Dies irae
Dies irae (lat. „Tag des Zorns“, häufig auch in der mittellateinischen Form Dies ire) ist der Anfang eines mittelalterlichen Hymnus über das Jüngste Gericht. Vom 14. Jahrhundert bis 1970 wurde er im römischen Ritus als Sequenz der Totenmesse gesungen und ist heute nur noch in der außerordentlichen Form des römischen Ritus Bestandteil des Requiems; außerdem kann er „ad libitum“ im Stundengebet des römischen Ritus an Allerseelen und in der letzten Woche des Kirchenjahres verwendet werden. Der Text wurde durch das Konzil von Trient (1545–1563) als fester Bestandteil des Requiems bestätigt. Als Autor wird traditionell Thomas von Celano angesehen, ein Freund und Biograph des hl. Franz von Assisi; diese Zuschreibung ist allerdings umstritten.
Der Hymnus
Das Dies irae, gelegentlich einfach als Totensequenz bezeichnet, weist ein alternierendes, akzentuierendes trochäisches Versmaß auf. Der Hymnus besteht aus zunächst 17 dreizeiligen Strophen und wird durch drei zweizeilige Strophen beendet. Alle Verse einer Strophe reimen sich am Ende. Inhaltlich orientiert sich der Hymnus an einer Schriftstelle des Propheten Zefanja.[1] Er ist ein radikaler Bruch mit der antiken Hymnendichtung, unter anderem durch die Verwendung von Endreim und akzentuierender Betonung (Rhythmus) statt der älteren metrischen Versmaße, die auf Silbenlänge und -kürze beruhten. Seine Melodie wurde in älteren Vertonungen lautstark gesungen.
Lateinischer Originaltext und deutsche Übertragung
(lateinisch gesungen)
Dies irae dies illa,[1] |
Tag der Rache, Tag der Sünden, |
Beispiele für Zitate
- Johann Wolfgang von Goethe: Faust I, 3.20: Dom (Volltext bei Wikisource)
Vertonungen
Das Dies irae wurde erstmals im 13. Jahrhundert als Sequenz – eine Spätform des gregorianischen Chorals – vertont und wurde in dieser Form Bestandteil des Requiems.
Bei späteren Kompositionen der Totenmesse wird das Dies irae zumeist in die Teile Dies irae, Tuba mirum, Liber scriptus, Rex tremendae, Recordare, Ingemisco, Confutatis und Lacrimosa untergliedert.
Die Komponisten verfahren mit der Anordnung der Sätze häufig recht frei, auch der Text des mittelalterlichen Hymnus wird nicht immer verwendet. Meistens hat der Dies-irae-Satz gewaltige Dimensionen. Hector Berlioz verwendet in seinem Requiem zum Beispiel 16 Pauken und vier Blechbläser-Chöre, die das Tuba mirum (Posaune, wundertönend durch die grabgewölbten Hallen) plastisch darstellen. Berlioz übernahm Abschnitte der alten Melodie in der Symphonie fantastique, sein Dies irae in der Grande Messe des Morts hingegen kommt ohne den Hymnus aus.
Auch sonst wird das gregorianische Dies-irae-Motiv häufiger in musikalischen Werken zitiert, wenn auf das Gericht Gottes oder auch einfach auf den Tod hingewiesen werden soll. Darunter sind durchaus auch sehr weltliche Kompositionen. Beispielsweise zitiert Jerry Goldsmith das Motiv in seiner Filmmusik zu Gremlins 2 – Die Rückkehr der kleinen Monster. Eine weitere Verwendung fand das Dies irae im Vorspann des Horrorfilms The Shining von Stanley Kubrick. Kubrick bediente sich hier einer Interpretation von Wendy Carlos.
Ingmar Bergman bediente sich für eine Sequenz seines mittelalterlichen Mysterienspiels Das siebente Siegel ebenfalls des Dies irae, hier untermalt es den Auftritt einer Märtyrerprozession.
