Würstelstand
Der (Wiener) Würstelstand ist die traditionelle österreichische Variante des Imbissstands: ein freistehender Verkaufsstand, in dem hauptsächlich kleine Fleischgerichte zum raschen Verzehr angeboten werden.
Geschichte und Funktion
Gegründet wurde diese Einrichtung während der k.u.k. Monarchie, um Kriegsinvaliden ein Einkommen zu sichern. Ursprünglich handelte es sich um fahrbare Verkaufsstände oder Garküchen; erst in den 1960er-Jahren wurden in Wien fixe Stände erlaubt.[1] Würstelstände sind heute fester Bestandteil der österreichischen Großstadtkultur und haben auch in der Kunst ihre Spuren hinterlassen, etwa im Wiener Genrelied Der Würstelmann beim Schottentor (1956) oder in Hans Carl Artmanns Buch Im Schatten der Burenwurst.
Einige Würstelstände, vor allem im Bereich der Wiener Innenstadt und am Wiener Gürtel,[2] haben bis spät in die Nacht geöffnet und sind dadurch eine der wenigen Möglichkeiten, um diese Uhrzeit zu einer warmen Mahlzeit zu kommen.
Nachtwürstelstand
In einigen Städten gibt es an bestimmten Plätzen nur Konzessionen für einen Nachtwürstelstand. Dieser darf nur vom Abend bis in die Morgenstunden betrieben werden und muss über die Tageszeit von der öffentlichen Verkehrsfläche entfernt werden. Es handelt sich hierbei um mobile Stände, die tagsüber am Stadtrand oder in einer nahen Garage geparkt werden.
Sortiment
Das traditionelle Angebot umfasst Burenwurst, Käsekrainer, Frankfurter (im Ausland „Wiener“ genannt), Bosna, Waldviertler, Debreziner und Leberkäse – jeweils mit süßem Kremser Senf oder scharfem Estragonsenf, sowie einem Stück Brot oder einer Semmel; als Beilage stehen eingelegte Gemüse wie Pfefferoni (mild oder scharf), Salz- oder Essiggurkerl sowie eventuell Silberzwieberl zur Wahl. Ebenso gehört Kren zur Wurstkultur, der in deutschen Gefilden als Meerrettich bekannt ist, und traditionell frisch gerieben mit zur Wurst angeboten wird. Auch Gabelroller (in der Variante mit scharfer Paprikasauce „Teufelsroller“ genannt) oder Mannerschnitten gehören meist zum Sortiment. An Getränken gibt es das obligate Bier oder das Stifterl; bei Alkoholfreiem haben mittlerweile Eistee und Cola die Klassiker Keli und Schartner Bombe abgelöst – lediglich der Almdudler ist nach wie vor erhältlich.
Ketchup und Mayonnaise als Würzungen sind neueren Datums. In Vorarlberg wird das sogenannte Zack Zack verkauft. Es handelt sich hierbei um ein Schweinenüsschen oder ausgelöstes Schweinskarrée mit Zwiebelsauce in einer Semmel.
Besonderheiten
Ältester und entferntester Wiener Würstelstand
Der angeblich älteste Wiener Stand dieser Art, der Würstelstand LEO, besteht seit 1928.[3]
Der vermutlich am weitesten von Wien entfernte Würstelstand, Erich’s Wuerstelstand, befindet sich in der Chinatown von Singapur,[4] und ist ebenfalls immer wieder Thema in der Berichterstattung.[5][6][7] Nach Eigenbeschreibung des im niederösterreichischen Gresten aufgewachsenen Erich Sollbock[8] ist es “The Last Sausage Kiosk before the Equator” („Der letzte Würstelstand [137 km nördlich] vor dem Äquator“).[9]
Versuche alternativer Wiener Würstelstände
Anfang 2010 hatten drei Obdachlose in der Notschlafstelle VinziBett (siehe Wolfgang Pucher) die Idee, den damals verwahrlosten Stand mit der Aufschrift „Döner Kebab Würstelhütte“ am Verkehrsknotenpunkt am Johann-Nepomuk-Berger-Platz im 16. Bezirk – gleich gegenüber der Ottakringer Brauerei – zu übernehmen. Am 20. März 2010 konnte das Team, das mittlerweile aus fünf Personen bestand, den Vinzi-Würstelstand mit einem „Darlehen auf Vertrauensbasis in der Höhe von 12.000 Euro aus dem Vinzi-Budget“ als klassischen Wiener Würstelstand eröffnen. Ihre Produkte konnten sie zu vergünstigten Preisen von (teils noch im Familienbesitz befindlichen) Alt-Wiener Unternehmen aus der Umgebung des 16. und 17. Bezirks (Ottakring und Hernals) beziehen. Anfangs lief das Geschäft an dem Stand auch gut.[10][11] Im April 2011 wurde „das einstige Obdachlosen-Vorzeigeprojekt“ von einem Gastronomie-Unternehmen übernommen: „Es hat sich einfach nicht rentiert“ begründete dies die Obfrau von VinziBett, Hedi Klima, das Aufgeben des Projekts. Die drei Gründer sollen der Gratis-Tageszeitung Heute zufolge wieder einen Wohnort haben.[12]
