Leukämiecluster Elbmarsch
Der Begriff Leukämiecluster Elbmarsch bezeichnet eine Häufung (Krebscluster) von Leukämie bei Kindern im Gebiet der Samtgemeinde Elbmarsch (Landkreis Harburg, Niedersachsen) und des benachbarten Geesthacht (Herzogtum Lauenburg, Schleswig-Holstein), die ab 1990 auftritt. Es handelt sich nach Aussage von EU-Behörden hierbei um die weltweit höchste erfasste Leukämierate auf kleinem Raum bei Kindern und gleichzeitig um den am besten erfassten und dokumentierten Cluster weltweit.
Die Ursache des Clusters ist bisher nicht wissenschaftlich stichhaltig nachgewiesen worden. Die möglichen Ursachen, die bisher von Gutachtern, Bevölkerung oder Journalisten in Betracht gezogen wurden, lassen sich in fünf Kategorien zusammenfassen:
- Emissionen der Nuklearanlagen Kernkraftwerk Krümmel und der Geesthachter Forschungsreaktoren, die sich im Cluster-Gebiet befinden
- Rückstände der Sprengstofffabrik Krümmel
- andere Umweltfaktoren im Gebiet
- demografische Faktoren (EUROCLUS-Studie)
- Zufall
Der Leukämiecluster Elbmarsch ist einer von 240 Leukämieclustern, die im Rahmen der EUROCLUS-Studie bei der Erhebung von 13351 Fällen kindlicher Leukämie (Diagnose in den Jahren 1980–1989) in 17 Ländern identifiziert wurden.[1] 2007 wurden dort 14 Fälle von Leukämieerkrankungen bei Kindern festgestellt, nach nationalem Durchschnitt wären vier zu erwarten gewesen. Die Leukämiehäufigkeit ist damit signifikant erhöht.[2]
Betrachtung der Häufigkeit der Leukämiefälle
Das Deutsche Kinderkrebsregister in Mainz registriert seit 1980 alle Krebserkrankungen bei Unter-15-Jährigen in der Bundesrepublik Deutschland. Damit der behandelnde Arzt die Daten melden kann, müssen die Eltern zustimmen. Bei Leukämien werden laut dem Kinderkrebsregister mehr als 95 Prozent der Fälle registriert. Dabei wurden in Deutschland bisher 59 Cluster, also Gebiete mit auffälliger Häufung, identifiziert.
Im Raum Geesthacht/Elbmarsch wurden seit 1989 je nach Zählweise zwischen 15 und 19 Kinder registriert. Das Kinderkrebsregister geht davon aus, dass zwischen 1990 und 2005 statistisch lediglich fünf Fälle zu erwarten gewesen wären. Der Verein Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) geht von einer anderen Rechnung aus. Danach sei in dem Gebiet statistisch etwa alle 58 Jahre ein Kinder-Leukämiefall zu erwarten, anstelle der realen Quote von durchschnittlich etwa einem Fall pro Jahr. Dass eine überdurchschnittliche Häufung vorliegt, wird von keiner der beteiligten Parteien bestritten.
Seit 1990 sind in der Elbmarsch 19 Kinder an Leukämie erkrankt, vier von ihnen sind an der Krankheit gestorben. Der Leukämiecluster Elbmarsch stellt die welthöchste erfasste Leukämierate auf kleinem Raum bei Kindern dar, die Ursache ist aber bis heute unbekannt. Das Kernkraftwerk Krümmel und die Forschungsreaktoren in Geesthacht wurden oft mit den Leukämiefällen in Verbindung gebracht. Ein wissenschaftlicher Beweis für deren Mitverantwortung ist bisher nicht erbracht worden.[3]
Am 9. Dezember 2006 berichtet die Landeszeitung, dass es im Jahr 2006 in Scharnebeck, 16 Kilometer südöstlich, und in Bardowick, 14 Kilometer südlich, zu jeweils einem Leukämiefall bei Kleinkindern gekommen ist. Im selben Jahr ist es zu zwei Leukämiefällen in Winsen (Luhe), 12 Kilometer südwestlich, gekommen. Im April 2009 kam in Barum-Horburg (5,5 Kilometer südlich) noch ein weiterer Fall von Kinderleukämie hinzu.[4]
Ursachenforschung: Studien und Gutachten
Die Suche nach den Ursachen erweist sich bisher als äußerst schwierig und langwierig. Zahlreiche Studien und Untersuchungen wurden bisher in Auftrag gegeben, zumeist durch die Bundesländer Schleswig-Holstein und Niedersachsen.
