Gleichgewicht des Schreckens
Gleichgewicht des Schreckens (auch MAD-Doktrin, von engl. mutually assured destruction, „gegenseitig zugesicherte Zerstörung“, wobei MAD übersetzt zugleich „verrückt“ bzw. „wahnsinnig“ bedeutet; dt. ugs. auch Atompatt) ist ein im Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion geprägter Begriff und bezeichnet eine Situation, in der eine Nuklearmacht vom Ersteinsatz von Nuklearwaffen dadurch abgehalten wird, dass der Angegriffene selbst nach einem nuklearen Erstschlag noch vernichtend zurückschlagen könnte. Spieltheoretisch wird das Gleichgewicht des Schreckens auch als „Nash-Gleichgewicht“ aufgefasst, bei dem wenn einmal bewaffnet, keine Seite einen Anreiz hat, den Konflikt zu lösen oder sich zu entwaffnen. Mit dem Gleichgewicht des Schreckens ist kein statisches Gleichgewicht gemeint, in dem das Wettrüsten zu einem Stillstand gekommen wäre. Vielmehr bezeichnet der Begriff ein dynamisches Gleichgewicht, in dem die wechselseitigen Drohungen durch atomares Wettrüsten die Eskalation zu einem „heißen“ Krieg, also zu einer direkten bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den Supermächten, verhinderte.
Begriff
Der Begriff der „garantierten Vernichtung“ wurde vom US-Verteidigungsminister Robert McNamara geprägt und in der Doktrin der guaranteed mutual destruction („garantierte gegenseitige Zerstörung“) wiederverwendet. Nach der Doktrin der „mutually assured destruction“ war es nicht ausschlaggebend, ob die USA mehr oder weniger strategische Atomwaffen besitzen als die Sowjetunion. Maßstab war nicht die Zahl, sondern die Fähigkeit, einen Erstschlag zu überstehen und danach noch genug Atomwaffen zu haben, um in einem Gegenschlag eine theoretisch kalkulierte Verwüstung in der Sowjetunion anrichten zu können, nämlich die guaranteed destruction. Als guaranteed destruction definierte McNamara 1965 die Kapazität an nuklearen Waffen, die notwendig wäre, ein Viertel bis ein Drittel der sowjetischen Bevölkerung und zwei Drittel der sowjetischen Industrie zu vernichten.
Im deutschen Sprachgebrauch wird heute oft der Begriff „nukleare Abschreckung“ (nuclear deterrence) verwendet, bis zum Ende des Kalten Krieges aber überwiegend „Gleichgewicht des Schreckens“. Umgangssprachlich steht hierfür auch die Formulierung „Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter“.
Wörtlich sprach John F. Kennedy in seiner Antrittsrede vom Gleichgewicht des Schreckens:
“But neither can two great and powerful groups of nations take comfort from our present course--both sides overburdened by the cost of modern weapons, both rightly alarmed by the steady spread of the deadly atom, yet both racing to alter that uncertain balance of terror that stays the hand of mankind's final war.”
„Allerdings kann keine beide großen und mächtigen Nationengruppen aus unserer derzeitigen Politik Trost schöpfen – beide sind von den Kosten moderner Waffen überlastet, beide sind zu Recht tief beunruhigt über die stetige Ausbreitung des todbringenden Atoms, und dennoch wetteifern beide darum, das fragile Gleichgewicht des Schreckens zu verschieben, das uns vor jenem unwiderruflich letzten Krieg der Menschheit bewahrt.“
Theorie
Die Grundannahme der MAD-Doktrin besteht darin, dass keine Seite so irrational ist, für die Vernichtung des Gegners auch die Vernichtung des eigenen Landes in Kauf zu nehmen. Deswegen nimmt man an, dass die Kontrahenten auf einen atomaren Erstschlag verzichten werden, wenn der Gegner danach noch die Möglichkeit eines Gegenschlages hat. Dies führt zu einem zwar spannungsgeladenen, aber dennoch stabilen Frieden.
