentrale deutsche Schule errichtet. Diese Schule hatte nach 1918 sieben Klassen und bot auch ein Internat für die Kinder der entfernter liegenden Höfe an.[14] 1925 gab es insgesamt vier deutsche Schulen in der Kolonie.
Die Kolonisten lebten verhältnismäßig isoliert. Eigenarten ihrer Herkunftsdialekte mischten sich mit lettischen und teilweise auch russischen Einflüssen zu einer eigenen Mundart, die sich trotz einiger Gemeinsamkeiten deutlich von der Sprache der gebildeten Deutsch-Balten in den Städten unterschied.[15] Als Sprachinsel war die Kolonie Forschungsobjekt[16] und Beispiel für die nationalsozialistische Ideologie der Ausweitung des deutschen Lebensraum nach Osten.[17]
Hirschenhof von 1900 bis 1939
Um 1900 gab es in Hirschenhof 108 Bauern- und 84 Handwerkerstellen. Da die Grundstücke, seit sie sich im Eigentum der Familien befanden, wiederholt geteilt und zusammengelegt worden waren, war ihre Größe sehr unterschiedlich. Ein landwirtschaftlicher Verein zur gemeinschaftlichen Nutzung von Landmaschinen und zur Erleichterung des Absatzes der Erzeugnissen wurde 1903 gegründet. Die Russische Revolution 1905 ließ die Kolonie anders als den deutsch-baltischen Adel weitgehend unberührt.[18] Im Jahr 1906 wurde die Schulzenverwaltung durch die russische Gemeindeverwaltung abgelöst.[19] Nach der Revolution suchte die Livländische Ritterschaft, die sich durch die fortschreitende Russifizierung bedroht sah, erstmals eine engere Verbindung zu den Hirschenhöfer Kolonisten, die sie bis dahin wegen ihres gesellschaftlich niedrigeren Standes verachtet hatte, und finanzierte den Bau der deutschen Schule im Ortszentrum.[20]
Im Ersten Weltkrieg befahl die russische Regierung die Evakuierung aller deutschen Siedler aus dem Gouvernement Livland, obwohl viele Familien Soldaten im russischen Heer stellten. Daraufhin wurden 1916 die meisten Hirschenhöfer, sowohl die in der Kolonie lebenden als auch alle anderen, teilweise mit Gewalt deportiert und in die Verbannung nach Sibirien geschickt.[21] Durch die Deportation wurde die historisch gewachsene Loyalität der Hirschenhöfer zu Russland schwer belastet.[22] Die Höfe wurden an vor den deutschen Truppen aus Kurland geflüchtete Bauern übergeben.
Nach der deutschen Besetzung des Baltikums 1918 durften die Hirschenhöfer zurückkehren, erhielten ihre Höfe zurück und eine Unterstützung für den Neuanfang durch die deutsche Heeresverwaltung.[5] Die Schulen wurden neugegründet und die Gemeinde bekam auch eine eigene, von der lettischen Gemeinde getrennte deutsche Pfarrstelle, deren Inhaber im Dorf lebte,[23] seit 1934 in einem vom Gustav-Adolf-Werk finanzierten Pfarrhaus mit einer kleinen Kapelle. Die Kirche in Linden nutzen die Hirschenhöfer weiterhin gemeinsam bzw. abwechselnd mit der lettischen Gemeinde.[24] Den Lettischen Unabhängigkeitskrieg 1918/19 unterstützten auch Hirschenhöfer Kolonisten in der Baltischen Landeswehr. Mit Robert Erhardt, der 1907–1912 schon Mitglied der russischen Duma gewesen war, wurde ein Nachkomme der ersten Kolonisten Finanzminister der zweiten und dritten provisorischen lettischen Regierung.