Übersicht Expertenkommissionen und Arbeitsgruppen
Zu den Fragen bezüglich des Kinder-Leukämie-Clusters Elbmarsch sowie zu anderen in Zusammenhang mit Leukämie-Risiken stehenden Fragen waren in Norddeutschland seit 1990 zahlreiche Arbeitsgruppen tätig. Aufgabe solcher Expertenkommissionen ist es, Empfehlungen für die Durchführung von Maßnahmen, etwa Untersuchungen von Bodenproben, Messungen, demografische Studien, auszusprechen. Es handelt sich also um Expertenkreise, die die Landesregierungen und Ministerien beraten. Die Maßnahmen werden dann, nach Erteilung des Auftrages durch das verantwortliche Ministerium, von einem externen Institut durchgeführt.
Die verschiedenen Leukämiekommissionen hatten oft identische Mitglieder. Die Mitglieder der Kommissionen sind meist renommierte Wissenschaftler wie etwa Universitätsprofessoren. Sie arbeiten in den Kommissionen nebenberuflich und ehrenamtlich und bekommen aus öffentlichen Mitteln lediglich Fahrtkosten und Spesen erstattet.
Die ersten beiden Expertenkommissionen Leukämie wurden Anfang der 1990er Jahre von den Bundesländern Niedersachsen und Schleswig-Holstein eingesetzt, nachdem die ersten Kinder-Leukämie-Fälle aufgetreten waren. Der vollständige Name für diese Kommissionen lautet „Wissenschaftliche Untersuchungskommissionen zur Ursachenaufklärung der Leukämie-Erkrankungen in der Elbmarsch“:
- Expertenkommission Leukämie Niedersachsen (ab 1990, Leitung: K. Aurand ab Januar 1991 H.-Erich Wichmann)
- Expertenkommission Leukämie Schleswig-Holstein (ab 1992, Leitung: O. Wassermann)
Ab 1992 tagten die beiden Gruppen gemeinsam, abwechselnd in Kiel oder Hannover. Neben anderen Empfehlungen war die Durchführung der Norddeutschen Leukämie- und Lymphomstudie (NLL) eine gemeinsame Empfehlung dieser beiden Gruppen.
Wie bei größeren Studien üblich, wurde die Norddeutsche Leukämie- und Lymphomstudie (NLL-Studie) von einem Beirat begleitet:
- Wissenschaftlicher Beirat zur NLL Studie, ab 1996, (International besetzter epidemiologischer Fachbeirat, Vorsitz von K.-H. Jöckel)
Zur Unterstützung der Fachkommissionen wurden Arbeitsgruppen eingesetzt, die sich auf einzelne Aspekte konzentrierten:
- Arbeitsgruppe Belastungsindikatoren (ab 1993, Umweltministerium Niedersachsen, Leitung: E. Greiser)
- Arbeitsgruppe Tritium (Schleswig-Holstein)
Des Weiteren gab es einen runden Tisch vor Ort:
- Arbeitsgruppe Leukämie in der Elbmarsch
- Informationsgespräch im Juni 1986 in Geesthacht mit zwei Mitgliedern der Wählergemeinschaft GAL Harburg-Land, einem Vertreter von Die Grünen Geesthacht und einem Arzt aus der Elbmarsch über 3 aktuelle Fälle von Kinderleukämie.
Diese AG diente als Schnittstelle zwischen den Kommissionen und den Bürgern im betroffenen Gebiet. Neben Vertretern der einzelnen Kommissionen waren auch Vertreter der örtlichen Behörden unter den Mitgliedern.
