Verkehrskanzel
Die Verkehrskanzel (auch: Verkehrsturm) war ein Bauwerk an verkehrsreichen Kreuzungen größerer Städte und diente der Regelung des Straßenverkehrs durch Verkehrspolizisten. Durch die erhöhte Position hatten die Polizisten einen guten Überblick über die Verkehrssituation.
Geschichte
Die ersten Verkehrstürme wurden als offenes Podest meist in der Mitte einer Kreuzung errichtet. Die Polizisten regelten den Verkehr mit Hand- und/oder akustischen Signalen. Bald wurden die Verkehrstürme mit mechanischen Signalen wie drehbaren farbigen Scheiben, Tafeln oder Signalflügeln ergänzt.
Die ersten Lichtsignale an Verkehrstürmen wurden 1868 für kurze Zeit in London und ab Beginn des 20. Jahrhunderts in einigen Städten der USA eingeführt.
Im Jahr 1922 entwarf Joseph H. Freedlander einen aufwendig mit Bronzegussplatten gestalteten Traffic Signal Tower, von dem im Dezember 1922 sieben Exemplare in der Fifth Avenue in New York aufgestellt wurden.[1] Er kann als Vorbild für den Verkehrsturm am Potsdamer Platz in Berlin angesehen werden, der am 15. Dezember 1924 mit der ersten Lichtsignalanlage Deutschlands in Betrieb genommen wurde.[2]
Die Lichtsignale waren zunächst direkt an den Verkehrstürmen angebracht. Zur Verbesserung der Sicht für die Verkehrsteilnehmer wurden bereits ab 1925 an den Kreuzungszufahrten und Fußgängerüberwegen eigene Ampelmasten aufgestellt. Da man weiterhin den Verkehr von erhöhter Stelle aus beobachten und regeln wollte, entstanden einige meist am Rand der Kreuzung aufgestellte Verkehrskanzeln. In Berlin wurde nach dem Verkehrsturm am Potsdamer Platz bereits ein Jahr später für die Kreuzung Friedrich-/Leipziger Straße das Modell einer Verkehrskanzel vorgestellt, die auf einem Kragarm montiert werden und auch benachbarte Kreuzungen regeln sollte. Dieses Projekt wurde aber nicht mehr realisiert, weil eine zentrale Regelung der Lichtsignalen größerer Bereiche angestrebt wurde.[3]
Die Lichtsignale der jeweiligen Kreuzung bzw. einer Gruppe von benachbarten Kreuzungen wurden zunächst noch manuell von einem Verkehrsturm oder einer Verkehrskanzel aus gesteuert. Bald konnten die Lichtsignalanlagen in zentrale Steuerungssysteme integriert werden, bei denen die Grün-Phasen der Straßenzüge koordiniert wurden, d. h. im Sinne einer Grünen Welle geschaltet wurden. Nur in besonderen Verkehrssituationen wurden die Verkehrstürme oder Verkehrskanzeln mit Personal besetzt, im Regelfall wurden die Ampelanlagen automatisch gesteuert.[4]
Obwohl sich die Lichtsignale (Ampeln) ab Ende 1924 in Deutschland durchsetzten, wurden parallel auch noch Verkehrstürme mit von Hand bedienten Formsignalen errichtet, die in der Anschaffung günstiger waren. So wurde zur Leipziger Frühjahrsmesse 1926 auf dem Augustusplatz ein Verkehrsturm errichtet, auf dem ein AMBI-Verkehrsregler montiert war.[5]
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in größeren Städten noch einzelne Verkehrskanzeln an ausgewählten Kreuzungen errichtet, die bald meist nur noch der Beobachtung des Verkehrs dienten und nicht mehr in der Mitte, sondern am Rand der Kreuzung angeordnet waren. Durch technische Verbesserungen an der Steuerungstechnik, verkehrsstärkenabhängige Steuerungen, Verkehrsleitsysteme und Stauinformationsmeldungen im Rundfunk wurde die Verkehrskanzel bereits in den späten 1960er Jahren überflüssig und an den meisten Standorten demontiert. Das Aufstellen einer Verkehrskanzel erfolgte individuell in den jeweiligen Städten, es gab dafür keine Bauvorschrift zum Aussehen und Aufbau. Heute gibt es nur noch wenige Exemplare von Verkehrskanzeln, jedoch ohne dem ursprünglichen Zweck zu dienen.
