Martin-Luther-Gedächtniskirche
Die Martin-Luther-Gedächtniskirche im Berliner Ortsteil Mariendorf ist ein Denkmal und Zeitzeugnis der besonderen Art. Sie wurde von 1933 bis 1935 auf der Grundlage lange bestehender Planungen erbaut. Bei der Gestaltung des Innenraums vermischten sich staatliche und kirchliche Symbolik, wie bis heute erkennbar ist. Aus diesem Grund wird die Kirche seit etwa 2004, als sie durch ihren schlechten Bauzustand in die Schlagzeilen geriet, in der Presse gelegentlich auch als „Nazi-Kirche“ bezeichnet. Die Gemeinde selbst sieht die Überreste dieser Gestaltung im Zeitgeist von 1933 als Denk- und Mahnmal.
Vorgeschichte
Im späten 19. Jahrhundert führte die Expansion der Metropole Berlin in vielen Vororten, so auch in Mariendorf, zu stürmischem baulichem und Bevölkerungswachstum. Die Dorfkirche Mariendorf, eine Feldsteinkirche aus dem 13. Jahrhundert, war für die Gemeinde in den 1880er Jahren längst zu klein. Im Jahr 1885 diskutierte die Gemeindeverwaltung deshalb erstmals über den Ausbau der Dorfkirche oder den Neubau einer Kirche.
Im Jahr 1908 wurde ein Anstoß zum Bau einer neuen Kirche gegeben. Vorrang erhielt aber der Bau einer Kirche in Südende, damals noch Teil der Parochie Mariendorf. 1918, noch vor Ende des Ersten Weltkriegs, fasste die Gemeinde den Beschluss zu einem Kirchenneubau und kaufte das Grundstück gegenüber dem Rathaus Mariendorf. Es sollte eine Kirche zur Erinnerung an die Toten des Ersten Weltkriegs oder eine Friedenskirche werden. Seit 1924 sammelte ein Kirchbauverein Spenden für einen Neubau. Die eingegangenen Beträge dienten dazu, 1927 zunächst das Gemeindehaus nach einem Entwurf von Curt Steinberg, dem Leiter des Kirchlichen Bauamtes im Konsistorium der altpreußischen Kirchenprovinz Brandenburg, zu der auch Berlin gehörte, zu errichten. Steinberg fertigte 1929 sowohl den papiernen Entwurf als auch ein Modell für den Kirchenbau. Da gerade die Inflationszeit vorüber war, bestand Geldmangel, sodass der Bau auf unbestimmte Zeit zurückgestellt wurde. Das Modell steht seit 1929 im Saal des Gemeindehauses, das Ende des 20. Jahrhunderts den Namen des Theologen und Schriftstellers Jochen Klepper erhielt (Jochen-Klepper-Haus) und denkmalgeschützt ist.
Bau des Gotteshauses
In der Zeit des Nationalsozialismus verfügte die Gemeinde über ausreichend Geld, um das Kirchengebäude nach den ursprünglichen Bauplänen errichten zu lassen. Im September 1933 begannen die Bauarbeiten für den Kirchenbau, von denen ein großer Teil als Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bei der noch immer hohen Arbeitslosigkeit erledigt wurde. Die Grundsteinlegung erfolgte am 22. Oktober 1933. Der Architekt Steinberg hatte sich mit neuen Weltanschauung der neuen Machthaber identifiziert und brachte in die überarbeiteten Pläne auch Elemente der Zeit bei der Gestaltung des Innenraums ein. Zwei Jahre und zwei Monate später, am 22. Dezember 1935, feierte die Kirchengemeinde die Einweihung der nun Martin Luther geweihten Gedächtniskirche.
Architektur
Außen
Gemauerte Pfeiler tragen Kirchenschiff, Apsis und den Kirchturm. Eine Eisenkonstruktion bildet das Dach. Der Kirchturm war auf über 50 Meter geplant. Wegen der Nähe zum Flughafen Tempelhof wurde dieses Maß auf 49,20 Meter reduziert, die sonst vorgeschriebenen Warnleuchten konnten entfallen. Eine 6,60 Meter hohe Glockenstube nahm vier Bronzeglocken auf. Die Fassade wird aus großformatigen Terrakottaplatten gebildet, die während des Aufbaus übereinandergestellt und mit Mauerwerk hinterfüllt wurden; eine Praxis, die zu massiven konstruktionsbedingten Schäden führt, wie seit Mitte der 1990er Jahre bekannt wurde.
Innen
Die Vorhalle ist als Ehrenhalle für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs ausgeführt. Hier hängt als Symbol der Zeit ein gusseiserner Deckenleuchter in Form eines Eisernen Kreuzes, umrankt von goldenen Eichenblättern. 1922 hatte der Generalsekretär des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge derartige Kronleuchter als „sinnige Ehrung“ in Kirchen empfohlen. An den Wänden befinden sich lebensgroße Porträt-Halbreliefs der Köpfe des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und des Reformators Martin Luther, die sich gegenseitig starr in die Augen blicken. Anstelle des Luther-Bildnisses befand sich laut einem Tagebuch-Eintrag Jochen Kleppers vom 24./27. Januar 1936 eine Darstellung von Adolf Hitler („im Vorraum Hitlers Portraitbüste“), Bestätigung auch in Teil 3 der Chronik der Kirchengemeinde.[1]
Zwischen Wand und Decke befindet sich umlaufend in damals gern verwendeter Frakturschrift die erste Zeile des Lutherzitats „Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen“,[2] ergänzt um den Anfang des Liedes Unsern Ausgang segne Gott von Hartmann Schenck.
