Behringwerke
Die Behringwerke waren ein pharmazeutisches Unternehmen in Marburg, das aus dem Zusammenwirken Emil von Behrings mit den Höchster Farbwerken hervorging und von 1904 bis 1997 bestand. Heute sind die Behringwerke ein bedeutender Biotechnologieverbund, in dem viele namhafte Unternehmen der Branche vertreten sind.[1]
Gründung und Geschichte
Emil von Behring, der 1895 Professor an der Philipps-Universität Marburg wurde, erhielt 1901 für seine Entwicklung der Serumtherapie gegen Diphtherie den Nobelpreis. Von dem Preisgeld finanzierte er die Gründung einer pharmazeutischen Fabrik zur Herstellung des Serums.[2] Nachdem sein erstes Labor am Schloss zu klein wurde, und da die Stadt Marburg ihm kein geeignetes Grundstück zur Verfügung stellen konnte, gründete er 1904 das Behring-Werk oHG. 1913 konnte er eine alte Ziegelei im benachbarten Marbach kaufen, dem späteren Standort des Unternehmens, das als Offene Handelsgesellschaft zeitweise über 3000 Mitarbeiter[3] beschäftigte.
Unter der Leitung von Albert Demnitz beteiligten sich die Behringwerke als Teil der I.G. Farbenindustrie ab 1942 in Zusammenarbeit mit dem Hygiene-Institut der Waffen-SS an Fleckfieberversuchen an Häftlingen im KZ Buchenwald. Dabei kamen bis zu 247 Häftlinge ums Leben.[4]
Nach der Auflösung der I.G. Farbenindustrie wurden die Behringwerke 1952 Teil der Hoechst AG.
1967 kam es zum Ausbruch eines neuartigen Virus in den Laboren, das nach der Stadt Marburg-Virus genannt wurde. Eingeführt wurde das Virus durch für die Impfstoffproduktion eingeführte Meerkatzen aus Uganda.[5]
Umwandlung in einen Industriepark
Ab 1997 wurden die Behringwerke wie die gesamte Hoechst AG in verschiedene Einzelfirmen aufgeteilt und verkauft oder fusioniert (siehe auch CSL Behring, Siemens Healthineers, GlaxoSmithKline, Novartis, Dade Behring, Sanofi-Aventis, Pharmaserv).[6]
Umgesetzt wird dies nach dem Betriebskonzept eines Industrieparks, wobei die Pharmaserv GmbH als Betreibergesellschaft der Werkteile Marbach und Görzhausen I die Infrastruktur (Straßen und Parkplätze, Versorgungsleitungen, Rechenzentrum, Logistikzentrum, Werkfeuerwehr, Mietflächen) bereitstellt.[7] Für nicht durch die Betreibergesellschaft erbrachte Dienstleistungen (z. B. Kantinenbetrieb) haben sich diverse weitere Dienstleister auf dem Werkgelände angesiedelt (u. a. Provadis und Consortium Gastronomie GmbH).
Schon zuvor hat die Hoechst AG verschiedene Sparten verkauft und an Standorten, an denen daraufhin verschiedene Unternehmen arbeiteten, den Standortbetrieb an eigens dafür gegründete Gesellschaften ausgelagert (siehe unter anderem Infraserv Höchst, InfraServ Wiesbaden, InfraServ Gendorf, InfraServ Knapsack). In den vorherigen Fällen wurden dabei die Gesellschaftsanteile des Standortbetreibers auf die jeweiligen "Gründungsmitglieder" des jeweiligen Industrieparks verteilt. Der Standort der ehemaligen Behringwerke in Marburg wurde jedoch in 2005 durch den Hoechst-Nachfolger Sanofi-Aventis im Rahmen eines Management-Buy-outs an Privatpersonen verkauft. Damit ist der Standortbetreiber der Behringwerke laut eigener Aussage der einzige unabhängige Standortbetreiber in Deutschland.[8]
Entwicklung als Industriepark