Im Mai 2012 eröffnete Thomas Danecek, ein Ex-Opernsänger und Gastronom, am Wiener Schwedenplatz unter der Bezeichnung U Box den ersten Luxus-Würstelstand. Angeboten wird « saucisse au fromage avec caviar » (Käsekrainer mit Kaviar) und „zum Runterspülen“ « Moet Chandon » (Champagner). Der Betreiber begründet u. a. dies mit
„Wir überlassen das Fast Food nicht den Kebab-Buden!“
und führt die Idee auf seinen Stammgast John Malkovich zurück:
„Er war bei seinen Auftritten in Wien oft Gast in einem meiner Stände, [und] bestellte immer Kaviar.“[13]
Spezifika
Bei „originalen“ Wiener Würstelständen ist der Wiener Schmäh unvermeidlicher Bestandteil der Konversation. Zudem herrscht ein eigener wienerischer Jargon vor, den zu erlernen einem Ortsfremden nahezu unmöglich ist. Eine oft zitierte, aber irreführende Legende ist die Bestellung einer „Eitrigen mit an Schoafn, an Bugl und ana Hüsn dazua“ („Eitrige“ = Käsekrainer; „Schoafa“ = scharfer Senf; „Bugl“ = Brotendstück, bekannter als „Scherzerl“; „Hüsn“ = Flasche Bier; wahlweise auch „a 16er Blech“ als eine Dose („Blech“) Ottakringer Bier).[14][15] Besagte Bestellung – in diversen Varianten kolportiert – wird zwar verstanden; der Sprecher gibt sich damit jedoch als Nicht-Einheimischer zu erkennen. Die adäquate Terminologie ist komplexer, zumal sie auch bezirksweise variiert.[16]
„Doch genießt der Würstelstand weithin große Sympathie, wie man von einem guten Bekannten spricht, der über jeden Tadel erhaben ist. Hier gilt auch der Einheimische noch was: wer akzentfrei am Würstelstand bestellen kann und die Nachrede des Taxifahrers versteht, ist in der Stadt angekommen. Dabei ist der Kult ein relativ junger, der Einzug in die Populärkultur fand ab den 80er Jahren statt, Berichte in Filmen und Magazinen illustrierten die soziale Elastizität und Durchlässigkeit, eine Gesellschaftstankstelle für den Großstadtflaneur. Der Würstelstand wurde zur Wiener Marke wie der Heurige oder das Kaffeehaus.“
Im Februar 2012 hat ein „richtiger“ Würstelstand Eingang auf dem Wiener Opernball gefunden. Dieser wurde in der Oper „im Altwiener Stil“ gebaut.[18]
Würstelstand in Kunst und Kultur
Die Institution (Wiener) Würstelstand ist immer wieder auch in Kunst und Kultur vertreten (Auswahl):
- „In der Tante Jolesch pflegte Torberg nachts beim Würstelstand am Schottentor einen Apfel zu essen, während sein schräger Begleiter Dr. Sperber einige Burenwürste verzehrte.“ (Gregor Schuberth, 2004[17])
- 1995: Am Würstelstand. Ausgabe aus der ORF-Dokumentarreihe Alltagsgeschichte von Elizabeth T. Spira.[19]
- 2004: Würstelstand. Ein Zehn-Minuten-Kurzfilm von Nicolas Neuhold um zwei Einbrecher, die nach einem erfolgreichen Einbruch auch noch einen Würstelstand aufbrechen.[20]
- 2010: Eh wurscht. „Ein Würstelstand in Wien. Wo, wenn nicht hier, treffen sich Eingeborene und Touristen, Genies und Wahnsinnige, Operngänger und Frauenmörder, Vorstadtteenies und alte Grantler?“ Theaterstück (und Zitat) von Franz Wittenbrink in der Josefstadt, 2010.[21][22]
Literatur
- Elisabeth Hölzl (Hrsg.): Im Banne der Burenwurst. Der Würstelstand als Wille und Vorstellung. Christian Brandstätter, Wien 2001, ISBN 3-85498-105-8.
- Peter Payer: Der Wiener Würstelstand – Nahversorger und Imageproduzent. In: Elisabeth Limbeck-Lilienau, Roswitha Muttenthaler, Gabriele Zuna-Kratky (Hrsg.): Geschmacksache. Was Essen zum Genuss macht. Wien 2008, S. 74–81, ISBN 3-902183-16-0.[1]
- Gregor Schuberth: Zum Stand der Wurst. In: Die Presse, Beilage Spectrum, 29. Juni 2012.[17]
- Stefan Oláh, Sebastian Hackenschmidt: Fünfundneunzig Wiener Würstelstände: The Hot 95, 2013, ISBN 3-7025-0697-7.
Weblinks
Einzelnachweise
- Peter Payer: Der Geschmack der Stadt. Der Wiener Würstelstand – Nahversorger und Imageproduzent. (PDF; 307 kB), Wien 2008.
