Verordnung (Schweiz)
Eine Verordnung ist im schweizerischen Staatsrecht eine generell-abstrakte Rechtsnorm, die in der Normenhierarchie auf Bundesebene der Bundesverfassung und den Bundesgesetzen untergeordnet ist. Verordnungen können von der Regierung, dem Parlament oder den Gerichten erlassen werden, wobei die meisten von der Regierung (Bundesrat, Kantonsregierung) stammen. Gegenüber der Verfassungs- und Gesetzgebung ist die vereinfachte Erlassform entscheidend; die Verordnung ist nicht dem Referendum (fakultatives, obligatorisches Referendum) unterstellt.[1]
Arten von Verordnungen
Rechts- und Verwaltungsverordnungen
Die Unterscheidung zwischen Rechts- und Verwaltungsverordnungen erfolgt unter dem Gesichtspunkt des Adressaten. Rechtsverordnungen richten sich an die Allgemeinheit und enthalten Rechtsnormen, die Rechte und Pflichten der Bürger begründen oder Organisation und Verfahren von Behörden regeln. Da Rechtsverordnungen rechtsetzende Bestimmungen enthalten, werden sie in der Amtlichen Sammlung veröffentlicht und in die Systematische Rechtssammlung aufgenommen. Verwaltungsverordnungen (auch Direktiven, Weisungen, Dienstreglemente oder Kreisschreiben genannt) sind generelle Dienstanweisungen einer Behörde an ihr unterstellte Behörden. Erlasse dieser Art haben bindende Wirkung. Verwaltungsverordnungen haben als verwaltungsinterne Weisungen keine rechtsetzende Wirkung für den Bürger, und Gerichte sind in der Regel nicht an sie gebunden. Diese halten sich jedoch zumeist an sie. Verwaltungsverordnungen können in seltenen Fällen auch eine Wirkung nach aussen haben, nämlich dann, wenn sie die Rechtsstellung des Bürgers genauer umschreiben und ihn und seine Interessen faktisch gleich wie eine Rechtsverordnung treffen.
Selbstständige und unselbstständige Verordnungen
Diese Unterscheidung erfolgt nach ihrer Rechtsgrundlage und bei Rechtsverordnungen, weil nur diese Rechtssätze enthalten. Eine selbstständige Verordnung bzw. die erlassende Behörde ist direkt durch die Bundesverfassung zum Erlass ebendieser ermächtigt. Bei einer unselbstständigen Verordnung stützt sich die verordnende Behörde auf einen Erlass, der nicht auf Verfassungsstufe ist (in der Regel ein Bundesgesetz). Die allermeisten Verordnungen sind unselbstständige Verordnungen.
Vollziehungs- und gesetzesvertretende Verordnungen
Die Unterscheidung zwischen Vollziehungs- und gesetzesvertretenden Verordnungen erfolgt unter dem Gesichtspunkt des inhaltlichen Verhältnisses, in dem die Rechtsverordnung zum zugehörigen Gesetz steht, das heisst, dass diese Differenzierung nur bei Rechtsverordnungen erfolgt. Vollziehungsverordnungen (Synonym: Vollzugsverordnungen) führen die gesetzlichen Regelungen durch Detailvorschriften näher aus, aber immer noch in einer generell-abstrakten Weise und nicht in Form einer individuell-konkreten Anordnung, wie sie Verfügungen darstellen. Generell-abstrakt bedeutet hier, dass sich der Erlass nicht auf einen näher bestimmten Personenkreis und auf eine unbestimmte Menge konkreter Sachverhalte bezieht. Gesetzesvertretende Verordnungen vervollständigen und ergänzen gesetzliche Regelungen. Sie beruhen auf einer Ermächtigung des Gesetzes (Gesetzesdelegation), das in bestimmten Belangen von einer vollständigen materiellen Regelung absieht. Die Übergänge zwischen diesen beiden Verordnungsarten sind fliessend und lassen sich nicht klar voneinander abgrenzen.[2]
Verordnungen von Bundesrat, Bundesversammlung und Bundesgericht
Vollziehungsverordnungen
Die Bundesverfassung (Art. 182 Abs. 2) beauftragt den Bundesrat mit dem Vollzug der Gesetzgebung. Dies beruht nicht auf einer Gesetzesdelegation im Sinne von Art. 164 Abs. 2 BV. Gesetzesdelegation meint, dass der Gesetzgeber (auf Bundesebene die Bundesversammlung) den Erlass von rechtsetzenden Bestimmungen an die Exekutive delegieren kann. Da nicht alle Rechtsetzungsbefugnisse delegiert werden können, muss der Bundesgesetzgeber im Einzelfall prüfen, ob eine Ermächtigung im Sinne von Art. 164 Abs. 2 BV notwendig ist oder ob der Bundesrat direkt, gestützt auf die verfassungsrechtliche Vollziehungskompetenz, selbstständig eine Vollzugsverordnung erlassen kann. Beim Erlass einer Verordnung dieser Art hat sich der Bundesrat an (enge) Grenzen zu halten, um sich nicht der Verletzung des Gesetzmässigkeitsprinzips schuldig zu machen (Art. 5 Abs. 1 und Art. 36 Abs. 1 BV). Die Grenzen, die der Bundesrat zu achten hat, sind im Wesentlichen diese vier:
- Vollziehungsverordnungen können sich nur auf eine Materie beziehen, die den Gegenstand des zu vollziehenden Gesetzes bildet.
