Schlörwagen
Das Experimentalfahrzeug Schlörwagen (auch „Göttinger Ei“ oder „Flügel auf Rädern“)[1] war eine Entwicklung des deutschen Ingenieurs Karl Schlör von Westhofen-Dirmstein (1910–1997). Schlör gilt als Erfinder des „windschnittigsten Familienautos der Automobilgeschichte“.[2]
Geschichte
Der 1939 an der Aerodynamischen Versuchsanstalt (AVA) in Göttingen entwickelte Prototyp mit einer Karosserie aus Aluminium galt lange als konsequenteste Umsetzung der Aerodynamik im Fahrzeugbau:[1] Er zeigte bei den Messungen zu seiner Windschlüpfigkeit einen Strömungswiderstandskoeffizienten (Cw-Wert) von 0,186. Bei Nachmessungen in den 1970ern ermittelten Volkswagen-Techniker anhand eines Modells einen Cw-Wert von 0,15. Die Konstruktion des stromlinienförmigen Wagens orientierte sich an der Form von Flugzeugtragflächen und war auf minimalen Treibstoffverbrauch ausgerichtet. Mit sieben Sitzplätzen sollte er als geräumiges Familienfahrzeug dienen. Heutige Pkw reichen mit einem Cw-Wert von 0,24 bis 0,3 nicht an diese Konstruktion heran. Erst in jüngster Zeit wird durch das Aufkommen vollelektrischer Fahrzeuge eine nochmals verbesserte Aerodynamik angestrebt, wie bspw. der Mercedes-Benz EQS, der mit dem aktuellen Rekord-Wert von 0,20 am nächsten an den Schlörwagen heranreicht. Lediglich Experimentalautos wie VWs „1-Liter-Auto“ oder das „Fennek“ der TU Graz weisen niedrigere Cw-Werte auf.
Aufgebaut wurde der Schlörwagen auf einem modifizierten Fahrgestell des Mercedes 170 H. Der Radstand betrug 2,60 Meter, das Fahrzeug war 4,33 Meter lang und 1,48 Meter hoch. Die Breite von 2,10 Metern war nötig, um die Räder innerhalb der Karosserie laufen zu lassen. Die bei einem Essener Unternehmen hergestellte Karosserie war tropfenförmig aufgebaut, hatte bündig abschließende Fenster mit gebogenen Scheiben und einen geschlossenen Boden. Allerdings war sie trotz des Aufbaus aus Aluminium etwa 250 kg schwerer als die des Mercedes 170H; seine strömungsgünstige Form und der wegen des Heckmotors weit hinten liegende Schwerpunkt beeinträchtigten die Fahrsicherheit des Schlörwagens und machten ihn stark anfällig für Seitenwind.[1]
Bei einer Testfahrt mit einem Serienfahrzeug Mercedes 170H als Vergleichsmodell war der Schlörwagen mit ungefähr 135 km/h Spitzengeschwindigkeit um 20 km/h schneller als der Mercedes und verbrauchte mit 8 Litern Benzin auf 100 Kilometer zwischen 20 und 40 Prozent weniger Treibstoff als das Vergleichsfahrzeug, das bei 10 bis 12 Litern lag. Laut Karl Schlör sollte das Fahrzeug bei einer Fahrt sogar mit 146 km/h gefahren sein, was aber nicht als nachgewiesen gilt. Der Wagen erzeugte mit diesen Werten auf der IAA 1939 in Berlin Aufsehen, wurde aber vom Publikum als hässlich empfunden.[1]
1942 wurde der Schlörwagen am Heck mit einem im Zweiten Weltkrieg erbeuteten sowjetischen Propellerantrieb mit einem 130 PS (96 kW) leistenden Sternmotor ausgestattet und absolvierte damit Testfahrten in Göttingen. Der Prototyp des Wagens befand sich zuletzt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nachweisbar bis August 1948 auf dem Gelände des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Göttingen. Versuche Schlörs, die stark beschädigte Karosserie von der britischen Militärverwaltung ausgehändigt zu bekommen, schlugen fehl. Ihr Verbleib ist seitdem ungeklärt.[1]
Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des DLR 2007 stellte es ein erhalten gebliebenes verkleinertes Original-Modell in einen Windkanal: Es zeigte keinerlei Strömungsabrisse oder bremsende Verwirbelungen. Auch keinen erhöhten Luftwiderstand produzierend, erschien das lang herabgezogene Heck geradezu ideal.[1]
Ein nach den im DLR-Archiv aufbewahrten Originalzeichnungen gefertigter Nachbau im Maßstab 1:5 ist mittlerweile im „PS-Speicher“ in Einbeck zu besichtigen.[1][3]
Zwei Exemplare werden derzeit auf Basis alter Mercedes-170-H-Fahrgestelle wiederaufgebaut: Eine fahrbereite Variante bei der „Central Garage“[4] in Bad Homburg und eine teilgeschnittene bei den „Mobilen Welten“[5] in Sehnde bei Hannover.
Galerie
- Von vorne, daneben zum Größenvergleich eine männliche Person
- Karl Schlör (1939)
- Konstruktionszeichnungen („7-sitzige Limousine“)
- Fahrersitz, Armaturenbrett und Lenkrad
- Der Wagen auf der bei Göttingen gerade fertig gestellten Vorläuferin der heutigen Bundesautobahn A 7 (1939)
- Mit einem sowjetischen 130-PS-Propeller als Antrieb (1942)
Weblinks
- Forscher lösen Rätsel des „Flügels auf Rädern“. (PDF; 403 kB) In: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, DLR-Portal → Schlörwagen.
- Audiodatei: Göttinger Ei. In: Helmholtz-Gesellschaft, 3:03 Min., (MP3; 2,9 MB).
Bilder
- Sonderausstellung: 100 Jahre gegen den Wind. In: nast-sonderfahrzeuge.de, 2009, mit Pressemitteilung von prototyp-hamburg.de
- Diaschau zum Wiederaufbau: Schlör-Wagen: Ein Unikat soll auf die Straße zurückkehren. In: Förderverein Mobile Welten Hannover e. V.
- dpa: Tüftler bauen „Göttinger Ei“: Windschnittiger Superwagen soll wiederauferstehen. In: FAZ, 7. März 2021.
Einzelnachweise
- Jens Wucherpfennig, Sigfried Loose, Jessika Wichner: Forscher lösen Rätsel des „Flügels auf Rädern“. (PDF; 403 kB) In: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, 1. August 2014, mit historischen Aufnahmen.
- Jens Wucherpfennig, Sigfried Loose: Vor 70 Jahren: Das windschnittigste Familienauto der Automobilgeschichte. In: dlr.de, (PDF; 180 kB), 6. Mai 2009.
- ps-speicher.de – Internetpräsenz von PS-Speicher in Einbeck.
- Startseite von: Central Garage Automuseum, aufgerufen am 19. März 2021.
- Florian Pillau: Das Göttinger Ei: Ein Auto, gezeichnet vom Wind . In: Heise.de, 16. März 2021.
- Foto: Schlörwagen-Strömungsbild. In: dlr.de, 16. Juni 2011.