Gesetzeslücke
Eine Gesetzeslücke (oder Rechtslücke, im Strafrecht auch Strafbarkeitslücke, im Steuerrecht Steuerschlupfloch) ist ein Begriff aus der rechtspolitischen Diskussion, ein politisches Schlagwort und ein Begriff der juristischen Methodenlehre, der eine Konstellation beschreibt, in welcher der Gesetzgeber einen Fall nicht geregelt hat, den er erkennbar geregelt hätte, wenn er die Regelungsbedürftigkeit erkannt hätte. Nach Canaris ist die Lücke eine „planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts, gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung“.[1] Kein Gesetzgeber kann alle künftigen Konfliktfälle vorhersehen. Jedes Gesetz ist mit seiner abstrakten Sprache und wegen der Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse und ihres beständigen Wandels notwendig lückenhaft.
Begriff der Lücke
Durch Auslegung im engeren Sinne trifft man eine Auswahl aus den verschiedenen Bedeutungen, die mit dem möglichen Wortsinn vereinbar sind. Die Ausfüllung einer Gesetzeslücke ist hingegen eine vom Wortlaut des Gesetzes abweichende Rechtsfortbildung, die von zusätzlichen Voraussetzungen abhängt. Eine Gesetzeslücke zeigt sich, wenn man den Regelungsbedarf dem bestehenden Gesetzesrecht gegenüberstellt.[2] Eine ausfüllungsbedürftige Gesetzeslücke besteht also dann, wenn ein Rechtsproblem im Gesetz nicht oder nicht so geregelt ist, wie man es bei richtiger Anwendung der Auslegungsgrundsätze der Methodenlehre erwarten würde.
Arten der Lücken
Es können folgende Arten von Lücken unterschieden werden:[3]
a) Nach dem Maßstab der grammatischen, subjektiven oder objektiven Auslegung:
- Normlücke: Unvollständigkeit oder Unklarheit einer Einzelnorm, z. B. § 463 Satz 2 BGB.
- Regelungslücke: Eine Regelung im Ganzen, d. h. ein innerlich zusammengehörender Komplex von Einzelnormen ist unvollständig (z. B. Culpa in contrahendo (Verschulden bei Vertragsabschluss); Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter).
- Rechts- oder Gebietslücke: Es fehlt eine Regelung für einen ganzen Lebensbereich, der nach den Grundsätzen der subjektiven oder objektiven Auslegung zu erwarten wäre. Beispiel: Nach Art. 117 GG trat am 31. März 1953 das Ehe- und Familienrecht, das dem Art. 3 Abs. 2 GG widersprach, außer Kraft, obwohl eine neue gesetzliche Regelung noch nicht vorhanden war. Diese Lücke wurde durch richterliche Rechtsneubildung ausgefüllt, bis 1957 das Gleichberechtigungsgesetz erging.
b) Nach dem Maßstab der subjektiv-teleologischen Auslegung:
- Gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung: Dies ist eine Rechtsfortbildung, die den Zwecken des Gesetzgebers zuwiderläuft. Das Rechtsinstitut vom „Wegfall der Geschäftsgrundlage“ wurde mangels gesetzlicher Regelung bereits durch das Reichsgericht und dann auch durch den Bundesgerichtshof entwickelt. Seit dem 1. Januar 2002 besteht eine gesetzliche Regelung in § 313 BGB. Das Bundesverfassungsgericht hat die Kompetenz der Richter zur „schöpferischen Rechtsfindung“ bejaht, selbst zu einer Rechtsfortbildung entgegen dem ausdrücklichen Gesetzeswillen („contra legem“, siehe unten): „Das gilt besonders, wenn sich zwischen Entstehung und Anwendung eines Gesetzes die Lebensverhältnisse und Rechtsanschauungen so tiefgreifend geändert haben wie in diesem Jahrhundert. Einem hiernach möglichen Konflikt der Norm mit den materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen einer gewandelten Gesellschaft kann sich der Richter nicht mit dem Hinweis auf den unverändert gebliebenen Gesetzeswortlaut entziehen; er ist zu freierer Handhabung der Rechtsnormen gezwungen, wenn er nicht seine Aufgabe, ‚Recht‘ zu sprechen, verfehlen will.“[4]
c) Innerhalb der Gesetzeslücken kann unterschieden werden:
Offene und verdeckte Gesetzeslücken:
- Eine Gesetzeslücke ist offen, wenn das Gesetz für eine Fallgruppe keine Regel enthält, obwohl es nach den Maßstäben der subjektiven oder objektiven Auslegung eine Regel enthalten sollte (z. B. § 463 Satz 2 BGB).
- Eine Gesetzeslücke ist verdeckt, wenn die Lücke in dem Fehlen einer Ausnahme von einer Regel besteht (z. B. § 400 BGB).
Bewusste und unbewusste Gesetzeslücken je nachdem,
- ob der Gesetzgeber eine Rechtsfrage bewusst offengelassen hat, um sie der Rechtsprechung zur Klärung zu überlassen, oder
- ob der Gesetzgeber die Rechtsfrage übersehen hat (z. B. Verschulden bei Vertragsabschluss).