Abschlussberichte der Leukämiekommissionen
Die Expertenkommission Leukämie Niedersachsen informiert in ihrem Abschlussbericht von November 2004 über die Untersuchung zahlreicher potentieller Risikofaktoren. Untersuchte Risikofaktoren, die nicht mit den Nuklearanlagen in Verbindung stehen, sind etwa örtliches Trinkwasser, Röntgenuntersuchungen bei den betroffenen Kindern, Baumaterial der im Gebiet befindlichen Deiche, durch die Elbe angeschwemmte Schadstoffe im Uferbereich oder elektromagnetische Felder durch Stromleitungen. Die Ergebnisse bei der Untersuchung solcher Faktoren fielen negativ aus, eine Signifikanz in Verbindung mit den Krankheitsfällen konnte bei keinem dieser Faktoren erkannt werden. Um die ortsansässigen Nuklearbetriebe, also das Kernkraftwerk und das GKSS-Forschungszentrum, als mögliche Krankheitsverursacher zu untersuchen, wurde die NLL-Studie veranlasst. Diese Studie befasste sich jedoch schlussendlich nicht mit den Kinderleukämiefällen, so dass mangels entsprechender Fragestellung auch hier keine Aussagen möglich waren (s. u.). Die Expertenkommission Niedersachsen zog als letzte verbleibende Möglichkeit den Zufall (Zufallshypothese) in Betracht.
Im September 2004 beendete die Expertenkommission Leukämie Schleswig-Holstein ihre Arbeit. In ihrem Abschlussbericht,[5] den sechs der acht Experten unterzeichneten, heißt es: „Wir haben das Vertrauen in diese Landesregierung verloren.“ Die Wissenschaftler, unter der Leitung von Otmar Wassermann, werfen der (bis 2005 amtierenden; vgl. Landesregierung von Schleswig-Holstein) Landesregierung Schleswig-Holstein und der Staatsanwaltschaft Behinderung ihrer Arbeit und Unwillen zur Aufklärung vor. Insbesondere der mutmaßliche Brandfall auf dem GKSS-Gelände vom September 1986 (s. u.) und die möglicherweise daraus resultierende Kontaminierung der Umgebung mit Kernbrennstoffen (Pac-Kügelchen) sei dringend zu untersuchen. Sie kündigten an, zukünftig mit Nicht-Regierungsinstitutionen wie etwa dem „Verein Internationaler Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ zusammenzuarbeiten, und legten ihre Mandate aus Protest nieder. Die Landesregierung Schleswig-Holstein bezeichnete die Vorwürfe der Wissenschaftler der Schleswig-Holsteinischen Kommission in einer Pressemitteilung (November 2004) als „abwegig und abstrus“, „haltlos und unseriös“ und sprach dem Leiter der niedersächsischen Fachkommission, H.-Erich Wichmann, das Vertrauen aus.
Die Länder Schleswig-Holstein und Niedersachsen schlossen nach den offiziellen Abschlussberichten die Akte Elbmarsch. Für die beteiligten Gruppen stellt es sich als äußerst schwierig dar, politisch neutrale Wissenschaftler zu finden, die bereit sind, die Fakten sachlich zu untersuchen. Das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) behauptet in einer Anfang April 2006 ausgestrahlten Reportage, dass viele Institute aus Existenzangst keine Bodenproben aus dem Raum Geesthacht untersuchten. Die Laborbetreiber fürchteten, dass sie von den Regierungen oder anderen Stellen zukünftig durch Nichtvergabe von Aufträgen abgestraft würden. Zur Wahrung der Objektivität seien demnach die Bodenproben im Sacharow-Institut ohne Mitteilung des Fundortes untersucht worden, heißt es in dem Bericht.
NLL-Studie
Die Norddeutsche Leukämie- und Lymphomstudie (NLL) wurde von den Ländern Schleswig-Holstein und Niedersachsen gemeinschaftlich an das Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS) vergeben. Die Studie wurde vom Dezember 1996 bis ca. April 2003 durchgeführt. Laut BIPS handelt es sich um die größte Fall-Kontroll-Studie Europas zur Erforschung der Ursachen für Blutkrebserkrankungen. Untersucht wurde, ob Erwachsene, die in der Nähe von im Normalbetrieb laufenden Nuklearbetrieben wohnen, einem stärkeren Leukämie-Risiko ausgesetzt sind. Dazu wurden in sechs norddeutschen Landkreisen insgesamt 4.500 Interviews geführt. Die NLL-Studie beschäftigte sich nicht mit Kinderkrebs im Allgemeinen oder dem Leukämie-Cluster Elbmarsch im Besonderen, was auch der Koordinator der Studie, Wolfgang Hoffmann, bestätigt. Zur Aufklärung möglicher Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen den Nuklearbetrieben bei Krümmel und dem Kinderleukämiecluster kann die Studie keinen Beitrag leisten.
Euroclus-Studie
Im Gegensatz zu den vorgenannten Studien, deren Untersuchungsschwerpunkt sich auf die geografische Region der Elbmarsch beschränkt, wurde in der EUROCLUS-Studie versucht, Übereinstimmungen zwischen jenen 240 Leukämieclustern zu finden, die im Rahmen der Studie identifiziert wurden.
Im Zuge der Auswertung der Studie zeigte sich, dass nicht Umweltfaktoren, wie die Nähe zu Kernkraftwerken, zu Militärflugplätzen oder anderen häufig als Verursacher in Rede stehender Anlagen mit dem Auftreten der Leukämiefälle korrelieren, sondern dass demografische Faktoren die signifikantesten Merkmale darstellen, in denen die untersuchten Cluster übereinstimmen.
Als typische Regionen für das Auftreten von Leukämie im Kindesalter wurden dünn besiedelte Wohngebiete erkannt, in welche zu zunächst isoliert lebenden Bewohnern neue Mitbewohner aus anderen Wohngebieten hinzuzogen. Diese Erkenntnis spiegelt sich in der "Greaves-Hypothese" wider.
Gestützt wird die "Greaves-Hypothese" beispielsweise von einer Kontrollstudie, welche im Auftrag des Landes Niedersachsen vom Kinderkrebsregister durchgeführt wurde. Im Ergebnis kommt diese Studie zu dem Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit für die Erkrankung an Leukämie (ALL) bei immunologischer Isolation steigt. Kennzeichnend für immunologische Isolation sind eine geringe Impfquote, wenig Kontakt zu anderen Kindern sowie das Merkmal des Erstgeborenen.[6]
Mögliche Ursachen
Möglicher Brandvorfall am GKSS 1986
Am 12. September 1986 wurde im Kernkraftwerk Krümmel plötzlich an mehreren Messpunkten gleichzeitig eine alarmierend hohe Radioaktivität gemessen. Die Betreiber des Kernkraftwerks schlossen einen Störfall innerhalb des Kraftwerks aus. Die Ursache für die erhöhten Werte müsste demnach außerhalb des Kernkraftwerkes gelegen haben. Mehrere Augenzeugen berichteten von einem Brand (gelb-bläuliche Feuersäule ohne Rauch), den sie auf dem Gelände des benachbarten GKSS-Forschungszentrums gesehen hätten. Nach dem angeblichen Unfall wollen Augenzeugen Arbeiter in Kontaminationsschutzkleidung auf dem betroffenen Gelände gesehen haben, was für eine bedenklich erhöhte Strahlung sprechen würde. Es gab Berichte in der Lokalpresse.[7]
Die Einsatzprotokolle der Feuerwehr vom September 1986, die genauere Informationen über einen Brandvorfall enthalten könnten, sind nach Angaben der örtlichen Feuerwehr durch ein Feuer im September 1991 in deren Archiv zerstört worden (siehe Abschlussbericht der Schleswig-Holsteinischen Leukämie-Kommission).[5][8][9]
Die Verantwortlichen des Kernkraftwerks Krümmel und die Landesaufsichtsbehörde erklärten, dass das natürlich vorkommende radioaktive Edelgas Radon, das etwa aus dem Erdboden austreten kann, sich an diesem Tag durch eine Inversionswetterlage in der Umgebung des Kernkraftwerks in Bodennähe angereichert und so den Alarm ausgelöst haben soll. Allgemein gelten die Böden in Niedersachsen und im südlichen Schleswig-Holstein als radonarm, man geht durchgehend von Werten zwischen 10.000 und 20.000 Becquerel pro Kubikmeter Luft aus, bezogen auf die Luft in einem Meter Bodentiefe. Eine diesbezügliche Bodenuntersuchung durch Geologen wurde im Bereich Krümmel bisher nicht vorgenommen.
Bei der Beurteilung der angeblichen Unfallstelle streiten sich die beteiligten Parteien sogar um normalerweise objektiv nachprüfbare Details, darunter:
- das Alter der dort wachsenden Bäume,
- ein Gebäude („Institut für Physik“), das nach dem Unfall plötzlich verschwunden sein soll bzw. angeblich nie existiert hat,
- beschädigte oder unbeschädigte Stromleitungen,
- Verbrennungen des Bodens und des Bewuchses,
- ggf. Datierung und Ursache dieser Verbrennungen,
- Wetterlage am Tag des Ereignisses,
- die angebliche Verlegung einer Messstation für Radioaktivität,
- eventuell fehlende Daten dieser Station, sowie
- Hinweise auf Durchführung von Erdbewegungen (oder die Gründe für solche Arbeiten) im fraglichen Bereich und
- Abtransport radioaktiven Materials nach Karlstein/Bayern,
- Deklaration dieses Materials als ‚„Brennstab‚segmente‘“.
Eine Suche nach unparteiischen Sachverständigen zur Klärung dieser Fragen wurde bislang nicht vorgenommen.
Die offiziellen Stellen bestreiten die Unfall-Theorie. Wilfried Voigt, zuständiger Staatssekretär unter der bis 2005 amtierenden Landesregierung Schleswig-Holstein, hat laut eigener Aussage das betreffende Gelände persönlich gründlich inspiziert und ist zu der Überzeugung gelangt, dass dort kein Unfall stattgefunden habe. Die Bürgerinitiative sowie einige der an den Untersuchungen beteiligter Wissenschaftler sprechen jedoch von einer Behinderung ihrer Untersuchungen durch öffentliche Stellen und sehen sich bei solchen Aussagen der Politiker lediglich in ihrer Befürchtung bestärkt, ein Vorfall in einer der beiden Anlagen sollte vertuscht werden.
Pac-Kügelchen
Pac-Kügelchen sind annähernd kugelförmige Kernbrennstoffteilchen. Pac-Kügelchen wurden z. B. in den Kugelbrennelementen des Kernkraftwerks THTR-300 in Hamm-Uentrop verwendet. Die Durchmesser solcher Kügelchen liegen in der Größenordnung zwischen einigen hundertstel Millimeter und einem Millimeter.
Verschiedene an der Ursachenforschung beteiligte Gruppen sowie Einzelpersonen, beispielsweise die Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), haben Kügelchen im Raum Elbmarsch im Boden sowie auf Reetdächern gefunden. Die Funde traten in unterschiedlichen Konzentrationen rund um das Kernkraftwerk Krümmel auf. Als Quelle dieser Kontaminierung wird der mutmaßliche Brandfall von 1986 in Betracht gezogen.[10]
Die Gegenseite, bspw. die Landesregierung Schleswig-Holstein (2004), beruft sich auf wissenschaftliche Gutachten, die diese Funde widerlegen sollen.
Labortechnische Untersuchungen an der Sacharow-Universität von Minsk durchgeführt durch Wladislaw Mironow ergaben, dass es sich um Pac-Kügelchen handelte, die definitiv nicht dem Tschernobyl-Unglück oder dem Fallout von Atomwaffentests zuzuordnen seien.
Auch Dirk Schalch (Leiter der Zentralen Strahlenschutzgruppe Universität Gießen) ist Mironows Meinung: „Hier ist es so, dass die Ergebnisse von Professor Mironow sehr eindeutig zeigen, sie kommen nicht aus dem Fallout, sie kommen nicht von Tschernobyl.“[11] Dr. Schalch stellt auch fest, dass die Kügelchen nur in der unmittelbaren Umgebung des Kernkraftwerkes vorkommen. Sie kommen im restlichen Gebiet Deutschlands nicht vor.
Die Ergebnisse von Wladislaw Mironow wurden am 31. März 2006 von der „Bürgerinitiative Leukämie“ auf einer Pressekonferenz öffentlich vorgestellt. Gitta Trauernicht, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Ergebnisse Ministerin für Soziales, Gesundheit, Familie und Senioren war zu keiner Stellungnahme bereit.[12]
Diese Untersuchung zu den Pac-Kügelchen könnte dazu führen, dass der Fall von offiziellen Stellen erneut untersucht werden muss. Auftraggeber der Untersuchung waren die „Bürgerinitiative Leukämie“ und die IPPNW. Den Untersuchungen in Minsk stehen die Ergebnisse der Untersuchungen am Mineralogischen Institut in Frankfurt gegenüber. Diese Untersuchungen haben keinerlei Hinweise auf einen nuklearen Störfall ergeben. Die Ergebnisse wurden veröffentlicht.[13]
Bislang fehlen Belege, dass die Kügelchen aus einer der beiden Anlagen stammen, beziehungsweise dass es sich überhaupt um Kernbrennstoffpartikel, d. h. Pac-Kügelchen, handelt.[14] Die Strahlenschutzkommission schrieb ein Jahr vor der Veröffentlichung des Expertengremiums in ihrem Bericht[15] zu den Messungen:
„Die verschiedenen Untersuchungsergebnisse ergeben nach der Bewertung der SSK keine Hinweise auf das Vorhandensein von Kernbrennstoffen in diesen Kügelchen. Die Behauptungen der ARGE PhAM können angesichts der vorliegenden Ergebnisse nicht bestätigt werden. Die Kügelchen können natürlichen (z. B. Harz oder mineralisierte Tier- oder Pflanzenteile) oder nicht natürlichen Ursprungs (z. B. Flugasche) sein. Die SSK sieht keine Hinweise auf ein lokales oder gar großräumiges Vorkommen kernbrennstoffhaltiger Kügelchen in den untersuchten Gebieten.“
Der atompolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen des niedersächsischen Landtags Andreas Meihsies und der Physiker Wolfgang Neumann nahmen im September 2007 Einblick in das Archiv des GKSS-Forschungszentrums. Dabei konnten sie keinen Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen einem angeblichen Störfall bei der GKSS und den Leukämiefällen feststellen.[16]
Neben anderen Untersuchungen, wie etwa der Einordnung von Form, Größe und Oberflächenbeschaffenheit der Partikel, ist die Analyse der radioaktiven Elemente und Zerfallsprodukte von großer Bedeutung. Hierbei werden meist dieselben Ergebnisse von den verschiedenen Seiten gegensätzlich interpretiert: Die künstliche Radioaktivität des Materials sei nicht auf den Fallout der bekannten oberirdischen Kernwaffentests zurückzuführen, so die Experten der einen Seite. Die Transurane deuteten sehr wohl auf den Bombenfallout hin, es lägen keine Hinweise auf Kernbrennstoffe vor, so die andere Seite. Einig ist man sich darüber, dass Transurane im Gebiet um das Kernkraftwerk existierten.[17]
Mikrokügelchen wurden um den THTR-300 in Hamm gefunden und spielten eine Rolle in der Diskussion um ein auffällig erhöhtes Vorkommen von Schilddrüsenkrebs. Nach einem 2013 von Umweltminister Johannes Remmel unterzeichneten Bericht der Landesregierung handelte es sich dabei aber um Kügelchen aus Eisenoxid, wie sie beispielsweise bei Schweißarbeiten anfallen.[18]