- Sie dürfen Gesetze nicht abändern oder aufheben – weder das, worauf es sich bezieht, noch irgendein anderes.
- Sie müssen der Zielsetzung des Gesetzes folgen und dürfen dabei lediglich die bereits bestehenden Regelungen weiterführen und spezifizieren.
- Eine Vollziehungsverordnung kann dem Bürger grundsätzlich keine neuen Pflichten auferlegen, selbst wenn diese durch den Gesetzeszweck gedeckt wären, es sei denn, es müsste eine Gesetzeslücke ausgefüllt werden.
Polizeinotverordnungen und Verordnungen zur Wahrung der äusseren Interessen der Schweiz
Gemäss Art. 185 Abs. 1 und 2 BV trifft der Bundesrat Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz sowie zur Wahrung der inneren Sicherheit. Der Bundesrat kann Verordnungen und Verfügungen erlassen, um Gefahren, die die öffentliche Ordnung oder die innere oder äussere Sicherheit gefährden könnten, abwenden zu können. Solche Verordnungen sind zu befristen (Art. 185 Abs. 3 BV). Damit der Bundesrat Verordnungen dieser Art erlassen kann, müssen, abgesehen von den allgemeinen Schranken staatlichen Handelns (wie Verhältnismässigkeit und öffentliches Interesse), gewisse Voraussetzungen erfüllt sein. So muss die öffentliche Ordnung in bedeutendem Masse gestört oder unmittelbar durch eine ernsthafte Gefahr bedroht sein und zeitliche Dringlichkeit vorliegen, die den Erlass entsprechender Vorschriften im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ausschliesst (siehe auch: Notrecht). Gestützt auf Art. 185 Abs. 3 und Art. 184 Abs. 3 BV kann einzig der Bundesrat handeln; das Agieren einer Verwaltungsbehörde anstelle des Bundesrates ist ausgeschlossen.
Nach Art. 184 Abs. 3 BV hat der Bundesrat die Kompetenz zum Erlass befristeter Verordnungen zur Wahrung der äusseren Interessen des Landes. Darin eingeschlossen ist unter anderem das Einfrieren von Bankkonten ehemaliger ausländischer Machthaber, um das Ansehen der Schweiz und des Finanzplatzes zu schützen. Das Bundesgericht hat die Hoheit, darüber zu prüfen, ob die Voraussetzungen von Art. 184 Abs. 3 BV erfüllt sind.
Delegation und Subdelegation von Rechtsbefugnissen
Bei den unselbstständigen Verordnungen liegt eine Gesetzesdelegation der Legislative an die Exekutive vor. Da sehr viele Bundesgesetze eine Delegation an den Bundesrat vorsehen («[…] Der Bundesrat regelt die Einzelheiten […]»), ist er in grossem Masse zum Erlass unselbstständiger Verordnungen befähigt. Art. 164 Abs. 2 BV regelt die Gesetzesdelegation. Mittlerweile konstatierte das Bundesgericht, dass eine Gesetzesdelegation bezüglich wichtiger und grundlegender Bestimmungen nicht möglich ist (BGE 141 II 169 E. 3.2, Zustimmungsverfahren). Darunter fällt unter anderem die Ausübung der politischen oder die Einschränkung verfassungsmässiger Rechte. Ein bestimmter Teil der Lehre kritisiert den Begriff der Gesetzesdelegation, da sich die Kompetenz zum Erlass von Verordnungen direkt aus der verfassungsrechtlichen Rechtsetzungskompetenz ergebe. Die Rechtsfigur «Gesetzesdelegation» konkretisiere lediglich die Verfassung.
Von einer Subdelegation ist die Rede, wenn der Bundesrat eine ihm delegierte Rechtsetzungsbefugnis an ein untergeordnetes Amt weiterdelegiert. Sie stellt somit eine Änderung der Zuständigkeitsordnung, die von Gesetz und Verfassung gegeben ist, durch die Exekutive dar. Nach Art. 48 RVOG darf der Bundesrat die Zuständigkeit zum Erlass von Rechtsätzen auf ein Departement übertragen. Hierbei muss die Tragweite beachtet werden. Für die Subdelegation an ein Bundesamt muss zudem nach Art. 48 Abs. 2 eine Ermächtigung durch das Bundesgesetz, auf dessen Grundlage die Delegation verfügt wurde, vorliegen; dies gilt jedoch nicht für die Subdelegation an ein Departement.
