Bahnsteigkarte
Eine Bahnsteigkarte, auch Bahnsteigbillet, Bahnsteigticket[1][2] beziehungsweise in Österreich Perronkarte oder Perronbillet genannt, ist ein spezielles Dokument im Bahnverkehr. Sie erlaubt es auch denjenigen Personen durch Bahnsteigsperren abgetrennte Bereiche eines Bahnhofs zu betreten, die selbst keine Reiseabsicht haben und somit auch nicht im Besitz einer gültigen Fahrkarte sind. Sie können mit Hilfe einer Bahnsteigkarte beispielsweise ihre Angehörigen direkt von und zum Bahnsteig begleiten, etwa um sie beim Tragen des Gepäcks zu unterstützen oder ihnen den richtigen Zug respektive Ausgang zu zeigen. Die Bahnsteigkarte dient bei einer Kontrolle als Nachweis, dass ihr Besitzer kein Passagier ist und somit auch nicht der Beförderungserschleichung beschuldigt werden kann. Bahnsteigkarten werden entweder zu einem geringen symbolischen Preis ausgegeben, das heißt, sie kosten deutlich weniger als die jeweils günstigste Fahrkarte, oder sind sogar gratis. Bahnsteigkarten werden meist beim Betreten des Bahnsteigbereiches durch Lochung oder Stempelung entwertet und gelten für eine oder zwei Stunden. Schon früh erfolgte deren Abgabe dabei durch spezielle Selbstbedienungsautomaten, lange bevor sich Fahrkartenautomaten durchsetzen konnten.
Geschichte
Deutschland
Der Verkauf von Bahnsteigkarten begann bereits in der Frühzeit der Eisenbahn, als das neue Transportmittel zahlreiche Zuschauer anlockte, was zu Gedränge und Unruhe auf den Bahnsteigen führte, so dass die Reisenden Schwierigkeiten hatten, zum Zug zu gelangen, und Unfälle leicht möglich waren. Außerdem gab es bei vielen Bahngesellschaften seinerzeit noch Abteilwagen, bei denen der Schaffner während der Fahrt zur Fahrkartenkontrolle außen über ein Trittbrett von Abteil zu Abteil und von einem Wagen zum nächsten klettern musste, was besonders bei steigender Geschwindigkeit sehr gefährlich war. Daher kontrollierte man die Fahrkarten bereits vor der Abfahrt an der Bahnsteigsperre und wollte deshalb die Zahl der den Bahnsteig betretenden Personen ohne Fahrtabsicht möglichst begrenzen.
In Deutschland kosteten Bahnsteigkarten zunächst zehn, später zwanzig Pfennig. Lenin wird folgender Ausspruch zugeschrieben:
„Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich erst eine Bahnsteigkarte!“[3]
Die Bahnsteigkarten verschwanden in der Regel zusammen mit den Bahnsteigsperren, womit auch die Bahnsteigschaffner beziehungsweise Sperrenschaffner entfielen. Eine Ausnahme stellte der Bahnhof Berlin-Zoologischer Garten in West-Berlin dar, wo noch bis 1987 Bahnsteigkarten für eine D-Mark verkauft wurden. Eine Besonderheit stellten die speziellen Karten zur Benutzung des Bahnhofstunnels im hannoverschen Hauptbahnhof dar. Sie wurden kostenlos abgegeben, damit die Fahrgäste nachts, wenn die Fahrkartenausgabe in der Haupthalle geschlossen war, zum dortigen Nachlöseschalter gelangen konnten.
Im Verkehrsverbund Großraum Nürnberg (VGN) wurden die Bahnsteigkarten erst nach der Jahrtausendwende abgeschafft, im September 2003 waren diese noch Bestandteil der Tarifbestimmungen.