Bedingt durch das Wachstum der einzelnen Standortteilnehmer wurden und werden diverse Investitionen am Standort getätigt, die auch dessen Erweiterung zur Folge haben. Hervorzuheben ist beispielsweise der Aufbau des dritten Werkteils "Mars-Campus" ("Marburger Standort") durch Novartis, welcher nach Investitionen in Höhe von 240 Mio. € 2014 eröffnet wurde.[9] Dieser Werkteil firmiert bei der Stadt Marburg unter Görzhausen II und wird durch den Pharmakonzern selbst betrieben. Aktuell erfolgt die Erweiterung dieses Werkteils durch den neuen Eigentümer GlaxoSmithKline um neue Produktionsanlagen (geplantes Volumen: 162 Mio. €)[10] und die Erweiterung des Logistikzentrums[11]. Mittlerweile werden für Teile des Werkteils allerdings neue Produkte gesucht, da die Rechte der hauptsächlich produzierten Impfstoffe vom GSK-Konzern an Bavarian Nordic verkauft wurden und der Konzern innerhalb von fünf Jahren eine eigene Produktion aufbauen will.[12][13]
Innerhalb des Standortes Görzhausen baut CSL Behring derzeit eine neue Anlage zur Basisfraktionierung, welche ab Ende 2022 die aktuell im Hauptwerk Marbach befindliche Anlage ersetzen und das vierfache Volumen liefern soll. Außerdem sollen in einem zweiten Projekt weitere Verarbeitungsschritte in dem neuen Gebäude vorgenommen werden. Die Investition wird durch das Unternehmen insgesamt auf 547 Mio. € beziffert.[14][15]
Zudem wurde Ende 2018 bekannt, dass Standortbetreiber Pharmaserv CSL Behring ein weiteres noch zu bauendes Bürogebäude für 700 Mitarbeiter vermieten wird.[16] In diesem Gebäude sollen die auf viele kleine Bürogebäude verteilten Mitarbeiter konsolidiert werden. Ähnliches strebt die Firma CSL Behring auch für die Laboratorien aus Forschung und Entwicklung an und baut deswegen selber seit November 2019 ein neues Laborgebäude für ca. 600 Mitarbeiter am Standort Görzhausen.[17]
Trotz der weiterlaufenden Erweiterungsmaßnahmen hat CSL Behring im August 2020 bis auf weiteres einen weltweiten Einstellungsstopp verhängt. Hintergrund sind fehlende Plasmaspenden auf Grund der Corona-Pandemie, so dass der Firma der Rohstoff zur Medikamentenherstellung ausgeht.[18][19]
Auf Grund des aktuellen Wachstums werden seitens der Stadt zusätzliche Erweiterungsmöglichkeiten für den Standort geprüft.[20] Dazu wurden zunächst die Bebauungspläne für den Werkteil Görzhausen angepasst und Grundflächenzahl (um 100 %) sowie Baumassenzahl (um 60 % bzw. 100 %) deutlich erhöht.[21][22]
Mit einem neuen "Masterplan" der Stadt sollen außerdem die Rahmenbedingungen für weiteres Wachstum und perspektivisch die Grundlagen für den Werkteil "Görzhausen III" gelegt werden. Hierbei geht es insbesondere um die Ausweitung der Infrastruktur zur Anbindung des Standorts (Verkehr/ÖPNV, Versorgung mit Wasser, Strom, Gas und Datennetzen).[23] Schon zuvor wurde auf Anordnung des Regierungspräsidiums die Erweiterung der Werkfeuerwehr umgesetzt, so dass zu den freiwilligen Kräften noch je 6 hauptberufliche Kräfte im 24 Stunden-Dienst kommen.
In Marburg, Marbach und Görzhausen arbeiten derzeit (November 2019) ungefähr 6.000 Personen verteilt auf 16 Unternehmen.[7]
Aktuelle Unternehmen am Standort
Im Folgenden eine Auflistung der größten Unternehmen am Standort. Hinzu kommen weitere Dienstleister.