Da die Hirschenhöfer Eigentümer ihres Landes und nicht Pächter deutsch-baltischer Großgrundbesitzer waren, blieb Hirschenhof von der lettischen Landreform unberührt. Zur Kolonie gehörten 1931 über 70000 Hektar landwirtschaftliche Fläche, die von 213 Betrieben bewirtschaftet wurde, eine gemeinschaftliche betrieben Molkerei und eine Wassermühle.[25] Als Minderheit hatten die Hirschenhöfer als „lettländische Bürger deutscher Nationalität“ das Recht auf Selbstverwaltung und Schulunterricht in der „Familiensprache“, wobei die lettische Sprache ab der zweiten Klassen Pflicht war.[26] In den folgenden Jahren nahm zwar nicht die Zahl, aber der Anteil der Deutschen in Hirschenhof kontinuierlich ab von 91 % 1926 auf etwa 85 % 1931. Damit blieb Hirschenhof bis zu Umsiedlung der Deutsch-Balten 1939 die einzige Gemeinde in Lettland mit deutscher Bevölkerungsmehrheit,[27] und durfte auch nach dem Staatsstreich vom 15. Mai 1934, als Lettisch als Staatssprache auch im Alltag durchgesetzt werden sollte, weiterhin seine Verwaltungsgeschäfte auf Deutsch führen. Zu dieser Zeit wohnten noch etwa 2000 Nachkommen der Siedler von 1766 in der Kolonie. Weitere rund 8000 Hirschenhöfer lebten in Lettland verteilt und zählten als Sondergruppe zu den Deutsch-Balten.[28]
Nach 1933 galt die Hirschenhöfer Kolonie einerseits als Beispiel für die nationalsozialistisch propagierten Ostsiedlung, gleichzeitig wurde aber unter den Kolonisten für die „Heimkehr ins Reich“ geworben. Auch wenn längst nicht alle Hirschenhöfer überzeugte Nationalsozialisten waren, führte doch die Angst vor dem sowjetischen Kommunismus dazu, dass sich der Großteil der Hirschenhöfer sich nach dem Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 aus der lettischen Staatsangehörigkeit entlassen ließ. Die Kolonie wurde innerhalb kürzester Zeit im November 1939 geräumt. Insgesamt 1600 Kolonisten reisten aus und hinterließe 172 Höfe. Die früheren Bewohner wurden in den Warthegau umgesiedelt und flohen von dort 1945 den Westen.[29]
Nach 1939
Nach der Umsiedlung der Deutsch-Balten, bei der fast alle Nachfahren der Hirschenhöfer Kolonisten Lettland verließen, fiel ihr immobiler Besitz an den lettischen Staat, der ihn weiterverkaufte. Bis 1941 wurden die Ländereien vor allem an katholische Bauern aus Lettgallen vergeben, die sich in den verlassenen Häusern niederließen. Im September 1944 brannte die Rote Armee den Dorfkern nieder. Nach der Einrichtung einer Kolchose und einer Sowchose mit zentralisierten Arbeitersiedlungen ab den 1970er Jahren wurden viele der Kolonistenhäuser abgerissen, andere standen leer und verfielen. Das ehemalige Wirtshaus beherbergt die örtliche Grundschule. Im Ortskern von Irši befindet sich zudem neben Wohnbauten aus sowjetischer Zeit eine katholische Kirche, eine von den aus Lettgallen Zugezogenen nach dem Zweiten Weltkrieg umgebaute Scheune.[30]
Die Kirche in Liepkalne verfiel nach Auflösung der lutherischen Gemeinde 1959.[31] Auf dem aufgelassenen deutschen Friedhof waren 1989 noch 138 Grabsteine erhalten,[32] auf denen die Namen von 176 Personen stehen. Seit 1992 steht ein Gedenkstein für die deutsche Kolonie Hirschenhof vor dem einstigen Gemeindehaus.[4] Um die Geschichte der Kolonie Hirschenhof kümmert sich der Verein Hiršenhofas mantojums (Das Erbe von Hirschenhof), der 2020 nach Artis Pabriks’ kulturhistorischem Essay Auf der Suche nach Hirschenhof von 2018 den zweisprachigen Bildband Hirschenhof – Irši pagātnes pēdas = Hirschenhof – Irši: das Gestern im Heute von Undīne Pabriks-Bollow und Artis Pabriks herausgab.[33]