Bis zum 31. Juli 2019 gab es auch im Münchner Verkehrs- und Tarifverbund (MVV) Bahnsteigkarten zu 0,40 Euro für S- und U-Bahn-Stationen. Die Karten waren selbst zu entwerten, sie galten eine Stunde ab Entwertung.[4] Im Jahr 2008 wurden innerhalb des MVV insgesamt 25.907 Bahnsteigkarten verkauft.[5] Für 2009 gab die Pressestelle rund 16.200 verkaufte Bahnsteigkarten an, 2012 waren es 18.929.[6][7]
Der Hamburger Verkehrsverbund (HVV) ist der letzte noch verbleibende deutsche Verkehrsverbund mit Bahnsteigkarten: „Abgegrenzte Bahngebiete („fahrkartenpflichtiger Bereich“) dürfen nur mit einem gültigen Fahrausweis oder Bahnsteigkarte betreten werden. Die Bahnsteigkarte zum Preis von 0,30 Euro berechtigt innerhalb von einer Stunde nach ihrer Ausgabe zum Betreten des fahrkartenpflichtigen Bereichs der Haltestelle, an der sie gelöst wurde.“[8][9] In den Jahren 2011 bis 2016 wurden jährlich etwa 8000 Bahnsteigkarten im HVV-Tarifgebiet verkauft. Der Erlös betrug jeweils zwischen 2000 und 3000 Euro. Die U-Bahn-Haltestelle mit den meisten verkauften Bahnsteigkarten zwischen 2011 und März 2017 ist Horner Rennbahn. Hier wurden in diesem Zeitraum 1727 Bahnsteigkarten gelöst.[10] 2017 wurden im Tarifgebiet 7929 Karten gelöst.[11] Im Dezember 2019 senkte der HVV den Preis einer Bahnsteigkarte von 30 Cent auf 10 Cent.[12]
Schweiz
Da in der Schweiz Bahnsteigsperren nie üblich waren beziehungsweise nur ausnahmsweise zu Grossanlässen oder an Feiertagen zum Einsatz kamen,[13] sind auch Bahnsteigkarten eine Seltenheit. In der Sammlung von SBB Historic befindet sich jedoch ein Automat, der als solche bezeichnete Bahnsteigkarten ausgeben konnte.[13] Unter einem Perronbillett versteht man in der Schweiz hingegen eine Fahrkarte, die vor Abfahrt des Zuges auf dem Bahnsteig gelöst werden kann.[14]
Österreich
Bei der Wiener Stadtbahn diente die günstigste Preisstufe zu zehn Heller zugleich als Perronkarte.[15]
Japan
Bahnsteigkarten sind in Japan an bemannten Stationen nach wie vor erhältlich zu Preisen von 140 bis 170 ¥ (1,15 bis 1,40 EUR) für Erwachsene.[16] Sie berechtigen den Bahnsteig der jeweiligen Station für zwei Stunden zu betreten. Die stehenden Züge dürfen jedoch nicht betreten werden. An einigen großen Stationen von Japan Railways werden sogar "Bahnsteig-Monatskarten" zu Preisen von 4540 und 5030 ¥ verkauft.
Großbritannien
An einigen Stationen der National Rail werden noch Bahnsteigkarten verkauft[17] zum Preis von 0,10 £ (0,11 EUR) und sind eine Stunde lang gültig.
Polen
In Polen wurden Bahnsteigkarten in den 1980er-Jahren abgeschafft.
Indien
In Indien werden Bahnsteigkarten zum Preis von zehn Rupien (0,13 EUR) verkauft und sind zwei Stunden gültig.
Weblinks
Einzelnachweise
- MVG verteidigt Bahnsteigticket, Artikel im Oberbayerischen Volksblatt vom 12. November 2018, online auf ovb-heimatzeitungen.de, abgerufen am 13. April 2019
- Betriebsschluss, Bahnsteigticket & Co – Dauer-Ärger bei MVV und MVG: Was die Münchner nervt, Artikel in der Abendzeitung vom 6. Februar 2019, online auf abendzeitung-muenchen.de, abgerufen am 13. April 2019
- Lenin und die Bahnsteigkarte, in: Richard Deiss: Der Eskimo am Westbahnhof: Kleine Geschichten zu 111 Bahnhöfen in den Alpenländern. Books on Demand, Norderstedt 2011, ISBN 978-3-8423-7425-6, S. 46; eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
- MVV Tarifsystem Bahnsteigkarte (Memento vom 22. September 2008 im Internet Archive)
- Kurioser Strafzettel in München: 40 Euro für zwei Croissants, tz.de
- Andreas Schubert: Der MVV schafft die Bahnsteigkarte ab. In: sueddeutsche.de. 5. Juli 2019, ISSN 0174-4917 (sueddeutsche.de [abgerufen am 5. Juli 2019]).
- Münchner Bahnsteigkarte abgeschafft
- Tarifbestimmungen/Beförderungsbedingungen (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven) , S. 6 (PDF-Datei; 2,86 MB)
- FAQ des Hamburger Verkehrsverbunds (Memento vom 13. August 2009 im Internet Archive)
- Drucksache 21/10881 der Hamburgischen Bürgerschaft
- Jens Meyer-Wellmann: Bahnsteigkarte – ein Relikt wird zum Politikum. In: abendblatt.de. 4. Januar 2018, abgerufen am 22. April 2019.
- Drucksache 21/18614 der Hamburgischen Bürgerschaft
- Barbara Habermacher: Automat für die Ausgabe von Bahnsteigkarten. SBB Historic. 10. Dezember 2015. Abgerufen am 5. Mai 2019.
- SBB führt Perronbillett ein. In: Bieler Tagblatt. 28. Juni 2013. Abgerufen am 5. Mai 2019.
- Werbeanzeige Wiener Stadtbahn von 1902
- きっぷあれこれ - 入場券
- Guidelines for rail enthusiasts