Um die Doktrin umsetzen zu können, müssen alle potenziellen Kontrahenten eine Overkill-Kapazität aufrechterhalten, so dass auch nach der Zerstörung eines großen Teiles der eigenen Atomwaffen der verbleibende kleinere Rest noch zur völligen Zerstörung des Angreifers ausreichen würde. Von Bedeutung ist auch der Aufbau eines schwierig zu ortenden und zu zerstörenden, redundanten Systems von interkontinentalen Kernwaffenträgern. Man spricht von der „nuklearen Triade“ aus strategischen Bombern, land- und seegestützten Interkontinentalraketen. Letztere sind sehr schwer zu orten und eignen sich daher besonders als Zweitschlagswaffe.
Grundlage für das Gleichgewicht des Schreckens ist eine von allen Kontrahenten geführte Abschreckungspolitik. Sie ist eine politische Strategie zur Verringerung der Wahrscheinlichkeit eines großen Kriegs, die allerdings mit einem hohen Eskalations- und Vernichtungsrisiko zusammenfällt. Wegen ihrer Anwendung zur Abschreckung werden Nuklearwaffen oft auch als politische Waffen bezeichnet, denn ihr Zweck ist der Nichteinsatz. Bei symmetrischen Machtverhältnissen (also wenn alle Gegner über dieselben militärischen Mittel verfügen) geht die Drohung mit dem Einsatz der Nuklearwaffe mit einem Selbstvernichtungsrisiko einher.[3]
Gleichgewicht des Schreckens im Kalten Krieg
Das Konzept der Friedenserhaltung durch gegenseitige Abschreckung (Dissuasion) bildete sich allmählich heraus, als nach 1945 die umfassende Vernichtungskraft der Kernwaffen ins Bewusstsein der politisch Verantwortlichen drang. In der offiziellen Militärdoktrin der USA fand der Begriff erstmals im Jahr 1961 Verwendung.
Die Doktrin fand ihre hauptsächliche Anwendung in der Zeit des Kalten Krieges zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion. Die MAD-Doktrin wurde als Garant dafür gesehen, dass es zu keinen direkten Zusammenstößen zwischen den Supermächten kommen konnte.[4] Sie gerieten stattdessen in so genannten Stellvertreterkriegen indirekt und vermittelt aneinander.
Gegen Ende des Kalten Kriegs wandten sich die Supermächte zu Gunsten vertrauensbildender Maßnahmen zusehends vom MAD-Konzept ab, blieben jedoch auch nach 1989 geopolitische Antagonisten.
In begrenztem Ausmaß besteht zwischen den beiden verfeindeten Staaten Indien und Pakistan seit ihrem Aufstieg zu Atommächten eine MAD-Situation. Aufgrund des vergleichsweise kleinen nuklearen Arsenals würde ein nuklearer Schlagabtausch zwischen diesen Mächten jedoch nicht zu der für MAD-typischen weitreichenden Vernichtung führen.[5]
Abkehr von der MAD-Doktrin
Am 25. Juli 1980 sprach US-Präsident Jimmy Carter in der Presidential Directive 59 von einer „Ausgleichsstrategie“ (countervailing strategy). Ziel der US-Planer war fortan, einen Nuklearkrieg gewinnen zu können. Deklariertes Ziel der Nuklearsprengköpfe war nicht die sowjetische Bevölkerung, sondern an erster Stelle die Führungszentren, dann militärische Ziele. Damit verband sich die Spekulation, die Sowjetunion würde aufgeben, bevor es zu einer totalen Zerstörung der UdSSR und der USA käme.
US-Präsident Ronald Reagan setzte auf diese Richtung und plante mit seiner Strategic Defense Initiative (SDI), das Gleichgewicht der MAD durch eine neue Strategie der amerikanischen Überlegenheit zu ersetzen. Durch den Aufbau einer umfassenden Raketenabwehr sollten die USA vor Angriffen oder Gegenschlägen aus der Sowjetunion geschützt werden, ihre eigene Erstschlagskapazität aber behalten. Anhänger dieser Vorstellungen sprachen dabei auch von mutual assured security. Doch letztlich scheiterte das SDI-Projekt und damit die Unterminierung der Übereinkunft von der gegenseitigen gesicherten Zerstörung an technischen und finanziellen Hürden.