Umsatzzahlen sind, sofern sie für den Standort angegeben werden, aus dem Bundesanzeiger entnommen. Die Mitarbeiterzahlen stammen sofern nicht anders belegt aus einer Infobroschüre des Ausbildungsdienstleisters Provadis.[24]
Am 17. September 2020 wurde bekannt, dass Novartis den Standort in Marburg aufgibt und an BioNTech verkauft. BioNTech will dort verschiedene Medikamente entwickeln und produzieren, in erster Linie aber einen neuen Impfstoff gegen COVID-19. In Pressemitteilungen ist von bis zu 750 Millionen Impfdosen im Jahr die Rede[25], wobei die Abfüllung an einem anderen Standort stattfinden soll.[26] Die offizielle Umfirmierung erfolgte Anfang November 2020.[27] Die Produktion von Tozinameran hat im März 2021 begonnen.[28]
Im Januar 2021 verkaufte GSK außerdem Teile seiner Forschungsabteilung mit 80 Mitarbeitern an den Entwicklungsdienstleister Nexelis. Der Standort soll neben Aufgaben für GSK weitere Projekte übernehmen und zu diesem Zweck erweitert werden.[29]
Unternehmen | Produkt/Leistung | Mitarbeiter | Umsatz (Mio. €) |
---|---|---|---|
CSL Behring | Medikamente gegen Gerinnungsstörungen | 3.300 | 2.081 |
GlaxoSmithKline | Impfstoffe (z. B. FSME, Tollwut, Tetanus) | 1.000 | |
Siemens Healthineers | Labordiagnostik v. a. für Hämostase und Plasmaproteine | ca. 1.300 | |
Infrareal (Pharmaserv) | Standortbetrieb | 565 | 107[30] |
BioNTech | mRNA-Impfstoff, Biosimilars | 450 | |
Nexelis | Entwicklung | 80 |
Bedeutung für die Stadt Marburg und die Region
Arbeitsplätze
Als Gesamt-Standort sind die Behringwerke mit ca. 6.000 Mitarbeitenden größter Arbeitgeber vor Universität und dem privatisierten Universitätsklinikum.
Stadtfinanzen
Die Nachfolgebetriebe der Behringwerke sind die größten Steuerzahler der Stadt. So stammten in den Jahren 2015 bis 2018 durchschnittlich 90 Millionen Euro bzw. etwa 80 % der gesamten Gewerbesteuereinnahmen der Stadt vom Standort.[31] Im Jahr 2021 verzeichnete die Stadt Marburg wohl insbesondere durch die Ansiedlung von BioNTech am Standort Behringwerke den stärksten prozentualen Anstieg der Gewerbesteuereinnahmen aller hessischen Kommunen.[32] Obwohl die Stadt 70 % der zusätzlichen Einnahmen an Kreis und Land abgebe, plant die Stadt auch für 2022 mit einem großen Haushaltsplus und beschloss die Senkung des Gewerbesteuerhebesatzes ab Anfang 2022 von 400 auf 357 Punkte. Als politische Auswirkung trat daraufhin die Linke nur zwei Wochen nach Unterzeichnung des Koalitionsvertrags aus der Regierungskoalition aus, die jedoch auch ohne die Partei eine Mehrheit hat und weiterhin regiert.[33]
Sportsponsoring
Auch im Sponsoring der örtlichen Sportvereine spielen die Betriebe eine wichtige Rolle. So ist Standortbetreiber Pharmaserv Namenssponsor des BC Pharmaserv Marburg, der unter anderem in der DBBL und in der WNBL Mannschaften stellt. Weiterer wichtiger Sponsor des Vereins ist CSL Behring, die sich auch als Sponsor bei den Marburg Mercenaries (GFL) engagiert.
Siehe auch
Quellen
- Auf Spurensuche (Memento des Originals vom 12. April 2016 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- Derek S. Linton: Emil Von Behring: Infectious Disease, Immunology, Serum Therapy. American Philosophical Society, 2005, ISBN 978-0-87169-255-9, S. 297–298.
- Gundolf Keil: Robert Koch (1843–1910). Ein Essai. In: Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung. Band 36/37, 2017/2018 (2021), S. 73–109, hier: S. 84.
- Moritz Kläger, Christian Kleinschmidt, Lea Lachnitt, Markus Richter: Seuchenbekämpfung, Wissenschaft und Unternehmensstrategien: die Behringwerke und die Philipps-Universität Marburg im 20. Jahrhundert. Katalog zur Ausstellung des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Philipps-Universität Marburg und des Archivs der Philipps-Universität Marburg im Hessischen Staatsarchiv Marburg vom 9. November 2021 bis 11. März 2022. S. 10.
- Killer-Viren: Sprung aus der Nische. In: Der Spiegel. Nr. 2, 1995 (online).
- Hoechst AG: Die Zerschlagung. In: CHEM Manager. 15. März 2008, abgerufen am 24. November 2019.
- Werkshomepage
- Infraereal will als unabhängige Standortbetreibergruppe den Markt aufmischen. 22. Januar 2008, abgerufen am 24. November 2019.