Sehenswürdigkeiten
Von den meisten Gebäuden der Kolonie Hirschenhof sind höchstens nur Ruinen geblieben. Nur das Haus Nr. 18 ist noch weitgehend im Originalzustand erhalten.[34] Im ehemaligen Gemeindehaus[35] und der Schule gibt es Ausstellungen. Zudem liegen auf dem Gebiet zwei mittelalterliche Burghügel. Der Hügel der auf die zweite Hälfte des ersten Jahrtausends datierten Burg Lielkalni (Großberge) westlich des Ortes wurde durch Kiesabbau zum Großteil abgetragen.[36] Die Burg Bulandu,[37] die einen Kilometer nordöstlich des Dorfzentrums Iršu am linken Ufer des Iršupīte liegt, identifizierte August Bielenstein wohl fälschlich als die in Urkunden vom Beginn des 13. Jahrhunderts genannte Burg Lepene, einen Hauptort des Königreichs Jersika.[38] Der Hügel ist durch die Aufstauung der Flusses teilweise abgetragen. Nahe der Burg Bulandu am östlichen Rand der ehemaligen Kolonie wurde auf einem der Höfe eine Hirschfarm eingerichtet, aus der sich der 300 Hektar umfassende Safaripark Briežu dārzs un safari parks „Zemitāni“ entwickelte, in dem neben Rot- und Damhirschen auch Bisons, Mufflons und anderes Wild lebt und beobachtet werden kann.[39]
Persönlichkeiten
Bekannte Nachkommen der Hirschenhöfer Siedler sind:[5]
Literatur
in der Reihenfolge des Erscheinens
- Walther Mitzka: Hirschenhof. Zur Sprache der deutschen Bauern in Livland. In: Zeitschrift für Deutsche Mundarten. Band 18, 1923, S. 53–87, JSTOR:40498165.
- Werner Conze: Hirschenhof: die Geschichte einer deutschen Sprachinsel in Livland. Um ein Nachwort von Eduard Neander erweitert. 2. Auflage. Hirschhendt, Hannover 1963.
- Lettland (Südlivland und Kurland). In: Hans Feldmann, Heinz von zur Mühlen (Hrsg.): Baltisches historisches Ortslexikon. Band 2. Böhlau Verlag, Köln, Wien 1990, ISBN 3-412-06889-6, S. 219.
- Gustav Gangnus: Hirschenhof in Livland in seiner Gründungsphase in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Ostforschung. Band 43, 1994, S. 496–516 (zfo-online.de).
- Gustav Gangnus: Die Hirschenhöfer. In: Wilfried Schlau (Hg.): Sozialgeschichte der baltischen Deutschen. Mare Balticum, Köln 1997, ISBN 3-929081-21-0, S. 185–210.
- Astrīda Iltnere (Red.): Latvijas Pagasti, Enciklopēdija. Preses Nams, Riga 2002, ISBN 9984-00-436-8, S. 365–367.
- Gustav Gangnus: Vom Elsass hinaus in die Welt. Stammtafeln und Geschichte Gangnus (auch: Gagnus, Gagnuss, Gagnuß, Gangnuss, Gangnuß, Gangus, Gangnuß, Gannus u. ä.) (= Baltische Ahnen- und Stammtafeln. Sonderheft 28). Deutsch-Baltische Genealogische Gesellschaft, Darmstadt 2003.
- Gustav Gangnus: Gründerfamilien und Ersteinwanderer der Kolonie Hirschenhof in Livland. In: Baltische Ahnen- und Stammtafeln. Band 52. DeGruyter, 2010, S. 115–136.
- Karina Kulbach-Fricke: Familienbuch der Hirschenhöfer für das 18. und 19. Jahrhundert. In: Deutsch-Baltische Genealogische Gesellschaft (Hrsg.): DBGG-Genealogen-Echo, Heft 13 (2012), S. 19–20 (Digitalisat).
- Artis Pabriks: Auf der Suche nach Hirschenhof. Ein kulturhistorisches Essay. Hrsg.: Hiršenhofas mantojums. Riga 2018.
- Artis Pabriks und Undīne Pabriks-Bollow: Hirschenhof – Irši pagātnes pēdas = Hirschenhof – Irši: das Gestern im Heute. Hrsg.: Hiršenhofas mantojums. Riga 2020.