Beispiele für Vertonungen
Zitate des gregorianischen Hymnus in der klassischen Musik
- Hendrik Andriessen: Libertas venit, Rhapsodie für Orchester (1954)
- Hector Berlioz: Parodie des Dies Irae in „Songe d’une nuit du Sabbat“ (Hexensabbat), 5. Satz der Symphonie fantastique op. 14 (1830)
- Lili Boulanger: mehrfaches Zitat des Dies Irae in „Pour les funérailles d’un Soldat“ für vierstimmigen gemischten Chor, Bariton solo und Orchester/Klavier (1912)
- Dirk Brossé: Oscar for Amnesty, Tone Poem for Symphonic Band (1987)
- George Chadwick: Tam O’Shanter, symphonische Ballade (1915)
- Aram Chatschaturjan: 2. Sinfonie, 3. Satz
- Frédéric Chopin: Regentropfen-Prélude
- Johann Nepomuk David: Es ist ein Schnitter, heißt der Tod (Dies Irae), Choralwerk X. Heft (1947)
- Paul Giger: Chartres für Violine solo
- Alexander Glasunow: Suite für Orchester Aus dem Mittelalter op. 79, 2. Satz (Scherzo)
- Hershy Kay: „Entrance of Magicians“ aus Cakewalk (Ballett über Themen von Louis Moreau Gottschalk, 1951)
- Edward Gregson: 2. Satz (Chorale and Variations) in Partita für Brassband (1971)
- Jürg Hanselmann: „Dies Irae“, Variationen für zwei Klaviere und Orchester (2005)
- Joseph Haydn: Adagio-Einleitung des 1. Satzes in der Symphonie Nr. 103
- Bertold Hummel: Jazzparodie des Dies Irae im 4. Satz „Hexensabbat“ der „Faustszenen“ für Bläser- und Schlagzeugensemble op. 72 (1979/85)
- Franz Liszt: Totentanz. Paraphrase über Dies irae, Sinfonische Dichtung für Klavier und Orchester (1849)
- Horst Lohse: Dies Irae-Zitate im Hieronymus-Bosch-Zyklus, Teil 2: Die vier letzten Dinge (Quasi una Sinfonia da Requiem) (1996/97) für Orgel und großes Orchester, und Teil 3: Cave cave Dominus videt (2011/12) für Stimme und Orgel (Text: Michael Herrschel)
- Gustav Mahler: 2. Sinfonie c-Moll (Auferstehungssinfonie) (1887–1894, rev. 1903)
- Bohuslav Martinů: Památník Lidicím (Gedenkstück für Lidice) (1943), melodisches Zitat in den Klarinetten und Fagotten Takt 2–4
- Nikolai Mjaskowski: 6. Sinfonie (1921–1923/rev. 1947–1948), 4. Satz (neben dem Revolutionslied Ah! Ça ira)
- Arvo Pärt: Miserere (1989, unter Verwendung eines Dies-irae-Kompositionsentwurfs von 1976)
- Krzysztof Penderecki: Dies Irae – Oratorium zum Gedächtnis der Opfer von Auschwitz (1967)
- Gabriel Pierné: L’an mil – Symphonisches Gedicht für Orchester und Chor (1897), 1. Satz
- Sergei Rachmaninow:
- Prélude cis-Moll op. 3 Nr. 2 (1882)
- Sinfonie Nr. 1 d-Moll op. 13 (1896)
- Die Toteninsel, Sinfonische Dichtung op. 29 (1909)
- Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43 für Klavier und Orchester (1934)
- 3. Satz aus Sinfonische Tänze op. 45 (1940)
- Ottorino Respighi: „Butantan“ aus dem Zyklus Impressioni brasiliane für Orchester (1927)
- Camille Saint-Saëns:
- Danse macabre, Sinfonische Dichtung op. 40 (1875)
- 3. Sinfonie c-Moll (Orgelsinfonie) op. 78 (1886)
- Dmitri Schostakowitsch:
- „Requiem“-Satz aus der Suite zur Filmmusik von Hamlet op. 32a (1932)
- 14. Sinfonie für Sopran, Bass und Kammerorchester op. 135 (1969)
- Kaikhosru Shapurji Sorabji: Sequentia Cyclica super Dies irae ex Missa pro Defunctis, für Klavier (1948–1949)
- Pjotr Tschaikowski:
- Nr. 4 (Trauermarsch) aus 6 Stücke über ein Thema op. 21 (1873)
- eine Variation im 4. Satz der Suite Nr. 3 für Orchester G-Dur op. 55 (1884)
- Eugène Ysaÿe: Sonate Nr. 2 Obsession für Violine solo op. 27,2 (1924)
- Kurt Weill: 1. Satz (Andante con moto) des Konzerts für Violine und Blasorchester op. 12 (1924)
- Mieczysław Weinberg: 2. Satz (Allegro molto) aus der Sinfonie Nr. 17 op. 137 (1982–1984)
- Bernd Alois Zimmermann:
- 2. Satz (Fantasia) des Konzerts für Violine und großes Orchester (1950)
- Vorspiel (Preludio) der Oper Die Soldaten (1965)
Bekannte Dies-irae-Sätze in Requiem-Kompositionen
- Hector Berlioz: Grande messe des morts, op. 5 (1837)
- Heinrich Biber: Requiem à 15 A-Dur (1687?)
- Benjamin Britten: War Requiem (1962)
- Alfred Bruneau: Requiem (1884–1888)
- Luigi Cherubini: Requiem
- Antonín Dvořák: Requiem op. 89 (1890)
- Asger Hamerik: Requiem op. 34 (1886/1887)
- Hans Werner Henze: Requiem
- Karl Jenkins: Requiem (2005)
- Zoltán Kodály: Dies irae
- Cyrillus Kreek: Requiem c-Moll, „Dies Irae“ (1927)
- Wolfgang Amadeus Mozart: Requiem d-Moll KV 626 (1791)
- Marcus Paus: Requiem (2014)
- Ildebrando Pizzetti: Assassinio nella cattedrale, Oper (UA: 1. März 1958 im Teatro alla Scala Mailand)
- Zbigniew Preisner: Requiem dla mojego przyjaciela
- Max Reger: Lateinisches Requiem (Fragment, 1914)
- Camille Saint-Saëns: Requiem op. 54 (1878)
- Antonio Salieri: „Kleines“ Requiem c-Moll (1804)
- Franz von Suppè: Requiem (1855)
- Giuseppe Verdi: Messa da Requiem (1874)
Zitate in der Filmmusik
- Wendy Carlos: Main Title (Shining, 1980)
- Danny Elfman: Nightmare before Christmas
- Fried, Gerald: The Return of Dracula (Album: The Return of Dracula, I Bury the Living, The Cabinet of Caligari, Mark of the Vampire, Film Score Monthly 2004)
- Jerry Goldsmith:
- Mephisto Waltz (Album: Mephisto Waltz)
- Gremlins 2 – Die Rückkehr der kleinen Monster (Album: Gremlins II)
- Lionheart (Album: Lionheart)
- Looney Tunes: Back in Action (Album: Looney Tunes – Back in Action)
- Gottfried Huppertz: Metropolis (Stummfilmmusik, DVD: Metropolis, Ufa / Transit)
- Alan Menken: Der Glöckner von Notre Dame (Disney Records)
- Ennio Morricone: Dies Irae Psichedelico (Album: Ennio Morricone – Escalation OST)
- Howard Shore
- Keep It Secret, Keep It Safe (Album: Der Herr der Ringe – Die Gefährten, Reprise)
- Der Herr der Ringe – Die Rückkehr des Königs (Album: Der Herr der Ringe – Die Rückkehr des Königs, Reprise)
- Dimitri Tiomkin: Ist das Leben nicht schön?