- Gesa Coordes: Impfstoff vom Mars. In: Ärztezeitung. 6. Juni 2014, abgerufen am 1. Mai 2018.
- Spatenstich in Marburg: GSK investiert 162 Mio. Euro. In: pharma-food.de. 22. März 2017, abgerufen am 1. Mai 2018.
- 10 Mio. Infrastrukturinvestition für Lagererweiterung auf dem MARS*-Campus von GSK. In: de.gsk.com. 25. April 2018, abgerufen am 1. Mai 2018.
- Bavarian Nordic übernimmt Rabipur und Encepur von GSK. 21. Oktober 2019, abgerufen am 18. November 2019 (deutsch).
- GSK verkauft zwei Impfstoffe. Abgerufen am 18. November 2019.
- Behring-Bau nimmt Gestalt an. In: Ärztezeitung. 27. März 2018, abgerufen am 1. Mai 2018.
- CSL Behring erhält Zuschlag für „Sphinx“. Abgerufen am 18. November 2019.
- Pharmaserv baut neues Headquarter für CSL Behring am Standort Marburg -. 12. Dezember 2018, abgerufen am 20. Januar 2019 (deutsch).
- Millioneninvestition in Marburg. Abgerufen am 18. November 2019.
- Pharmafirma spürt Corona-Krise – Einstellungsstopp bei der CSL Behring. Abgerufen am 1. November 2020.
- CSL Behring verhängt Einstellungsstopp in Marburg. Abgerufen am 1. November 2020.
- Gewerbeentwicklungsplanung Stadt Marburg. Stadt Marburg, 2017, S. 73–76, abgerufen am 1. Mai 2018.
- Stadt Marburg: 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 26/4. (marburg.de [abgerufen am 20. Oktober 2018]).
- Stadt Marburg: 2. Änderung des Bebauungsplans Nr. 26/4. (marburg.de [abgerufen am 20. Oktober 2018]).
- Vorlage - VO/7297/2020 - Masterplan Behring-Standort. Abgerufen am 6. Juni 2020.
- Ausbildungsbroschüre Marburg für 2021. Provadis, abgerufen am 10. Juli 2021.
- Daniel Schleidt: Coronavirus: Biontech will Werk für mögliche Impfstoffproduktion übernehmen. In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 17. September 2020]).
- BioNTech: BioNTech erweitert Produktionskapazitäten. In: biontech.de. BioNTech, 17. September 2020, abgerufen am 17. September 2020.
- BioNTech SE auf LinkedIn: #COVID19 #TeamBioNTech | 41 Kommentare. Abgerufen am 5. Dezember 2020.
- FAZ.net vom 1. April 2021
- finanzen net GmbH: Nexelis acquires the GSK vaccines clinical bioanalytical laboratory located in Marburg - Germany and enters into a 5-year strategic agreement with GSK. Abgerufen am 13. Februar 2021 (amerikanisches Englisch).
- Fokus Infrastruktur. In: Infrareal - Standortmanagement. Abgerufen am 17. September 2020 (deutsch).
- Neuer Masterplan für Industriepark. Abgerufen am 4. Februar 2022.
- Falk Heunemann: Rekordeinnahmen: Mehr Gewerbesteuer denn je für Hessens Kommunen. In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 3. Februar 2022]).
- hessenschau de, Frankfurt Germany: Marburger Koalition zerbricht an Streit um Gewerbesteuer. 17. Dezember 2021, abgerufen am 3. Februar 2022 (deutsch).
- Alfred Pletsch (Hrsg.): Marburg: Entwicklungen – Strukturen – Funktionen – Vergleiche. Magistrat der Stadt, Presseamt. Marburg 1990
- Chiron Behring (Hrsg.): Behrings Erbe: Leben schützen für Generationen. ecomed. Landsberg/Lech 2001
- Unternehmensgeschichte Novartis Vaccines
- Unternehmensgeschichte pharmaserv
- Unternehmensgeschichte CSL Behring
Weblinks
- Behrings Biografie in der Emil-von-Behring-Bibliothek der Universität Marburg
- Standort Behringwerke
- Literatur über Behringwerke nach Stichwort nach GND In: Hessische Bibliographie
- Frühe Dokumente und Zeitungsartikel zur Behringwerke in der Pressemappe 20. Jahrhundert der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft