Lügenmuseum
Das Lügenmuseum, ehemals im denkmalgeschützten Gutshaus im Kyritzer Ortsteil Gantikow im Landkreis Ostprignitz-Ruppin (52° 58′ 28,1″ N, 12° 21′ 2,1″ O ), wurde von dem Objektkünstler Reinhard Zabka alias Richard von Gigantikow aus der Künstlerszene Berlin-Prenzlauer Berg in den 1980er Jahren zunächst als öffentliches Sommeratelier in der Prignitz gestaltet und geführt. Nach dem Umzug nach Kyritz wurde die Sammlung mit weiteren Werken des Inhabers erheblich erweitert und 1995 als Mitglied in den Museumsverband Brandenburg aufgenommen. 2010 musste es aufgrund Mietstreitigkeiten ausziehen, die Exponate wurden eingelagert.[1]
Am derzeitigen Einlagerungsort, dem im sächsischen Radebeul-Serkowitz angemieteten Gasthof Serkowitz (Kötzschenbrodaer Straße 39), wurde das Lügenmuseum am 9. September 2012 als vorläufige Dauerausstellung eröffnet,[2] bis über die weitere Nutzung des ehemaligen Gasthofs entschieden wird.[3]
Geschichte
Der gebürtige Erfurter Zabka entwickelte seine zeitgenössische Kunst aus Protest gegen das bürgerliche Leben der DDR und wurde von den Behörden (MfS Hauptabteilung XX – Staatsapparat, Kultur, Kirche, Untergrund) entsprechend unterdrückt. Nach wiederholten Ablehnungen für Ausstellungsgenehmigungen durch die Kunstaufsicht begann Zabka seine Werke zu zersägen, expressiv neu zu arrangieren und zu collagieren, um ihnen so die offensichtliche Bedeutungsebene zu nehmen.
In der Folge entwickelte er seine Werkfertigung weiter, aus einer Kombination von Installationskunst, Collage und Licht- und Klanginszenierungen. Er öffnete sein Sommeratelier in Babe (Roddahn) für das Publikum und lebte dort in den Sommermonaten halb öffentlich in einer ständigen Ausstellung, die auch seinen persönlichen Lebensraum umfasste. Ohne ausdrückliche Intention und Ausstellungskonzept machte er sich so mit seinen scheinbar unpolitischen Werken im dadaistischen Stil für die Staatsorgane unangreifbar.
Die Historie für den Besucher beschreibt eine fiktive Ahnengalerie aus dem Jahr 1884 mit einer Emma von Hohenbüssow, der vorgeblichen Urenkelin von Baron Münchhausen, welche im Alter von 11 Jahren keine Puppenstube, sondern ein Museum haben wollte. Die Eltern hätten ihr den Wunsch zunächst mit einem kleinen Pavillon erfüllt, der jedoch bald nicht mehr ausreichte. Im Zweiten Weltkrieg sei die Sammlung geplündert und der Rest 1980 auf eine Müllkippe gebracht worden, wo sie von dem Künstler aufgelesen und in sein Sommeratelier, eine verfallene Bauernkate in der Prignitz verbracht wurde. Er fand darunter ein kleines Büchlein mit der Geschichte des Lügenmuseums und rekonstruierte die Sammlung.
An dieser Stelle leitete der Künstler auf seine reale Geschichte über.
1990, nach der Wende, erklärte Reinhard Zabka sein Atelier zum Museum. Das Lügenmuseum war ein großer Erfolg und wurde zu Festivals, internationalen Kunstsymposien und Stadtfesten eingeladen. Seit 1992 erhält es Stipendien für internationale Kunstsymposien und bezeichnete sich zeitweise als Deutsches Historisches Lügenmuseum. Im Frühjahr 1995 nahm der Museumsverband des Landes Brandenburg das Lügenmuseum als Mitglied auf und die Stadt Kyritz übereignete das verfallene Gutshaus Gantikow an den Trägerverein von Reinhard Zabka zur Nutzung als Museum. Im Jahr 2000 erkannte der brandenburgische Landesverband LAG-Soziokultur das Museum aufgrund seiner internationalen Beziehungen und regelmäßigen Kunst-Workshops als soziokulturelles Zentrum an.
Das Lügenmuseum in Gantikow bot eine Sammlung von Dingen („Reliquien einer traumatisch eingestürzten Inneneinrichtung namens DDR“), die in eigenwilligen Installationen ihrer ursprünglichen Bedeutung enthoben wurden. Das Atelier wurde als privater Ausstellungs- und Wohnraum genutzt. Der Künstler lebte und arbeitete auch in unmittelbarer Nähe bzw. in der Ausstellung selbst und bewirtete seine persönlichen Gäste auch während der Öffnungszeiten z. T. in den Museumsräumen. Museumsbesucher wurden häufig zum privaten Tee vom Künstler eingeladen.
Später wurde das Deutsche Historische Lügenmuseum von Reinhard Zabka als Einzelunternehmen, jetzt als Mieter im ehemals eigenen Haus betrieben. Es hatte sich innerhalb der vergangenen Jahre zu einem wichtigen Kultur- und Freizeitangebot für die Region entwickelt. Das Lügenmuseum fand weit über den Landkreis Anerkennung und Beachtung, im Ort selbst wurde die Ablehnung dagegen immer größer.
Nach dem Ende des Mietvertrages und damit notwendigem Auszug des Museums aus den Gantikower Räumlichkeiten wurden die Exponate eingelagert, der Künstler agiert inzwischen vom sächsischen Radebeul aus, wo er seit vielen Jahren Mitteilnehmer am jährlich stattfindenden Internationalen Wandertheaterfestivals während des Herbst- und Weinfestes ist. Am 9. September 2012 wurde das Lügenmuseum als vorläufige Installation im Gasthof Serkowitz im sächsischen Radebeul wiedereröffnet. 2016 wurde Zabka mit dem Radebeuler Kunstpreis ausgezeichnet.
Im Juli 2017 schrieb die Sächsische Landestelle für Museumswesen in einem Brief an Zabka, das Lügenmuseum sei kein Museum im Sinn der Kriterien des Internationalen Museumskonzils ICOM, sondern ein „performatives Gesamtkunstwerk“. Es könne deshalb nicht von der Umsatzsteuer befreit werden. Zabka geht dagegen juristisch vor und erwägt eine Umbenennung etwa in „Fake News Forum“ oder „Kulturforum alternativer Fakten“.[4][5]
Im Jahr 2021 entstand für Reinhard und seine Frau Dorota Zabka die Möglichkeit, das Anwesen zu erwerben. Ein Konzept dafür ist gemeinsam mit dem Verein Kunst der Lüge in Arbeit, um die Zukunft des Gesamtkunstwerks Lügenmuseum für die Öffentlichkeit dauerhaft zu sichern.[6]
Sammlung in Gantikow
Die Werksammlung des Lügenmuseum wurde vom Inhaber Reinhard Zabka kuratiert. Die Sammlung zeitgenössischer bildender Kunst zeigte auf ca. 400 m² Ausstellungsfläche in 10 Räumen und einem Skulpturengarten auf dem Grundstück des Gutes überwiegend expressionistische Installationen. Die Themen variierten zwischen dadaistischen Arrangements skurriler Küchen- und Handwerksgegenstände des beginnenden 20. Jh., Zitaten aus thailändischer Alltagskultur (vor allem aus Bali), politischer Reflexion der DDR-Vergangenheit und religionskritischen Persiflagen der christlichen Heiligenverehrung. Dazwischen fanden sich einzelne Werke moderner Videokunst, Anleitungen zum wahren Lügen oder auch das Ohr des Vincent van Gogh in einer Vitrine. Auf Theodor Fontane als vorgeblich einzigen bedeutenden Künstler, der je die Prignitz durchwanderte, und Willy Brandt, als Sinnstifter des Grundlagenvertrages, ging das Gantikower Museum mit eigenen Themenräumen ein. Zahlreiche Installationszitate erschlossen sich dem Besucher entweder nur mit ostdeutscher Sozialisation oder mit politischem Interesse. Im Skulpturengarten waren vor allem Holz- und Beton-Plastiken befreundeter Künstler installiert, so auch von Birgit Schöne, einer Berliner Installationskünstlerin.
Die Fassade des Gantikower Gutshauses trug eine denkmalgeschützte Freskogalerie, die sich thematisch jeweils auf einem Flügel des Hauses mit der Lüge und auf dem anderen mit der Wahrheit befasste. Die Arbeiten wurden von Katharina Zipser über mehrere Jahre geleitet, einer in München lebenden Freskomeisterin rumänischer Herkunft mit internationaler Reputation.
Rezeption in den Medien
Das Lügenmuseum in Gantikow wurde regelmäßig in überregionalen Medien rezipiert. Die Berichterstattung thematisierte zumeist die zunächst scheinbar zusammenhanglose Ausstellung, die dem Besucher stets mehrere Bedeutungsebenen gleichzeitig anbot. Da die vordergründige Erwartung im Lügenmuseum fertig aufbereitete Lügengeschichten zu konsumieren heftig enttäuscht wurde, sprachen manche Journalisten auch von erfrischender Klarheit, die sich der Besucher jedoch stets selbst erschließen musste.
„Dass im Lügenmuseum alles Lüge ist, entpuppt sich nach und nach als größte Lüge. Konkreter kommt man versteckten Wahrheiten selten auf die Spur.“
„Wahrheit oder Lüge? Seit Platon beschäftigt diese Frage die Philosophie. Und längst ist klar, dass es sich um ein sinnloses Unterfangen handelt, aus dem Lügenmeer der alltäglichen Kommunikation die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden.“
„Das Lügenmuseum – der phantasievolle, spritzige, witzige und ironiegetränkte Fremdkörper in einem langweiligen, von der Kultur des Schützenvereins und Freiwilligen Feuerwehr beherrschten Dorfes im drögen Brandenburg.“
Zitate (aus der Zeit in Gantikow)
„Die Lüge im Dienste der Wahrheit wäscht den Staub des Alltags von den Sternen.“
„Was wäre das Land Brandenburg ohne sein Lügenmuseum. Meister der Drehungen und Volten zu Gantikow ist ‚Richard von Gigantikow‘, der mit traumwandlerischer Sicherheit ortet, wo sich das Richtige im Falschen versteckt.“
„Hinter Kyritz, an der B 5 liegt das Dorf Gantikow, soviel ist nicht gelogen. Sobald man aber das Schloss betreten hat, wird die Unterscheidung zwischen Schein und Sein durchaus schwierig, denn die ausgestellten Objekte und Installationen sind nicht, was sie sind. Es sind Reliquien einer traumatisch eingestürzten Inneneinrichtung namens DDR. Es sind Kompositionen aus heiligen Resten, aus Alltagskram, der hier in einer Weise zweckentfremdet oder aus seiner dienenden Rolle erlöst und zum Selbstzweck wird, dass der kunstvoll neue Zusammenhang die Dinge als ihre eigene Karikatur oder Verherrlichung erscheinen lässt. Hier ward das ‚Wahnsinns‘ -Wort der Wende wahr: Altäre mit Wimpeln und Orden und Walter-Ulbricht-Fotos, das Mausoleum mit einer darin aufgebahrten verdienten Maus des Volkes. Das meiste aber ist gar nicht irgendwie gemeint, will an gar nichts mehr erinnern, hat die Erinnerung an sich selbst fast aufgegeben und kreist als nutzloses Spielwerk lächelnd um sich selbst: ‚Maschinen, die ins Leere laufen‘. Man durchschreitet diese durchinstallierten Räume und spürt, wie die irrwitzigen Zusammenstöße im eigenen Kopf Funken schlagen. In diesem Irrgarten wächst die Lust mitzuspielen, in weltvergessener Bastelei die Überbleibsel- im nicht ganz Hegelschen Sinne – aufzuheben, um ihre verbrauchte Festlegung zu verhüllen und herauszustellen, was sie nie waren und nunmehr auf immer sein dürfen: ‚bewusstseinserweiternde Haushaltsgeräte‘. Kurzschlüsse im Kopf können heilsam sein. Der Gründer des Hauses nennt sich Richard von Gigantikow, sein Werk ist die ‚Psychedelia Maschinka‘ und der Ort das ‚Heiligtum des ostdeutschen Widerstandes‘. Man lächelt und staunt.“
Literatur
- Theresa Dietrich: Ein freiwilliges soziales Jahr im Lügenmuseum. In: Vorschau & Rückblick; Monatsheft für Radebeul und Umgebung. Radebeuler Monatshefte e. V., April 2021, S. 9–10, abgerufen am 6. April 2021.