Um der versehentlichen Auslösung eines Atomkriegs entgegenzuwirken, wurden Kommunikationsmechanismen installiert (z. B. das „rote Telefon“ nach der Kuba-Krise). Spätestens mit den 1980er Jahren wurde das Konzept des „Gleichgewichts des Schreckens“ in der öffentlichen Debatte immer stärker hinterfragt. So wurde im Zusammenhang mit dem NATO-Doppelbeschluss in der Bundesrepublik von der Gefahr einer Destabilisierung des globalen strategischen Gleichgewichts durch die Aufstellung ‚eurostrategischer‘ Mittelstreckenraketen gesprochen. Man befürchtete einen „atomaren Holocaust“.
Mit der Auflösung der Sowjetunion reduzierten sich die Spannungen zwischen Russland und den USA und zwischen den USA und China deutlich. In beiden Fällen wurde MAD als Modell für Stabilität zwischen den Atommächten eigentlich abgelöst, dennoch halten diese Länder gegeneinander weiterhin ein sofort einsetzbares Arsenal an Kernwaffen mit mehrfacher Overkill-Kapazität vor – insofern gilt das Prinzip von MAD stillschweigend bis heute. Obwohl die Regierung unter George W. Bush vom ABM-Vertrag zurücktrat, betonte sie, dass das von ihr geplante Raketenabwehrsystem gegen nukleare Erpressung durch Staaten mit geringer nuklearer Kapazität (wie etwa Nordkorea) aufgebaut werde. Dieses Prinzip der asymmetrischen Kriegführung schließe, anders als MAD, die Geiselnahme ganzer Bevölkerungen aus. Die russische Regierung blieb dem Werben der USA um diese Strategie gegenüber aber reserviert, vor allem weil sie befürchtet, die USA würden dadurch Überlegenheit auf allen Ebenen und Eskalationsdominanz erlangen. Als Reaktion darauf hat die russische Regierung verkündet, ihre Nuklearwaffen zu modernisieren, um einer potenziellen Neutralisierung ihrer Zweitschlagskapazität entgegenzuwirken.
Das Ziel, ein „Gleichgewicht des Schreckens“ zu erreichen, ist seit der horizontalen Proliferation in den Hintergrund getreten, das heißt, dass zwar die großen Nuklearmächte abrüsten, aber neue Nuklearmächte dazukommen. Es ist etwa bei politischem oder religiösem Fanatismus nicht mit einer wirksamen Abschreckung zu rechnen.[6]
Kritik
Kritiker der MAD-Doktrin führten an, dass das Apronym MAD zum englischen Begriff mad („verrückt“, „geisteskrank“) passe,[5] weil sie auf einigen anfechtbaren Hypothesen beruhe:
- Perfekte Erkennung:
- Die angewendeten Ortungsverfahren müssten absolut fehlerfrei sein, Falschmeldungen über Raketenstarts müssten kategorisch auszuschließen sein (vgl. den Stanislaw Petrow-Zwischenfall)
- Es dürfte keine Möglichkeit für einen verdeckten Raketenstart geben
- Es dürfte keine Angriffsalternative zur Nuklearrakete geben
- Die schwächere Interpretation von MAD hängt auch von der perfekten Zuordnung eines Raketenstarts ab (Wer soll die Vergeltung zu spüren bekommen, wenn ein Raketenstart beispielsweise an der chinesisch-russischen Grenze ausgemacht wird?)