Im Kirchenschiff fällt der leicht abfallende, stufenlose Fußboden auf, der dem Raum eine theatralische Wirkung verleiht. Dieser Eindruck wird auch durch die keramikverkleideten Gurtbögen am Tonnengewölbe unterstützt. Den Übergang vom Kirchenschiff zum Altarraum bildet ein Triumphbogen. Dieser Bogen ist mit rund 800 Symbolterrakotten von Heinrich Mekelburger verkleidet, die 36 wiederkehrende Motive zeigen. Die christlichen Motive sind systematisch mit staatlichen und nationalsozialistischen Symbolen verknüpft: Unmittelbar neben einem Hakenkreuz befanden sich das Christusmonogramm, die Evangelistensymbole sowie die Dornenkrone. Weiterhin waren hier ein Strahlenkranz als NS-Hoheitszeichen sowie das Zeichen der NSV zu sehen. Diese Kombination entsprach der Ideologie der NS-nahen Vereinigung Deutsche Christen als Synthese von Christentum und Nationalsozialismus. Die Hakenkreuze und Symbole der NSV wurden nach dem Ende der Naziherrschaft entfernt, aber die zugehörigen Reichsadler verblieben an ihren Plätzen.
Ausstattung
Chor, Altar, Leuchter, Gedenkkunst
Der Altarraum wird durch neun bleiverglaste Fenster mit Stationen des Glaubensbekenntnisses belichtet. Sie stammen von Hans Gottfried von Stockhausen aus dem Jahr 1970, nachdem die ursprünglich von Werner Göritz entworfenen Fenster im Krieg zerstört wurden.
Der dunkelbraun gebeizte Altar wird von Holzfiguren getragen, die, ohne jedoch die entsprechenden Attribute zu halten, auch als die vier Evangelisten interpretiert werden. Die Holzarbeiten an Kanzel und Taufe bezeugen auch hier den NS-Zeitgeist. An der Kanzel gesellen sich ein Soldat, ein SA-Mann und ein Hitlerjunge zu den anderen Figuren aus der Bergpredigt und stellen zugleich die ideale deutsche Familie dar.[2] Auch die hölzerne Taufe zeigt auf einer Seite einen uniformierten SA-Mann, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Adolf Hitler aufweist.[2] Auffällig auch der Zeitgeist am Altarkreuz: Dort hängt kein leidender oder sterbender Christus, sondern ein „deutscher Held“ mit trotzig gerecktem Kinn, der den Tod besiegt oder überwindet bzw. überwunden hat.
Zur kritischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Gestaltung des Kirchenraumes beschloss der Gemeindekirchenrat 1989 den Ankauf der Kunstwerke Auschwitz und Oratio des polnischen Künstlers Paweł Warchoł. Insgesamt 14 Collagen bilden eine Sequenz, die am Lagertor beginnt und an einem Verbrennungsofen endet. Sie stellen eine Anleihe an die Stationen eines Kreuzweges dar.[3]
Orgel
Eine besondere Vorgeschichte hat auch die 1935 von der Orgelbaufirma E.F. Walcker (Ludwigsburg) erbaute Orgel. Vor ihrem Einbau in diesem Gotteshaus kam sie auf Anforderung von Adolf Hitler[2] vorübergehend in Nürnberg für den 7. Reichsparteitag im Jahr 1935 zum Einsatz. Mit ihrem Spiel wurde der Parteitag eröffnet, auf dem die Nürnberger Gesetze verkündet wurden. Nach Abschluss des Parteitags wurde das Instrument im Oktober 1935 demontiert und nach Berlin gebracht, und dort im Dezember 1935 eingeweiht. Nachdem die Orgel in den 1960er Jahren eine bauliche Veränderungen erfahren hatte, wurde sie 1984 wieder in den historischen Zustand zurückversetzt.
Das Instrument hat 50 Register (davon sieben Transmissionen) auf vier Manualen und Pedal. Die beiden Schwellwerke sind für die Superoktavkoppeln auf einen Tonumfang bis a4 ausgebaut. Die Trakturen werden elektropneumatisch gesteuert.[4]
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- Koppeln
- Normalkoppeln: II/I, III/I, III/II, I/P, II/P, III/P
- Suboktavkoppeln: III/I, III/III
- Superoktavkoppeln: II/I, III/I, III/II, II/II, III/III, III/P
- Spielhilfen:
- vier freie Kombinationen, Tutti, Generalkoppel, Registercrescendo
- Absteller für Handregister, Walze, Zungen, Suboktavkoppeln, Fernwerk, sowie Einzelzungenabsteller
1939 bis April 1945: Kriegszeit
Die Glocken mussten während des Zweiten Weltkriegs – sieben Jahre nach der Einweihung – im Jahr 1942 als Metallspende des deutschen Volkes der Rüstung geopfert werden. Im Dezember 1943 kam es zum ersten Bombenschaden am Kirchengebäude. Sämtliche Kirchenfenster und das Gemeindehaus erlitten große Schäden. Zwei Brandbomben durchschlugen die Apsis und das Gewölbe, richteten im Inneren allerdings nur begrenzten Schaden an.
Seit Mai 1945
Im Jahr 1945 diente die Martin-Luther-Gedächtniskirche vorübergehend der US Army als Garnisonkirche. Dadurch konnte noch 1945 eine Notverglasung der Fenster vorgenommen werden. Die Folgen des Luftkrieges wurden erst mit der Rückgabe an die Kirchengemeinde Anfang der 1950er Jahre vollständig beseitigt. 1954 mussten am Turm Instandsetzungsarbeiten vorgenommen werden. Neue Kupferverkleidungen sollten die Turmspitze und die bis dahin offene Glockenstube vor Witterungseinflüssen schützen.
Die neuen Apsisfenster wurden 1970 nach dem Entwurf von Hans Gottfried von Stockhausen eingebaut.[5]
Ab 2004 diente die Kirche nur noch ausnahmsweise für große Gottesdienste oder andere Einzelveranstaltungen, da der Turm baufällig war und erhebliche Sicherheitsvorkehrungen für Nutzungen erforderlich waren. Der Turm wurde bis Ende 2011 aus Mitteln des Bundes, des Landes Berlin, der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und der evangelischen Gemeinde Berlin-Mariendorf denkmalgerecht instand gesetzt (siehe Einleitungsbild). Daneben steigt das Interesse zahlreicher Initiativen und Vereine, die sich der Denkmalpflege und der Erinnerungskultur verschrieben haben. Möglichkeiten für ein zukünftiges Nutzungsprofil der Kirche werden seit 2008 im Rahmen einer mehrjährigen Erprobungsphase ergründet.
Mit der Absicht des Gedenkens, der Mahnung und der Versöhnung gehört die Kirchengemeinde seit 1992 – aktiv seit 2003 – der Nagelkreuzgemeinschaft an.[6]
Literatur
- Stefanie Endlich, Monica Geyler-von Bernus, Beate Rossié (Hrsg.): Christenkreuz und Hakenkreuz. Kirchenbau und sakrale Kunst im Nationalsozialismus. Metropol, Berlin 2008, ISBN 978-3-940938-12-1.
Weblinks
- Martin-Luther-Gedächtniskirche. Website der Evangelischen Kirchengemeinde Berlin-Mariendorf
- Website „Martin-Luther-Gedächtniskirche“ der Stattbau Stadtentwicklungsgesellschaft mbH im Umweltforum Auferstehungskirche, 2016.
- Eintrag in der Berliner Landesdenkmalliste
- Bettina Vaupel: Heiligenschein und Stahlhelm. Die Martin-Luther-Gedächtniskirche in Berlin-Mariendorf. In: Monumente-Online, Magazin der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, August 2013, abgerufen am 19. Juni 2014
- Carsten Dippel: Martin-Luther-Gedächtniskirche – Kirche mit Haken. Deutschlandfunk-Sendung „Tag für Tag“, 23. Mai 2017
Einzelnachweise
- Wolfgang See: Chronik der Martin-Luther-Gedächtniskirche, Teil 3 – Über die Gestaltung des Innenraumes. Evangelische Kirchengemeinde Berlin-Mariendorf, abgerufen am 23. Mai 2017.
- Tom Wolf, Manuel Roy, Roberto Sassi: Verborgenes Berlin. Hier: Die Martin-Luther-Gedächtniskirche, S. 208/209. Jonglez Verlag 2021, ISBN 978-2-36195-371-3.
- Jenny Bohse: Schwieriges Erbe unterm Glockenturm. In: die tageszeitung, 21. März 2008, abgerufen am 13. September 2012.
- Nähere Informationen zur Orgel bei: Michael Gerhard Kaufmann: Orgel und Nationalsozialismus. (PDF, 3,8 MB) Kapitel „Walcker-Orgel Opus 2432 Bj. 1934/35 für die Martin-Luther-Kirche in Berlin-Mariendorf“. Musikwissenschaftliche Verlags-Gesellschaft, Kleinblittersdorf, 1997, ISBN 978-3-920670-36-2, S. 244–246. Walckerorgel.org, archiviert vom Original am 11. Februar 2012; abgerufen am 23. Mai 2017.
- Der Ort: Geschichte. Website „Martin-Luther-Gedächtniskirche“ der Stattbau Stadtentwicklungsgesellschaft mbH im Umweltforum Auferstehungskirche, 5. August 2016, abgerufen am 23. Mai 2017.
- O. Köppen: Die Gemeinde ist Mitglied in der Nagelkreuzgemeinschaft. Evangelische Kirchengemeinde Berlin-Mariendorf, März 2003, abgerufen am 23. Mai 2017.