- Evelyn Finger: Der letzte Dadaist des wilden Ostens. In: Die Zeit 39, 18. September 2008, S. 76.
- Thomas Gerlach: Das Lügenmuseum – ein neuer Pilgerort im historischen Gasthof Serkowitz. In: Radebeuler Monatshefte e.V. (Hrsg.): Vorschau & Rückblick; Monatsheft für Radebeul und Umgebung. September 2013, S. 12–15.
- Siegmund Radtke: Die Museumskatze als Besucherkompass; Eine Zwischenbilant des Lügenmuseums in Radebeul-Serkowitz. In: Radebeuler Monatshefte e.V. (Hrsg.): Vorschau & Rückblick; Monatsheft für Radebeul und Umgebung. Januar 2014, S. 4–7.
- Michaela Vieser, Reto Wettach: Übersehene Sehenswürdigkeiten. Deutsche Orte. ic!-berlin, Berlin 2004, ISBN 3-9809758-0-0.
- Reinhard Zabka: Kunst der Lüge e.V. In: Radebeuler Monatshefte e.V. (Hrsg.): Vorschau & Rückblick; Monatsheft für Radebeul und Umgebung. August 2021, S. 6–8.
Weblinks
Einzelnachweise
- Martin Stefke: Lügenmusem Gantikow. Zabkas Lügenmuseum ausgeräumt. (Nicht mehr online verfügbar.) 22. September 2010, archiviert vom Original am 18. August 2017; abgerufen am 18. August 2017: „In den vergangenen Tagen wurden sämtliche Exponate verpackt und in ein provisorisches Quartier im Ort gebracht. Künstler und Museumsgründer Reinhard Zabka kam damit einer neuerlich drohenden Zwangsräumung zuvor.“
- Aus Sperrmüll wird Kunst. In: sz-online.de. 7. September 2012, abgerufen am 8. September 2012.
- Der Gasthof Serkowitz wird ausgeschrieben. In: sz-online.de. 19. Juli 2012, abgerufen am 8. September 2012.
- Hendrik Lasch: Ein Museum, das kein Museum sein darf. Das „Lügenmuseum“ in Radebeul hat Ärger mit einer sächsischen Behörde, die das Ganze für gelogen hält. In: Neues Deutschland vom 24./25. 2018, S. 16.
- Bernhard Honnigfort: April, April! Am Sonntag wird wieder gescherzt und geschummelt, dass sich die Balken biegen. Bernhard Honnigfort hat sich im Lügenmuseum in Sachsen umgesehen. In: Frankfurter Rundschau vom 31. März/1. April 2018, S. 48.
- Thomas Gerlach: Von der Idee zur Tat; Wie weiter mit dem Lügenmuseum? In: Vorschau & Rückblick; Monatsheft für Radebeul und Umgebung. Radebeuler Monatshefte e. V., Oktober 2021, abgerufen am 9. November 2021.
- Sendung im ZDF (Memento vom 29. September 2007 im Internet Archive)
- Bericht im Rundfunk Deutsche Welle
- Artikel bei Spiegel-Online mit Video