Medusavirus
„Medusavirus“ ist eine vorgeschlagene Gattung großer DNA-Viren, die aus einer japanischen Thermalquelle isoliert wurden.[2] Das ikosaedrische Kapsid der Viruspartikel (Virionen) hat T=277-Symmetrie und weist an der Oberfläche Anhänge mit kugeligen Köpfen auf. Sein Genom ist 381 kb groß.[2] Das Virus kann ungeschützte Amöben zu steinartigen Zysten aushärten.[3] Unter Laborbedingungen kann die Amöbe Acanthamoeba castellanii als Wirt dienen.[2] Dies ist das erste Virus, das in einer heißen Umgebung (43,4° C) gefunden wurde. Morphologisch und phylogenetisch unterscheidet sich „Medusavirus“ stark von anderen Riesenviren des Phylums Nucleocytoviricota (veraltet Nucleocytoplasmic large DNA viruses, NCLDV), weshalb vorgeschlagen wurde, es einer eigenen taxonomischen Familie, den „Medusaviridae“ zuzuordnen.[3][4] In der Abstammungslinie der NCLDVs scheinen diese einen basalen Zweig darzustellen[5] oder nahe „Mollivirus“ angesiedelt zu sein.[2] Die Analysen von Schulz et al. (2020) ergaben ein uneinheitliches Bild: Nach Fig. 1 stehen die Medusaviren den Coccolithoviren (und damit wohl Mollivirus) nahe, nach Fig. 3 (HGT-Netzwerk) aber eher den „Pithocedratviren“ (mit „Pithovirus“ und „Cedratvirus“).
„Medusavirus“ | ||||||||||||||||
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3D-Rekonsruktion eines „Medusavirus“- | ||||||||||||||||
Systematik | ||||||||||||||||
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Taxonomische Merkmale | ||||||||||||||||
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Wissenschaftlicher Name | ||||||||||||||||
„Medusavirus“ |
In neuern Veröffentlichungen der Autoren findet sich auch die Bezeichnung „Acanthamoeba castellanii medusavirus“, womit offenbar die (Typus-)Spezies bezeichnet wird. Die vorgeschlagenen Taxa sind nach Medusa benannt, dem Monster der griechischen Mythologie, dessen Blick die Menschen in Stein verwandelt.[3] Eine offizielle Registrierung durch das International Committee on Taxonomy of Viruses (ICTV) steht derzeit noch aus (Stand April 2020).
Beschreibung
Wie die Kryoelektronenmikroskopie zeigt, weisen die Viruspartikel (Virionen) der Medusaviren eine sehr ungewöhnliche Morphologie auf. Das ikosaedrische Proteinkapsid (mit T=277-Symmetrie) hat einem Durchmesser von ungefähr 260 nm und eine Dicke von ca. 8 nm. Es ist mit ungefähr 14 nm langen Anhängen (‚Spikes‘) bedeckt, die in sphärischen (kugelförmigen) Spitzen enden. Auf jedem Kapsomer befindet sich genau ein solches Anhängsel. Unter dem Proteinkapsid befindet sich bei „Medusavirus“ – wie auch bei anderen großen nukleozytoplasmatischen DNA-Viren (NCLDVs) – eine 6 nm dicke innere Membran[2]
Das Genom von „Medusavirus“ ist ein lineares doppelsträngiges DNA-Molekül mit einer Länge von 381277 bp. Sein GC-Gehalt beträgt 61,7 %; nach diesem Indikator liegt „Medusavirus“ nach der bisher ebenfalls nur vorgeschlagenen Gattung „Pandoravirus“ an zweiter Stelle unter den NCLDVs. Vermutlich beinhaltet das Gemnom 461 Protein-codierende Gene sowie verschiedene Sequenzen, die mutmaßlich für tRNA stehen. In der Protein-kodierenden DNA konnten per Gen-Datenbankvergleich 115 Gene gefunden werden, die zu zu eukaryotischen Genen homolog sind, das sind 39 %. 86 % davon stammen vom Genom des amöboiden Wirts. was einen horizontalen Gentransfer (HGT, auch lateraler Gentransfer, LGT genannt) zwischen den Amöben und dem Virus anzeigt. Interessanterweise gibt es im Genom von „Medusavirus“ keine Gene, die für DNA-abhängige RNA-Polymerase, das Capping-Enzym und Topoisomerase II kodieren, wie sie sonst in den Genomen aller anderen großen NCLDVs zu finden sind. Daher wird die Replikation des Medusavirus-Genoms durch Proteine der Wirtszelle durchgeführt. Stattdessen wurden die Gene aller fünf Histone (H1, H2A, H2B, H3 und H4) sowie einige andere für Viren nicht charakteristische Proteine gefunden, wie etwa ein Homolog von Cyclin B, das den Zellzyklus des Amöben-Wirts regulieren kann, und eine mutmaßliche Metacaspase, die an der Regulation des programmierten Zelltodes von Amöben beteiligt ist. Darüber hinaus ist die Medusavirus-DNA-Polymerase mit der eukaryontischen DNA-Polymerase δ verwandt. Nach diesen ersten Untersuchungen erwarb das „Medusavirus“ möglicherweise in seiner Stammesgeschichte viele eukaryontische Gene als Folge des horizontalen Gentransfers (HGT) vom Amöbenwirt. Der horizontale Transfer verlief offenbar in mehreren Stufen und bidirektional. Unter den 57 Gen-Kandidaten für HGT wird bei 13 eine Übertragung vom Virus auf die Amöbe (VtoA) vermutet, bei 12 in der umgekehrten Richtung von der Amöbe auf das Virus (AtoV). Etwa die Hälfte der auf die Amöbe übertragenen Gene scheint dort aber nicht aktiv zu sein (oder diese Gene wurden von der Amöbe deaktiviert).[2]