Weblinks
- Gustav Gangnus: Daheim bei Heinz Erhardt. In: Das Ostpreußenblatt vom 30. Juni 2001, Folge 26, S. 6.
- Kolonie Hirschenhof 1766–1939. Interaktive Karte mit den Hofgrenzen/Hofnummern und Wirten nach Conzes Skizzen von 1934. Joachim Bredull, Bremen
- Livland – Hirschenhof und Helfreichshof. In: deutsche-kolonisten.de. Abgerufen am 13. Februar 2022.
Einzelnachweise
- Hans Feldmann, Heinz von zur Mühlen (Hrsg.): Baltisches historisches Ortslexikon, Teil 2: Lettland (Südlivland und Kurland). Böhlau, Köln 1990, S. 219.
- Gerhard Lang: Kolonisten aus Jütland in Hirschenhof. 2007, abgerufen am 14. Februar 2022.
- Kolonisten Hirschenhof 1766. In: deutsche-kolonisten.de. Abgerufen am 14. Februar 2022.
- Alexander Welscher: Hirschenhof: Deutsche Kolonie in Lettland. Goetheinstitut, abgerufen am 13. Februar 2022.
- Livland – Hirschenhof und Helfreichshof. In: deutsche-kolonisten.de. Abgerufen am 13. Februar 2022.
- Gustav Gangnus: Hirschenhof in Livland in seiner Gründungsphase in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert. S. 513 f.
- Gustav Gangnus: Daheim bei Heinz Erhardt. In: Das Ostpreußenblatt. 30. Juni 2001, S. 6 (preussische-allgemeine.de [PDF]).
- Gustav Gangnus: Hirschenhof in Livland in seiner Gründungsphase in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert. S. 511.
- Konrad Schulz: Der deutsche Bauer in Lettland. Versuch einer geschichtlichen Darstellung. In: Baltische Monatsschrift. 1929, S. 143–157; S. 144.
- Artis Pabriks: Auf der Suche nach Hirschenhof. Ein kulturhistorisches Essay. Hrsg.: Hiršenhofas mantojums. Riga 2018, S. 29.
- Artis Pabriks: Auf der Suche nach Hirschenhof. Ein kulturhistorisches Essay. Hrsg.: Hiršenhofas mantojums. Riga 2018, S. 21.
- Vija Daukšte: Die Bildung als politischer Faktor in der Geschichte Lettlands. Die Bauernschul- und Bildungspolitik der deutschbaltischen Ritterschaften im 19. Jahrhundert. In: Imbi Sooman, Stefan Donecker (Hrsg.): The „Baltic Frontier“ revisited. Power structures and cross-cultural interactions in the Baltic Sea Region. Wien 2009, ISBN 978-3-9501575-1-2, S. 107–120; S. 110–111.
- Werner Conze: Hirschenhof: die Geschichte einer deutschen Sprachinsel in Livland. S. 123–125.
- Werner Conze: Hirschenhof: die Geschichte einer deutschen Sprachinsel in Livland. S. 126 ff.
- W. Mitzka: Hirschenhof. In: Zeitschrift für Deutsche Mundarten. Band 18, 1923, S. 53–87; S. 66, JSTOR:40498165.
- Siehe die Aufsätze W. Mitzka: Hirschenhof. In: Zeitschrift für Deutsche Mundarten. Band 18, 1923, S. 53–87, JSTOR:40498165. und Werner Conze: Hirschenhof: die Geschichte einer deutschen Sprachinsel in Livland. dessen erste Auflage 1934 als Conzes Dissertation erschien.
- Siehe z. B. Werner Conze: Die deutsche Volksinsel Hirschenhof im gesellschaftlichen Aufbau des baltischen Deutschtums. In: Auslanddeutsche Volksforschung. 1937, S. 152–163.
- Artis Pabriks: Auf der Suche nach Hirschenhof. Ein kulturhistorisches Essay. Hrsg.: Hiršenhofas mantojums. Riga 2018, S. 24 f.
- Konrad Schulz: Der deutsche Bauer in Lettland. Versuch einer geschichtlichen Darstellung. In: Baltische Monatsschrift. 1929, S. 143–157; S. 144 f.