Mutmaßliche Sonderexperimente auf dem GKSS-Gelände in Krümmel
Die sechs zurückgetretenen Mitglieder um den ehemaligen Vorsitzenden Otmar Wassermann identifizierten 2004 als Ursache der seit 1989 aufgetretenen Häufung „geheim gehaltene kerntechnische Sonderexperimente auf dem GKSS-Gelände“.[19] Der Münchner Strahlenmediziner Edmund Lengfelder, einer der zurückgetretenen Wissenschaftler, beharrte 2004 gegenüber der Süddeutschen Zeitung: „Die Kommission habe in der Umgebung von GKSS und Krümmel millimetergroße Keramikkügelchen gefunden, die Kernbrennstoffe enthielten. Sie könnten dazu verwendet worden sein, miniaturisierte Atombomben herzustellen. Die Kügelchen seien offenbar bei einem Brand 1986 freigesetzt und in der Landschaft verstreut worden.“[19] Lengfelder unterstellt geheime Experimente, bei denen im Brennpunkt eines Ellipsoids aus Keramik eine millimetergroße Perle aus Plutonium 239 mittels eines Laserimpulses so hoch verdichtet wird, dass es zu einer Kettenreaktion und einer Freisetzung der Energie entsprechend einer Explosion von etwa 500 bis 1000 Kilogramm TNT-Sprengstoff komme. Hierauf solle ein vorgefundenes Gemisch aus Spalt- und Aktivierungsprodukten, Transuranen (Plutonium und Americium) sowie weiteren Kernbrennstoffen (angereichertes Uran und Thoriumderivate) hinweisen.[20] Ähnliche Kügelchen aus Thorium seien in Hanau für die Brennelemente des geplanten Hochtemperaturreaktors hergestellt worden.[20]
Erneute Funde von Transuranen in der Elbe 2010
Mitte 2010 wurden von unabhängiger Seite Untersuchungen der Unterelbe durchgeführt. Dabei wurden deutlich erhöhte, wiewohl radiologisch noch unbedeutende Mengen von Transuranen, darunter Plutonium, im Schlamm der Elbe festgestellt. Transurane kommen in der Natur nur in Spuren vor, müssen bei höheren Konzentrationen also künstlich entstanden sein.[21]
Literatur
- Inge Schmitz-Feuerhake, Sebastian Pflugbeil: Das Elbmarsch-Leukämiecluster: Kontaminationen bei Geesthacht durch Kernbrennstoffe und Abschätzung der Strahlendosis für die Bevölkerung. Ges. f. Strahlenschutz, Köln/ Berlin, 31. März 2007. PDF (6 MB)
- I. Schmitz-Feuerhake, H. Dieckmann, W. Hoffmann, E. Lengfelder, S. Pflugbeil, A. Stevenson: The Elbmarsch leukemia cluster: Are there conceptual limitations in controlling immission from nuclear establishments in Germany? In: Archives of Environmental Contamination and Toxicology. 49(2005)4, S. 589–600.
- Rolf-Dietmar Neth: Kinderleukämie in der Elbmarsch: Plädoyer für eine sachliche Argumentation. In: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 106, Heft 30, 24. Juli 2009.
- Barbara Dickmann, Sibylle Bassler: Und niemand weiß, warum … Das rätselhafte Kindersterben. mvg Verlag, 2008, ISBN 978-3-636-06403-5.
- Und keiner weiß warum – Leukämietod an der Elbe. ML Mona Lisa Dokumentation des ZDF, 2. April 2006
Weblinks
- Umfangreiche Linksammlung zu den Elbmarsch-Leukämiefällen
- Programmhinweis/Zusammenfassung zur ZDF-Dokumentation, YouTube-Archiv der ZDF-Dokumentation zu den Leukämie-Fällen
- Bewertung von Messungen der ARGE PhAM zur Radioaktivität in der Elbmarsch durch die Strahlenschutzkommission (14. Februar 2003; PDF)
- Reaktoremissionen auf dem Dachboden der Professorin? In: Stuttgarter Zeitung, 12. Dezember 1998
Einzelnachweise
- F. Alexander: Clustering of childhood acute leukaemia: The EUROCLUS Project. In: Radiation and environmental biophysics. Band 37, Nummer 2, Juli 1998, S. 71–74. PMID 9728737 (Review).