Schließen der Lücken
Die Kompetenz zur Schließung von Gesetzeslücken liegt in erster Linie bei der Legislative selbst. Vielfach fallen Gesetzeslücken jedoch erst den Gerichten auf. Auch diese können Gesetzeslücken schließen[5], wenn Erwägungen der Gerechtigkeit das erfordern und schwerer wiegen als Gründe der Rechtssicherheit und der Gewaltenteilung, die dafür sprechen, das förmliche Gesetz zu respektieren[6]. Auch die Rechtsprechung hat aber bei der Ausfüllung von Gesetzeslücken dem Willen des Gesetzgebers entgegenzukommen und deshalb so zu entscheiden, wie es dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers entspricht[7].
Die richterliche Lückenausfüllung hat in der Regel durch vergleichendes Denken zu geschehen, das heißt so, dass wesentlich Gleiches gleich, wesentlich Ungleiches ungleich behandelt wird: Erfasst also der Gesetzeswortlaut Fälle nicht, die den gesetzlich geregelten Fällen gleich zu behandeln wären, so erfordert das eine erweiternde Anwendung der gesetzlichen Regelung durch Analogie (also durch eine Gleichbehandlung). Erfasst das Gesetz auch (ungleiche) Fälle, die es nach dem Gesetzeszweck gerechterweise nicht erfassen dürfte – fehlt also eine Ausnahmeregelung –, so ist auch diese "Lücke" zu schließen.[8] Das kann auch dadurch geschehen, dass das Gesetz mit einer Einschränkung angewendet wird (teleologische Reduktion).[9]
Mitunter kann durch die Rechtsprechung eine Gesetzeslücke sogar gegen den eigentlichen Gesetzeswillen („contra legem“) geschlossen werden. Zum Beispiel war entgegen dem Wortlaut des § 400 BGB (daher contra legem) „… diese Möglichkeit unter Beachtung aller Vorsicht, die eine solche abändernde, aber zweckgetreue Einschränkung einer Verbotsnorm erfordert, zu bejahen, weil sonst der vom Gesetz verfolgte Zweck, den Rentenberechtigten zu schützen, in sein Gegenteil verkehrt würde“.[10] In Fällen, in denen die Rechtssicherheit vorgeht, gilt dies jedoch nicht. So ist es verfassungsrechtlich unzulässig, den Anwendungsbereich einer Strafnorm über ihren eigentlichen Wortsinn zu Lasten des Täters auszudehnen (Verbot strafbegründender und strafschärfender Analogie; ungenau: Analogieverbot): Art. 103 Abs. 2 GG verbietet, Straftatbestände durch Analogie zu begründen oder zu verschärfen.[11] Insoweit ist jede tatbestandserweiternde Interpretation, die über den möglichen Wortsinn hinausgeht, unzulässig.[12]
Das Bestimmtheitsgebot verpflichtet auch schon den Gesetzgeber selbst, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so genau zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren lassen.[13] Das an den Gesetzgeber gerichtete Bestimmtheitsgebot korrespondiert nicht nur mit dem an die Rechtsprechung gerichteten Analogieverbot, sondern auch mit einem Rückwirkungsverbot: Ist eine Tat zum Tatzeitpunkt nicht ausdrücklich strafbar gewesen, so kann sie nicht bestraft werden.
Gleiches gilt, wenn der Gesetzgeber durch eine enumerative Aufzählung zu erkennen gegeben hat, dass er eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs auf ähnliche, nicht genannte Fälle nicht zulässt („enumeratio ergo limitatio“).
Siehe auch
Literatur
- Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, 11. Auflage, 2010, Kap. VII
- Karl Larenz, Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage, 1995, Kap. 5
- Reinhold Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Auflage, 2012, § 11
- Eberhard Dorndorf: Grundriss der Methodenlehre. 2001
- Jörg Lücke: Vorläufige Staatsakte: Auslegung, Rechtsfortbildung und Verfassung am Beispiel vorläufiger Gesetze, Urteile, Beschlüsse und Verwaltungsakte. 1991, ab S. 78
Weblinks
Einzelnachweise
- Claus-Wilhelm Canaris: Die Feststellung von Lücken im Gesetz. 1983, S. 198
- Vgl. Hans-Joachim Koch, Helmut Rüßmann: Juristische Begründungslehre. 1982, S. 254
- Vgl. Bernd Rüthers: Rechtstheorie. 2005, Rn. 832 ff.
- BVerfGE 34, 269 (288 f.)
- BVerfGE 37, 67, 81
- Reinhold Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl., § 11 I c
- Annette Guckelberger: Die Verjährung im öffentlichen Recht. 2004, S. 311, ISBN 3-16-148374-X
- Reinhold Zippelius: Das Wesen des Rechts. 6. Aufl. 2012, Kap. 8 b
- Karl Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 1992, S. 350, 379
- BGHZ 4, 153 und 59, 115
- BVerfGE 92, 1 [13 ff.]
- BVerfG, Beschluss vom 21. November 2002 - 2 BvR 2202/01
- BVerfGE 71, 108, 114 f.