- Artis Pabriks: Auf der Suche nach Hirschenhof. Ein kulturhistorisches Essay. Hrsg.: Hiršenhofas mantojums. Riga 2018, S. 32 f.
- Die Ansiedlung der Deutschen in Livland. Die Hirschenhöfer (Deutschbalten). Abgerufen am 14. Februar 2022.
- Artis Pabriks: Auf der Suche nach Hirschenhof. Ein kulturhistorisches Essay. Hrsg.: Hiršenhofas mantojums. Riga 2018, S. 39.
- Konrad Schulz: Der deutsche Bauer in Lettland. Versuch einer geschichtlichen Darstellung. In: Baltische Monatsschrift. 1929, S. 143–157; S. 145 f.
- Artis Pabriks: Auf der Suche nach Hirschenhof. Ein kulturhistorisches Essay. Hrsg.: Hiršenhofas mantojums. Riga 2018, S. 49.
- Artis Pabriks: Auf der Suche nach Hirschenhof. Ein kulturhistorisches Essay. Hrsg.: Hiršenhofas mantojums. Riga 2018, S. 45.
- Die lettische Minderheitendeklaration vom 7. Juli 1923. (PDF) Abgerufen am 17. Februar 2022.
- Percy Meyer: Lettland nach der Volkszählung 1930. In: Osteuropa. Band 6, 1931, S. 469–475; S. 472, JSTOR:44928403.
- Wilfried Schlau: Zur Wanderungs- und Sozialgeschichte der baltischen Deutschen. In: Ders. (Hrsg.): Die Deutsch-Balten. Langen Müller, München 1995, ISBN 3-7844-2524-0, S. 32–50, hier S. 40f.
- Artis Pabriks: Auf der Suche nach Hirschenhof. Ein kulturhistorisches Essay. Hrsg.: Hiršenhofas mantojums. Riga 2018, S. 55–65.
- Artis Pabriks: Auf der Suche nach Hirschenhof. Ein kulturhistorisches Essay. Hrsg.: Hiršenhofas mantojums. Riga 2018, S. 13, 67.
- Kirche von Liepkalne.
- Gustav Gangnus, Helmut Gangnus: Grabinschriften auf dem Friedhof Linden/Liepkalne der Kolonie Hirschenhof/Irši bei Kokenhusen/Koknese. Funde 1988/89. In: Deutsch-Baltische Genealogische Gesellschaft (Hrsg.): Baltische Ahnen- und Stammtafeln (BAST), 39. Jahrgang, 1997. Isabella von Pantzer, Köln 1997, ISSN 0408-2915, S. 136–141.
- Hirschenhof - Irši. Pagātnes pēdas - Hirschenhof - Irši. Traces of the past. Abgerufen am 14. Februar 2022.
- Artis Pabriks: Auf der Suche nach Hirschenhof. Ein kulturhistorisches Essay. Hrsg.: Hiršenhofas mantojums. Riga 2018, S. 17–19 und 74–79.
- Das ehemalige Gemeindehaus von Irši (Hirschenhof). In: visitkoknese.lv. Abgerufen am 17. Februar 2022.
- Burgberg Lielkalni (Großberge). In: visitkoknese.lv. Abgerufen am 17. Februar 2022.
- Burgberg Bulandi. In: visitkoknese.lv. Abgerufen am 17. Februar 2022.
- August Bielenstein: Die Grenzen des lettischen Volksstammes und der lettischen Sprache in der Gegenwart und im 13. Jahrhundert, ein Beitrag zur ethnologischen Geographie und Geschichte Russlands. Band 1, 1892, S. 95 (google.de).
- Briežu dārzs un safari parks "Zemitāni". In: latvia.travel. Abgerufen am 17. Februar 2022 (lettisch).
- Gustav Gangnus: Daheim bei Heinz Erhardt. In: Das Ostpreußenblatt vom 30. Juni 2001, Folge 26, S. 6.
- Artis Pabriks: Auf der Suche nach Hirschenhof. Ein kulturhistorisches Essay. Hrsg.: Hiršenhofas mantojums. Riga 2018, S. 6.