Weitere Arten
Nebst den oben aufgeführten Verordnungen gab es zu Beginn des Ersten und des Zweiten Weltkriegs die Verordnungen zu den sogenannten Vollmachtenbeschlüssen, mit denen die Bundesversammlung dem Bundesrat umfassende Rechtsetzungskompetenzen delegierte.[3] Da sie keine Stütze in der Bundesverfassung oder einem Gesetz hatten, fallen sie in den Bereich des extrakonstitutionellen Notrechts; denn die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft kennt keine umfassenden Notstandsregelungen wie das Grundgesetz Deutschlands oder die französische Verfassung.[4][5]
Verordnungen der Bundesversammlung
Verordnungen der Bundesversammlung (häufig auch Parlamentsverordnungen) haben ihre verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 163 Abs. 1 BV, die gesetzliche Grundlage in Art. 22 Abs. 2 ParlG. Die meisten Verordnungen der Bundesversammlung sind unselbstständig; in einigen wenigen Fällen kann sie jedoch auch selbstständige Verordnungen erlassen (Art. 82 Abs. 3 mit Ausnahme der Gebührenfreiheit betreffend öffentliche Strassen und Art. 173 BV). Abgesehen davon, dass die Verordnung nicht dem fakultativen Referendum untersteht, ist das Verfahren beim Erlass einer Verordnung gleich wie das eines Gesetzes. Ein Beispiel für eine Verordnung der Bundesversammlung ist die über das Verbot der Gruppierung Al-Qaïda und verwandter Organisationen. Diese Parlamentsverordnung löste am 31. Dezember 2011 – gestützt auf Art. 173 Abs. 1 BV – die inhaltlich fast gleichlautende Verordnung des Bundesrats ab, weil die Verfassungsmässigkeit der bundesrätlichen Verordnung seit dem Zeitpunkt des Erlasses zweifelhaft war. Die Verordnung wurde anschliessend in ein dringliches Bundesgesetz über das Verbot von Al-Qaïda und dem «Islamischen Staat» sowie verwandter Organisationen (SR 122) überführt, das bis zum 31. Dezember 2022 gilt.[6] Ein weiteres Beispiel findet sich in Art. 1 Abs. 5 BGG, der festhält, dass die Zahl der Bundesrichter auf dem Verordnungsweg durch die Bundesversammlung geregelt werden sollte.[7]
Verordnungen des Bundesgerichts
Gemäss Art. 13 Bundesgerichtsgesetz (BGG) regelt das Bundesgericht seine Organisation und Verwaltung. Das BGG sieht zudem vor, dass weitere Bestimmungen durch Verordnungen (in diesem Kontext Reglement) geregelt werden sollen. Diese sind in Art. 7 Abs. 2, Art. 22, Art. 24 Abs. 3, Art. 27 Abs. 3, Art. 42 Abs. 4 und Art. 60 Abs. 3 des Bundesgerichtsgesetzes enthalten. Derartige Reglemente muss das Gesamtgericht, das aus der Gesamtheit der ordentlichen Richter besteht, erlassen (Art. 15 Abs. 1 lit. a BGG).[7]
Literatur
- Ulrich Häfelin, Walter Haller, Helen Keller, Daniela Thurnherr: Schweizerisches Bundesstaatsrecht. 10. Auflage. Schulthess, Zürich 2020.
- Martin Graf: Kommentar zum Parlamentsgesetz. In: Martin Graf, Cornelia Theler, Moritz von Wyss (Hrsg.): Parlamentsrecht und Parlamentspraxis der Schweizerischen Bundesversammlung. Kommentar zum Parlamentsgesetz (ParlG) vom 13. Dezember 2002. Basel 2014, ISBN 978-3-7190-2975-3, S. 1020 ff. (Online)
Siehe auch
Einzelnachweise
- Verordnungen. In: parlament.ch. Parlamentsdienste, abgerufen am 10. Februar 2022.
- Häfelin, Haller, Keller, Thurnherr: Schweizerisches Bundesstaatsrecht. 2020, S. 594 f.
- Häfelin, Haller, Keller, Thurnherr: Schweizerisches Bundesstaatsrecht. 2020, S. 605.
- Häfelin, Haller, Keller, Thurnherr: Schweizerisches Bundesstaatsrecht. 2020, S. 579.
- Häfelin, Haller, Keller, Thurnherr: Schweizerisches Bundesstaatsrecht. 2020, S. 596–605.
- Häfelin, Haller, Keller, Thurnherr: Schweizerisches Bundesstaatsrecht. 2020, S. 599, N 1867.
- Häfelin, Haller, Keller, Thurnherr: Schweizerisches Bundesstaatsrecht. 2020, S. 606.