- Anm.: Der Gürtel ist neben der Wiener Ringstraße und der so genannten Zweierlinie (auch Lastenstraße) die dritte in einem Ringsegment um den Stadtkern führende Hauptverkehrsader. Vor allem der Westgürtel war u. a. wegen des „Gürtelstrichs“ (Straßenprostitution) und der stattfindenden Rotlichtkriminalität (siehe Rotlichtmilieu) übel beleumdet. Dem wird seit den 1990er Jahren durch Stadterneuerung entgegengewirkt, siehe Abschnitt Gegenwart im Artikel zum Wiener Gürtel. Vgl. auch: Der Gürtel und Wiener Blut (Memento vom 11. März 2012 im Internet Archive) auf wien-vienna.at (ohne Datum); abgerufen am 29. August 2012.
- Bianca Blei: Würstelstand Leo: „Der Schmäh ist heute aus“. In: derStandard.at, 21. Oktober 2010. Abgerufen am 29. August 2012.
- Website von Erich’s Wuerstelstand, Chinatown, Singapore. Abgerufen am 29. August 2012.
- Austrian National TV station ORF broadcasted erichs Wuerstelstand before Singapore F1 Night Race. ORF-Bericht als Youtube-Video mit Hinweisen auf weitere TV-Berichte.
- Im Schmelztiegel zwischen Bosna und Frühlingsrolle. In: Nachrichten.at, 17. Jänner 2009. Abgerufen am 29. August 2012.
- Mark Sauer: Studieren in Singapur: Niemals stehenbleiben. („Erichs ‚Wuerstelstand‘ in Chinatown hat mittlerweile Kultstatus.“) Spiegel Online, Fotostrecke, Bild 5, 25. November 2011; abgerufen am 29. August 2012.
- Ein Österreicher in Chinatown. Erich Sollbock im Audiointerview, März 2006, auf der Website der National University of Singapore.
- Am Wuerstelstand in Singapur. In: dieweltreisenden, 20. August 2007. Abgerufen am 29. August 2012.
- Andreas Wetz: „Vinzi-Würstel“: Neustart am Ottakringer Würstelstand. In: Die Presse, Printausgabe 15. März 2010. Abgerufen am 29. August 2012.
- Roland Gratzer: Debreziner für die Mitmenschen. In: FM4.ORF.at, 22. März 2010. Abgerufen am 29. August 2012.
- Traurig! Obdachlose geben eigenen Würstelstand auf. Der Vinzi-Würstelstand am Johann-Nepomuk-Berger-Platz hat neue Besitzer. (Memento vom 4. März 2016 im Internet Archive) In: Heute.at, 14. April 2011.
- Claus Kramsl: Kaviar statt Eitriger. Wiens erster Luxus-Würstelstand. (Memento vom 24. September 2015 im Internet Archive) In: Heute.at, 26. April 2012.
- Christoph Winder: Die Eitrige. Der gute Benimm am Würstelstand. Winders Wörterbuch zur Gegenwart in: Der Standard, 11. Juli 2006. Abgerufen am 29. August 2012. (Anm.: Vgl. hingegen auch die Leserreaktionen mit der Kritik, dass es sich dabei vielmehr um eine Touristenlegende handelt, als dass eine derartige Bestellung wirklich von Einheimischen getätigt wird.)
- Robert Sedlaczek: Das 16er Blech macht Karriere. Sedlaczek am Mittwoch. In: Wiener Zeitung, 13. März 2007; abgerufen am 29. August 2012.
- Alois Maria Simcha alias Dr. Seicherl: Heiß und fettig (in den Erläuterungen: Der Wiener Würstelstand und seine Spezialausdrücke). In: Evolver. Die Netzzeitung, 25. März 2010; abgerufen am 29. August 2012.
- Gregor Schuberth: Zum Stand der Wurst. Online auf der Website von Schuberth und Schuberth, 2004. Abgerufen am 29. August 2012.
- Opernball mit Christensen und Würstelstand. In: Die Presse, 31. Jänner 2012. Abgerufen am 29. August 2012.
- Alltagsgeschichte. (Memento vom 25. Juli 2012 im Internet Archive) Website zur Dokumentarreihe in kundendienst.ORF.at. Inhalt der Sendung auf programm.ARD.at. Abgerufen am 29. August 2012.
- Würstelstand. Websites des Films von Nicolas Neuhold (Buch/Regie) und Ulrich Wolkenstein (Produzent). Abgerufen am 29. August 2012.
Mario Pizzinini alias „Prof. Wurst“: Würstelstand – Ein Kurzfilm von Nicolas Neuhold. In: Wurstakademie. Wurstwissen für jedermann, 31. Dezember 2008. Abgerufen am 29. August 2012. - Eh wurscht, (Memento vom 31. August 2014 im Internet Archive) Premiere 4. November 2010. Auf der Website des Theater in der Josefstadt. Abgerufen am 29. August 2012.
- Isabella Pohl: Viel Schmäh am Würstelstand. Großer Spaß in der Josefstadt: Franz Wittenbrinks „Eh wurscht“. In: Der Standard, Printausgabe 6./7. November 2010. Abgerufen am 29. August 2012.