Hypophosphatasie
Hypophosphatasie (kurz HPP) ist eine seltene, vererbliche, derzeit nicht heilbare Störung im Knochenstoffwechsel, die sich vor allem im Skelettaufbau manifestiert. Sie wird auch als Rathbun-Syndrom oder Phosphatasemangelrachitis bezeichnet und häufig mit anderen Krankheiten wie Rachitis oder Osteoporose oder der „Glasknochenkrankheit“ (Osteogenesis imperfecta) verwechselt. Durch entzündliche Prozesse in Knochen, Gelenken und der Muskulatur kommt es jedoch auch zur Verwechselung mit rheumatischen Erkrankungen. Die Krankheit wird autosomal-rezessiv vererbt.
Klassifikation nach ICD-10 | |
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E83.38 | Störungen des Phosphorstoffwechsels und der Phosphatase Hypophosphatasie |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Beschreibung
Mehrere genetische Besonderheiten auf Chromosom 1 Genlocus p34-36 sind die Ursache dafür, dass das Enzym alkalische Phosphatase – genauer gesagt, die gewebe-unspezifische alkalische Phosphatase (engl. TNSALP – für tissue non-specific alkaline phosphatase) – in zu geringer Konzentration im Organismus hergestellt wird und/oder zu wenig Aktivität zeigt. Die alkalische Phosphatase (ALP) besteht aus mehreren Isoenzymen (gemessen wird aber meistens nur die gesamte ALP im Blut), die in unterschiedlichen Organen im Körper und in den Knochen produziert werden. Es gibt spezifische ALPs (intestinal type, placental type, pseudo-placental type) und eine gewebeunspezifische ALP (bone/liver/kidney type).
Die alkalische Phosphatase spielt eine wesentliche Rolle beim Aufbau der Knochen. Die Osteoblasten, das sind die Zellen, die den Knochen aufbauen, benötigen für den Knochenaufbau große Mengen der alkalischen Phosphatase, die sie teilweise selbst herstellen und teilweise aus dem Blutkreislauf entnehmen. Die ALP spaltet unter anderem anorganisches Pyrophosphat auf und gewinnt so Phosphat für den Knochenaufbau. Gemeinsam mit Calcium wird daraus in den Osteoblasten das Knochenmineral Hydroxylapatit generiert. Dadurch, dass bei der Hypophosphatasie die alkalische Phosphatase defekt ist, reichert sich anorganisches Pyrophosphat im Organismus an und hemmt aktiv die weitere Knochenmineralisierung. Zugleich verbinden sich Calcium und Phosphat außerhalb der Osteoblasten miteinander zu Kristallen, die sich ebenfalls im Organismus verbreiten und ablagern können. Diese Mikrokristalle führen mittels einer Autoimmunreaktion zu Entzündungsreaktionen in Knochen, Gelenken sowie der Muskulatur. Vor allem diese nicht-bakteriellen Entzündungen an Knochen und Gelenken führen oft zu einer Verwechselung der Symptome der Hypophosphatasie mit denen anderer Erkrankungen wie Rheuma oder Arthrose/Arthritis (und teilweise sogar mit Knochenkrebs).
Neben dem anorganischen Pyrophosphat werden bei der Hypophosphatasie auch Phosphoethanolamin und Pyridoxal-5-Phosphat zu wenig umgesetzt und reichern sich in Blut und/oder Urin an, wo sie zur sicheren Diagnose der Hypophosphatasie dienen.
Die Forschung unterscheidet insgesamt fünf – nach anderen Quellen auch sechs – Verlaufsformen der Hypophosphatasie,[1] die dadurch eine sehr große Variabilität hinsichtlich ihres klinischen Erscheinungsbildes (Phänotyp) aufweist.
Die Folgen des Mangels an alkalischer Phosphatase sind für den gesamten Körper gravierend: Im Säuglingsalter zeigen sich Deformierungen des Schädels, durch vorzeitig verknöcherte Schädelnähte. Durch zu weiche Knochen im Brustkorb kommt es zu Problemen mit der Atmung. Fast alle Knochen können brechen oder sich verformen. Diese Tendenz steigt mit der mechanischen Belastung, etwa beim Laufen. Da auch die Wachstumsfugen der Knochen in Mitleidenschaft gezogen werden, ist Minderwuchs ebenfalls ein häufiges Symptom der Hypophosphatasie. In einigen Fällen kommt auch ein regelrechter Kleinwuchs vor. Die Symptome sind allerdings nicht nur auf den Skelettaufbau beschränkt, sondern betreffen auch weitere Körperfunktionen, wie die Verdauung und die Nervenfunktion. Ebenfalls typisch ist ein verfrühter Verlust sowohl der Milchzähne als auch der zweiten Dentition. In einigen Fällen kann auch eine Verkalkung der Nieren, eine so genannte Nephrokalzinose beobachtet werden.
Obwohl sie vererbt wird, kann die Hypophosphatasie in jedem Lebensalter erstmals auftreten, beziehungsweise Symptome verursachen. Während im Kindesalter die Verwechslung mit verschiedenen Skelettdysplasien nahe liegt, lautet bei den erwachsenen Patienten die erste Fehldiagnose in der Regel Osteoporose.
Geschichte
Im Jahre 1956 wurde von Heinz Nierhoff und Otto Hübner eine Beschreibung der infantilen Form der Hypophosphatasie veröffentlicht.[2]
Darauf bezieht sich die veraltete Bezeichnung Nierhoff-Hübner-Syndrom.[3]
Literatur
- H. Orimo: The mechanism of mineralization and the role of alkaline phosphatase in health and disease. In: J Nippon Med Sch. 77, 2010, S. 4–12. PMID 20154452
- A. Reibel u. a.: Orodental phenotype and genotype findings in all subtypes of hypophosphatasia. In: Orphanet Journal of Rare Diseases. 4, 2009, S. 6 PMID 19232125 (Open Access)
- B. Bağiş u. a.: Prosthetic rehabilitation of hypophosphatasia: a case report. In: Cases Journal. 2, 2009, S. 7626. doi:10.1186/1757-1626-2-7626 (Open Access)
- C. Beck u. a.: How can calcium pyrophosphate crystals induce inflammation in hypophosphatasia or chronic inflammatory joint disease? In: Rheumatol Int. 29, 2009, S. 229–238. PMID 18821074
- C. Beck u. a.: Hypophosphatasia. In: Klin Padiatr. 221, 2009, S. 219–226. PMID 19629901 (Review)
- C. Beck u. a.: Hypophosphatasia – recent advances in diagnosis and treatment. In: The Open Bone Journal. 1, 2009, S. 8–15. doi:10.2174/1876525400901010008 (Open Access)
- C. Beck u. a.: Hypophosphatasie – aktuelle Diagnostik und Therapie. (PDF; 700 kB) In: J Miner Stoffwechs. 16, 2009, S. 122–127.
- H. Collmann u. a.: Neurosurgical aspects of childhood hypophosphatasia. In: Child Nerv Syst. 25, 2009, S. 217–223. PMID 18769927
- E. Mornet: Hypophosphatasia. In: Orphanet Journal of Rare Diseases. Band 2, 2007, S. 40, doi:10.1186/1750-1172-2-40, PMID 17916236, PMC 2164941 (freier Volltext) (Review).
- H. J. Girschick u. a.: Chronic multifocal non-bacterial osteomyelitis in hypophosphatasia mimicking malignancy. In: BMC Pediatr. 7, 2007, S. 3. PMID 17241478 (Open Access)
- H. J. Girschick u. a.: Effective NSAID treatment indicates that hyperprostaglandinism is affecting the clinical severity of childhood hypophosphatasia. In: Orphanet Journal of Rare Diseases. 1, 2006, S. 24. PMID 16803637 (Open Access)
- H. Orimo u. a.: Mutational analysis and functional correlation with phenotype in german patients with childhood type hypophosphatasia. In: J Bone Miner Res 16, 2001, S. 2313–2319. PMID 11760847
- H. J. Girschick u. a.: Bone metabolism and bone mineral density in childhood hypophosphatasia. In: Bone. 25, 1999, S. 361–367. PMID 10495141
- H. J. Girschick u. a.: Treatment of childhood hypophosphatasia with nonsteroidal antiinflammatory drugs. In: Bone. 25, 1999, S. 603–607. PMID 10574582
Einzelnachweise
- P. Matzen: www.hypophosphatasie.net.
- H. Nierhoff, O. Hübner: Familiäre systemisierte enchondrale Dysostose bei 3 Geschwistern. In: Zeitschrift für Kinderheilkunde. Bd. 78, Nr. 5, 1956, S. 497–521, PMID 13423511.
- Bernfried Leiber (Begründer): Die klinischen Syndrome. Syndrome, Sequenzen und Symptomenkomplexe. Hrsg.: G. Burg, J. Kunze, D. Pongratz, P. G. Scheurlen, A. Schinzel, J. Spranger. 7., völlig neu bearb. Auflage. Band 2: Symptome. Urban & Schwarzenberg, München u. a. 1990, ISBN 3-541-01727-9.