In den 1920er Jahren wurden auch Kontrolltürme auf Flugplätzen als Verkehrsturm bezeichnet, z. B. Flughafen Köln-Butzweilerhof.[6]
Beispiele von Verkehrstürmen und Verkehrskanzeln
- Berlin, Verkehrsturm am Potsdamer Platz – Verkehrsturm mit Lichtsignalen, in Betrieb von 1924 bis 1937, seit 1997 rekonstruiert
- Berlin, Verkehrskanzel Joachimsthaler Platz – in Betrieb von 1955 bis 1962
- Berlin, Verkehrskanzel Frankfurter Tor – Bildnachweis von 1962
- Berlin, Verkehrskanzel Unter den Linden Ecke Friedrichstraße – Bildnachweis von 1967
- Bremen, Verkehrsüberwachungsturm der BSAG auf der Domsheide – erbaut 1988 nach Entwurf von Per Kirkeby[7]
- Chemnitz, Verkehrsturm Falkeplatz – Verkehrsturm mit Lichtsignalen, Inbetriebnahme Dezember 1926, Bildnachweis von 1927[8][9]
- Dresden, Verkehrsturm am Wiener Platz – Verkehrsturm mit Lichtsignalen, Bildnachweis von 1928[10]
- Eisenach, Verkehrskanzel an der Kreuzung „Grüner Baum“ Rennbahn / Mühlhäuser Straße – erbaut im Mai 1964[11]
- Erfurt, Verkehrskanzel Angerturm – in Betrieb von 1961 bis 1974, restauriert und 2002 in der Magdeburger Allee wiedererrichtet[12]
- Hannover, Verkehrskanzel am Kröpcke[13] – nicht mehr erhalten
- Kiel, Verkehrskanzel am Thaulow-Museum – Bildnachweis von 1963
- Köln, Verkehrsführungsstand am Rudolfplatz – Bildnachweis von 1954[14]
- Leipzig, Verkehrsturm am Augustusplatz – offener Turm mit Signalflügeln (AMBI-Verkehrsregler), Bildnachweise von 1926 und 1927[5][15]
- Lübeck, offener Verkehrsturm am Lindenplatz,[16] ohne technische Anzeiger – Bildnachweis von 1925
- Stuttgart, Verkehrsturm vor dem Hauptbahnhof – Bildnachweis von 1950[17]
- Wien, Verkehrskanzel Ecke Mariahilfer Straße und Neubaugasse – Bildnachweis von 1952[18]
- Zürich, Verkehrskanzel an der Sihlporte – in Betrieb von 1959 bis Ende der 1970er Jahre[19]
Bildergalerie
- Berlin, Verkehrskanzel Joachimsthaler Platz, 1955
- Berlin, Verkehrskanzel Frankfurter Tor, 1962
- Berlin, Verkehrskanzel Unter den Linden, 1967
- Kiel, Verkehrskanzel am Thaulow-Museum, 1963
- Lübeck, offener Verkehrsturm am Lindenplatz, 1925
Weblinks
Einzelnachweise
- History of Traffic – Traffic Signal Tower designed by Joseph H. Freedlander, 1922, abgerufen am 13. Juli 2019.
- 15. Dezember 1924: Abnahme des Verkehrsturms durch die städtische Baupolizei, der erste Beamte besteigt den Turm (Photo: Robert Sennecke). In: Vossische Zeitung, 3. Januar 1925, Auslandsausgabe, S. 1, abgerufen am 13. Juli 2019.
- Karl August Tramm, Oberingenieur: Verkehrstürme. In Mitarbeiterzeitschrift Berliner Straßenbahn, 22. Jg., Ausgabe 18, 4. September 1925, Berliner Straßenbahn-Betriebs-GmbH, Berlin, S. 2 ff, abgerufen am 14. Juli 2019.
- Dr. H.: Berliner Verkehrsregelung. In Städtebau, Ausgabe XIII, Jg. 1928, Verlag Ernst Wasmuth AG, Berlin, S. 192 ff, abgerufen am 13. Juli 2019.
- Februar 1926, Leipzig, Augustusplatz - Verkehrsturm, AMBI-Verkehrsregler (in der Suchmaske AMBI eingeben). In: Bilddatenbank des Bundesarchivs, abgerufen am 9. August 2019.
- Verkehrsturm Butzweilerhof, 1926 In: luftfahrtarchiv-koeln.de, abgerufen am 17. Juli 2019.
- Verkehrs-Turm Bremen, 1988 In: architektur-bildarchiv.de, abgerufen am 25. August 2019.
- Historische Ansichtskarte: Verkehrsturm Chemnitz, Falkeplatz, abgerufen am 16. Juli 2019.
- Als in Chemnitz das Abenteuer Ampel begann. In: Freie Presse Chemnitz vom 10. Dezember 2016, abgerufen am 16. Juli 2019.
- Dresden, Verkehrsturm am Wiener Platz, 1928 In: AltesDresden.de, abgerufen am 14. Juli 2019.
- Von oben herab. Verkehrskanzel am Grünen Baum fertiggestellt. In: Eisenacher Aktuelle Zeitung. 23. Mai 1964, S. 1.
- Dr. Steffen Raßloff: Verkehrsturm auf dem Anger. In: Erfurt-web.de, abgerufen am 14. Juli 2019.
- Heinz Lauenroth, Ewald Brix (Texte): Hannover, Haupt- und Messestadt. Ein dokumentarisches Bildheft, Texte in deutscher, englischer, französischer und spanischer Sprache, 4. Auflage, Hannover: Steinbock-Verlag, 1958, (ohne Seitennummern, Text und Foto im Abschnitt Verkehr und Straßen)
- Köln, Verkehrsführungsstand am Rudolfplatz, 1954 Historisches Archiv Köln, Kölner Kalendarium 2013, Kalenderblatt Mai, abgerufen am 14. Juli 2019.
- Historische Ansichtskarte: Verkehrskanzel Leipzig, Augustusplatz abgerufen am 17. Juli 2019.
- Lübeckisches Jahrbuch, Jahrgang 1924–1925, S. 102 f., abgerufen am 10. August 2019.
- Stuttgart, Verkehrsturm vor dem Bahnhof, 24. September 1950 Foto von Willy Pragher. In: landesarchiv-bw.de, abgerufen am 24. August 2019.
- Wien, Verkehrsturm Ecke Mariahilferstraße und Neubaugasse, 1952 Foto von Albert Hilscher. In: bildarchivaustria.at, abgerufen am 14. Juli 2019.
- Zürichs verschollenes UFO. In: Tagesanzeiger.ch, 27. November 2018, abgerufen am 16. Juli 2019.