Lebenszyklus
Die DNA von „Medusavirus“ findet sich 1 Stunde nach der Infektion im Amöbenkern. Nach weiteren 1 bis 3 Stunden kann der größte Teil der viralen DNA an der Peripherie des Zellkerns nachgewiesen werden, so. Dies bedeutet, dass die Replikation des Medusavirus-Genoms im Kern der Wirtszelle stattfindet. 8 Stunden nach der Infektion erreicht die Konzentration an viraler DNA ihren höchsten Wert und die virale DNA ist im gesamten Zellkern verteilt. 8 bis 10 Stunden nach der Infektion lassen sich zahlreiche Kapside im Zytoplasma der infizierten Zelle nachweisen und 14 Stunden nach der Infektion ist die virale DNA auch im Zytoplasma nachweisbar. Die Freisetzung neuer Viruspartikel aus der Wirtszelle beginnt 14 Stunden nach der Infektion.[2]
Evolution
Eine phylogenetische Analyse auf der Basis von DNA-Polymerase-Gensequenzen und Major Capsid Protein (MCP) ergab keinen Hinweis, „Medusavirus“ in eine bestehende Gruppe oder Familie von NCLDVs aufzunehmen. Die Analyse des Proteoms und der Genzusammensetzung ergab, dass die Abstammungslinie von „Medusavirus“ basal von der Wurzel diesem Phylum (einschließlich „Mollivirus“ und „Pandoravirus“) abzweigt. Daher wurde vorgeschlagen, „Medusavirus“ in eine eigene Familie „Medusaviridae“ zu gruppieren.[2]
„Medusavirus“ zeigt die Spuren evolutionärer Wechselwirkungen zwischen Virus und eukaryotischem Wirt, die durch die gemeinsame Nutzung des DNA-Replikationskompartiments und einer evolutionär lang anhaltenden Beziehung zwischen Virus und Wirt verursacht wurden.[2] Im April 2019 berichteten Biologen, dass das sehr große „Medusavirus“ oder ein Verwandter zumindest teilweise für das evolutionäre Entstehen komplexer eukaryontischer Zellen aus einfacheren prokaryontischen Vorläufern verantwortlich gewesen sein könnte.[5] Diese Hypothese wurde im August 2020 noch ausführlicher von M. Takemura vorgestellt.[6]
Einzelnachweise
- ICTV: ICTV Master Species List 2019.v1, New MSL including all taxa updates since the 2018b release, March 2020 (MSL #35)
- Genki Yoshikawa, Romain Blanc-Mathieu, Chihong Song, Yoko Kayama, Tomohiro Mochizuki, Kazuyoshi Murata, Hiroyuki Ogata, Masaharu Takemura: Medusavirus, a novel large DNA virus discovered from hot spring water. In: Journal of Virology, ISSN 0022-538X. 93, Nr. 8, 2019. doi:10.1128/JVI.02130-18. PMID 30728258. Abgerufen am 2. Juli 2019. PDF
- The giant Medusavirus turns defenceless cells to 'stone'. In: Nature. 566, Nr. 7745, 2019, S. 429. bibcode:2019Natur.566R.429.. doi:10.1038/d41586-019-00591-2. Abgerufen am 2. Juli 2019.
- Centre national de la recherche scientifique: List of the main “giant” viruses known as of today, Université Aix Marseille, 18. April 2018. Nach Masaharu Takemura et al.: Giant Viruses Isolated from Japanese Aquatic Environments, Tokyo University of Science, 3rd Ringberg Symposium on Giant Virus Biology, 19.–22. November 2017 (unveröffentlicht)
- Tokyo University of Science: New giant virus may help scientists better understand the emergence of complex life - Large DNA virus that helps scientists understand the origins of DNA replication and the evolution of complex life. In: EurekAlert!, 30. April 2019. Abgerufen am 2. Juli 2019.
- Medusavirus Ancestor in a Proto-Eukaryotic Cell: Updating the Hypothesis for the Viral Origin of the Nucleus, in: Front. Microbiol. 11:571831, 3. September 2020, doi:10.3389/fmicb.2020.571831
Weblinks
- Daniel Lingenhöhl: Riesenvirus verwandelt Wirt zu Stein, auf: Spektrum.de vom 8. März 2019
- Tessa Koumoundouros: Giant Viruses Could Explain The Mysterious Evolution of a Key Part of Our Cells, auf: sciencealert vom 10. September 2020
- In Ancient Giant Viruses Lies the Truth: Medusavirus Key to Deciphering Evolutionary Mystery, auf: SciTechDaily vom 11. September 2020