- Absolute Rationalität (bzw. „Irrationalität“):
- „Schurkenstaaten“ entwickelten keine Nuklearwaffen (oder, wenn doch, hörten sie auf, Schurkenstaaten zu sein, indem sie sich der MAD-Logik unterwerfen)
- Kommandeure hätten keine Möglichkeit, einen Raketenstart zu beeinflussen
- Alle Oberhäupter der Staaten mit Atomwaffen sorgten sich um das Überleben ihrer Staatsbürger. Nicht nur die Abschreckung des Gegners müsste also funktionieren, sondern auch die Selbstabschreckung, die Verantwortliche daran hindert, den Zweitschlag gegen die eigene Bevölkerung herbeizuführen
- Die Staatsführer wagten auch deshalb einen Erstschlag, weil sie annähmen, dass das gegnerische Raketensystem versage oder dass beim bereits vernichtend getroffenen Gegner Mechanismen der Selbstabschreckung wirksam würden, indem die Sprengkraft der Erstschlagwaffen so berechnet ist, dass erst durch den Gegenschlag Folgen wie der Nukleare Holocaust ausgelöst würden
- Beide Seiten gingen davon aus, dass die andere Seite bereit sei, ihre Atomwaffen einzusetzen, dass sie also nicht bloß „bluffe“. Damit dieser Effekt nicht eintritt, müsste jede Seite glaubhaft den Eindruck vermitteln, sie sei bereit, die Menschheit zu vernichten. Es dürfte also keine (womöglich noch von Verantwortlichen öffentlich bekundeten) moralischen Skrupel geben, das Ende der Menschheit vorzubereiten. Nur diese Haltung gilt als „rational“ (obwohl die Abkürzung „MAD“ diesbezüglich Selbstironie ausdrückt)
- Unfähigkeit zur Verteidigung:
- Es dürften keine eventuell zum Schutz der eigenen Bevölkerung und Industrie ausreichenden Bunker vorhanden sein,
- Es dürfte keine Entwicklung entsprechender Anti-Raketen-Technologien oder Schutzausrüstungen geben
Diese Annahmen für MAD können unter folgenden Begriffen zusammengefasst werden: Potenzial, Glaubwürdigkeit, Kommunikation und Rationalität. Auch wenn sie auf die beiden Antagonisten USA und Sowjetunion im Großen und Ganzen zutrafen, ist zweifelhaft, inwieweit dies auch für einige gegenwärtige Atommächte (z. B. Nordkorea) gilt.[7]
Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR widersprach der Doktrin des Gleichgewichts des Schreckens in Beschlüssen von 1982, 1983 und 1987 mit dem eigenen Diktum "Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung".
Literatur
- Lawrence Freedman: Deterrence, Polity, Cambridge 2004, ISBN 0-7456-3113-4.
- Dieter Senghaas: Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1981, ISBN 3-434-00439-4.
- Franz Böckle, Gert Krell (Hrsg.): Politik und Ethik der Abschreckung, Christian Kaiser Verlag, München 1984, ISBN 3-459-01558-6.
- Rana Deep Islam: Die Avantgarde der europäischen Sicherheit. WiKu-Wissenschaftsverlag, Duisburg 2006, ISBN 3-86553-150-4 und Paris 2006: WiKu Éditions Paris EURL.
Weblinks
- Keir A. Lieber and Daryl G. Press, The Rise of U.S. Nuclear Primacy („Foreign Affairs“, März/April 2006)
- Risiken des russischen Frühwarnsystems, Januar 2003 (englisch)
- Henry D. Sokolski (Hg.): Getting MAD: Nuclear Mutual Assured Destruction, Its Origins and Practice, Strategic Studies Institute of the U.S. Army War College, Nov. 2004 (PDF; 1,29 MB)
- Risiken der derzeitigen nuklearen Abschreckungskonstellation und Lösungsansätze, Frühjahr 2008 (PDF; 57 kB)
Einzelnachweise
- Antrittsrede von John F. Kennedy im John F. Kennedy Presidential Library and Museum, englisch
- deutsche Übersetzung der Antrittsrede von John F. Kennedy im John F. Kennedy Presidential Library and Museum.
- Für den Absatz: Dieter Senghaas: Rückblick und Ausblick auf Abschreckungspolitik. In: Franz Böckle, Gert Krell (Hrsg.): Politik und Ethik der Abschreckung. München 1984, S. 98–132, hier S. 100 f.
- Peter Rudolf, „Abschreckung“ in: Dieter Nohlen, Rainer-Olaf Schultze, Lexikon der Politikwissenschaft, Theorien, Methoden, Begriffe 2. Auflage 2004.
- Henry D. Sokolski, “Getting MAD: Nuclear mutual assured destruction, it's origins and practice” (Memento vom 27. Mai 2008 im Internet Archive), 2004, Strategic Studies Institute, United States Army War College, S. 278.
- Christina Ruta: Gleichgewicht des Schreckens. Deutsche Welle, 14. Oktober 2012, abgerufen am 1. Dezember 2016.
- Andreas Wenger Kontinuität und Wandel in der internationalen Sicherheitspolitik, in: Österreichische Militärische Zeitschrift, Ausgabe 1/2003.