- W. Hoffmann, C. Terschueren, D. B. Richardson: Childhood leukemia in the vicinity of the Geesthacht nuclear establishments near Hamburg, Germany. In: Environmental health perspectives. Band 115, Nummer 6, Juni 2007, S. 947–952, doi:10.1289/ehp.9861, PMID 17589605, PMC 1892150 (freier Volltext).
- Studie: Mehr Leukämiefälle nahe Atommeilern. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 7. Dezember 2007.
- Elbmarsch: Erneut erkrankt ein Kind an Leukämie. In: Hamburger Abendblatt. 20. April 2009.
- Erkenntnisse der schleswig-holsteinischen Fachkommission Leukämie. Abschlussbericht. (Memento vom 26. Februar 2007 im Internet Archive) 15. September 2004 (PDF; 2,0 MB)
- Leukämie-Cluster. (Memento vom 6. September 2012 im Webarchiv archive.today) (pro-elbmarsch.de, 18. Januar 2008)
- Die Leukämiekinder von Krümmel. In: DRadio. 14. August 2005.
- Wolf Wetzel: Ein fast perfektes Verbrechen. In: Der Freitag. 11. August 2006.
- Sebastian Pflugbeil in einem Interview in der taz vom 28. November 2011 Nach seinen Angaben traten sechs der acht Mitglieder 2004 aus der Untersuchungskommission aus und verfassten einen eigenen Abschlussbericht, in dem sie geheimgehaltene kerntechnische Experimente auf dem GKSS-Gelände als wahrscheinliche Ursache für den Leukämiecluster angaben.
- Barbara Dickmann: Und niemand weiß, warum... Das rätselhafte Kindersterben. 2008.
- Barbara Dickmann: Und niemand weiß, warum... Das rätselhafte Kindersterben. 2008, S. 94.
- Barbara Dickmann: Und niemand weiß, warum... Das rätselhafte Kindersterben. 2008, S. 96.
- A. Gerdes: Elemental and U-Th-Pu isotope composition of soil and spherical particles from the Elbmarsch, Northern Germany. DMG, Hannover, 24.–26. September 2006. Beih. z. Eur. J. Mineralogy, 18: in press.
- Labor bestreitet verbotene Atom-Experimente, Süddeutsche Zeitung vom 2. November 2004
- Bewertung von Messungen der ARGE PhAM zur Radioaktivität in der Elbmarsch, Strahlenschutzkommission, 14. Februar 2003
- GRÜNE nach Akteneinsicht bei der GKSS. Pressemeldung Nr. 235. In: fraktion.gruene-niedersachsen.de. 18. September 2007, abgerufen am 24. April 2020.
- Anhörungsprotokolle: Protokolle der Anhörungen des Sozialausschusses des Niedersächsischen Landtages in Hannover vom 11. und 12. April 2007 zu den Ursachen der Leukämiehäufung bei Geesthacht
- asc: THTR Uentrop: Kügelchen sind nicht gefährlich – Hamm. In: wa.de. 12. Januar 2013, abgerufen am 3. Juni 2016.
- Christopher Schrader, Martin Urban: Geesthacht. Labor bestreitet verbotene Atom-Experimente. In: Süddeutsche Zeitung. 3. November 2004 (online)
- Martin Urban: Atomperlen aus Geesthacht. Die „Atombombe in der Aktentasche“: Forscher glauben, Ursache der Kinder-Tumore in der Gemeinde Geesthacht entdeckt zu haben. In: Süddeutsche Zeitung. 2. November 2004.
- Wie kommt das Plutonium in die Elbe? In: Norddeutsche Rundschau. 13. August 2010, abgerufen 17. Mai 2015.