- John Williams: Burning Homestead (Album: Star Wars Episode IV: Eine Neue Hoffnung)
- Francis Ford Coppola Bram Stokers Dracula (bei 1:20:39)
- Hans Zimmer
- King of Pride Rock (Album: Der König der Löwen)
- Pirates of the Caribbean – Fremde Gezeiten
Moderne Vertonungen des Textes
- Abigor: Kingdom of Darkness (Album: Verwüstung / Invoke the Dark Age, Black Metal)
- ASP: Requiem (Album: Requiembryo 2007)
- Clint Bajakian, Peter McConnel, Michael Z. Land: Indiana Jones and the Fate of Atlantis (Spielemusik)
- Beyond the Black: Dies Irae (Album: Lost In Forever, 2016, Symphonic Metal)
- Bathory: Dies Irae (Album: Blood Fire Death, Black Metal)
- Callejon: Dies Irae (Album: Metropolis, 2020, Metalcore)
- Dark Moor (Album: The Gates of Oblivion, 2002, Power Metal)
- Dissection: Starless Aeon (Album: Reinkaos, 2006, Melodic Death Metal)
- Hans-Ola Ericsson: Dies irae für Soli (TTBarBKontraB) und 12stimmigen Chor, 1975
- Epica: Dies Irae (Album: The Classical Conspiracy, 2009, Symphonic Metal)
- Eurielle: City of the Dead (Album: Arcadia, 2015)
- Evanescence: Lacrymosa (Album: The Open Door, 2006)
- Juno Reactor: Conquistador I (Album: Labyrinth, 2004, Goa-Trance)
- Helga Pogatschar: Sequentia (Album: Mars Requiem, 1995, Post-Industrial)
- Helium Vola: Dies Ire (EP: In lichter Farbe steht der Wald, 2004)
- In Strict Confidence: In Favilla (Album: Exile Paradise, 2006)
- Lacrimosa: Die Schreie sind verstummt (Album: Echos, 2003)
- Libera: Dies Irae (Album: Libera, 1999)
- Luca Turilli’s Dreamquest: Gothic Vision (Album: Lost Horizons, Power Metal)
- Mantus: Dies Irae (Album: Fremde Welten)
- Guntram Pauli: Rock Requiem (1978)
- Rage: Dies Irae (Album: Unity, Heavy Metal)
- Rotting Christ: Dies Irea (Album : The Heretics, Black Metal)
- Schwarzer Engel: Der Zorn Gottes (Album: Apokalypse)
- Sigh: Salvation in Flame/Confutatis (Album: Hangman’s Hymn: Musikalische Exequien, Extreme Metal)
- Sky: Dies Irae (Single, Progressive Rock, 1980)
- Jim Steinman: Tanz der Vampire
- Subway to Sally: Tag der Rache (Album: Hochzeit, Folk Rock 1999)
- Symphony X: A Fool’s Paradise (Album: V – The New Mythology Suite, Progressive Metal; ferner enthält dieses Album noch eine Adaption des Dies Irae aus dem Verdi-Requiem)
- Thyrfing: Far Åt Helvete (Album: Farsotstider, 2005, Pagan Metal)
- Wolfenmond: Dies irae, Dies illa (Album: Flammenspiel und Schattenklang, 2004, Musik der Mittelalterszene)
Literatur
- Friedrich Gustav Lisco: Stabat Mater, Hymnus auf die Schmerzen der Maria: nebst einem Nachtrage zu den Uebersetzungen des Hymnus Dies irae: zweiter Beitrag zur Hymnologie. Berlin: G.W.F. Müller 1843 (Digitalisat)
- Fidel Rädle: Dies irae. In: Hansjakob Becker (Hrsg.): Im Angesicht des Todes. Ein interdisziplinäres Kompendium. St. Ottilien: EOS 1987 ISBN 978-3-88096-283-5, S. 331–340
Weblinks
- Einführung Symphonie fantastique
- Ausführliche Besprechung des Dies Irae (mit wörtlicher Übersetzung ins Deutsche)