Harper Lee
Nelle Harper Lee (* 28. April 1926 in Monroeville, Alabama; † 19. Februar 2016 ebenda[1]) war eine US-amerikanische Schriftstellerin und Pulitzer-Preisträgerin. Ihr bis zum Juli 2015 einziges veröffentlichtes Buch Wer die Nachtigall stört (Originaltitel: To Kill a Mockingbird) verkaufte sich über 40 Millionen Mal.[2][3]
Leben und Werk
Harper Lee war das jüngste von vier Kindern von Amasa Coleman Lee, einem Rechtsanwalt und Senator von Alabama der Demokratischen Partei, und Frances Cunningham Lee, geborene Finch. Eine Abstammung ihres Vaters von dem Südstaaten-General Robert Edward Lee wird von der Literatur als unwahrscheinlich angesehen.[4] Ihr Vorname Nelle ist der rückwärts geschriebene Vorname ihrer Großmutter Ellen.
Lee erwarb den Highschool-Abschluss an der Monroe County High School in ihrer Heimatstadt.[4] Bereits als Kind war sie dem Schreiben zugeneigt, bedingt auch durch den Umstand, dass ihr Vater neben seiner anwaltlichen und politischen Tätigkeit Verleger und Herausgeber der Lokalzeitung Monroe Journal war. Schon in ihrer frühen Kindheit lernte sie den drei Jahre älteren Truman Capote kennen, mit dem sie in den Jahren 1930 bis 1932 die Sommerferien in Monroeville verbrachte. Dennoch entschied sich Lee für ein Studium der Rechtswissenschaften. Das Vorbild des Vaters und der deutlich älteren Schwester Alice, die ab 1943 ebenfalls in der väterlichen Kanzlei praktizierte, hatten sie dazu bewogen.[4] Sie besuchte ab 1944 zunächst das Huntingdon College in Montgomery, an dem auch ihre Schwester studiert hatte, wechselte aber bereits 1945 an die University of Alabama in Tuscaloosa. Dort galt sie – wie zuvor in Montgomery – zunächst als isolierte Einzelgängerin, hatte jedoch erste Möglichkeiten, kurze Texte zu veröffentlichen, und wurde später Chefredakteurin der Studentenzeitung Rammer Jammer.[4] Sie wurde dort auch in die Sorority Chi Omega aufgenommen.[5]
1948 erhielt sie ein Stipendium für eine Studienfahrt zum Sommerkurs „Europäische Zivilisation im 20. Jahrhundert“ in Oxford. Die sechs Wochen in der englischen Universitätsstadt empfand sie rückblickend als „beglückenden Oxforder Sommer“ und „das erste offene Bekenntnis zur Literatur“.[6] Nach dieser Erfahrung wandte sie sich immer mehr von der Rechtswissenschaft ab, an der sie mehr das menschliche Drama als die Fachfragen des Rechts interessierten, und der Literatur zu. Ende 1948 entschied sie sich endgültig, das Studium aufzugeben, und setzte diesen Entschluss im Sommer 1949 in die Tat um.[4] Ein weiterer Grund für die endgültige Zuwendung zur Schriftstellerei soll dabei auch der Erfolg von Truman Capotes Debüt Andere Stimmen, andere Räume gewesen sein, der 1948 erschien.[7]
Nach Abbruch ihres Studiums zog Lee nach New York City und arbeitete zunächst in einer Buchhandlung und später einige Zeit am Schalter der Fluggesellschaften Eastern Air Lines und BOAC in New York. Über Capote lernte sie Michael und Joy Brown kennen, mit denen sie sich schnell anfreundete. Das Ehepaar Brown entschied sich, um Lees literarische Ambitionen zu fördern, ihr den Lebensunterhalt für das Jahr 1957 zu finanzieren.[4] Bereits im Mai 1957 reichte sie ein Manuskript mit Kurzgeschichten über das Leben in den Südstaaten der USA in den 1930er Jahren, die über die Person der namensgebenden Hauptfigur Atticus verbunden waren, bei dem Verleger J. B. Lippincott ein. Das Manuskript wurde jedoch von Lippincott, der Nelle Lee auch den Künstlernamen Harper vorschlug, und der Lektorin Tay Hohoff als noch nicht veröffentlichungswürdig angesehen. Ein Großteil der Hauptfiguren, der Rechtsanwalt Atticus Finch, der deutlich Lees Vater nachgebildet ist, die Ich-Erzählerin Scout, als Alter Ego der Autorin, deren Bruder Jem und Feriengast Dill, die Züge Truman Capotes tragend, kommen jedoch auch in diesem ersten Entwurf schon vor.[4] Über die nächsten drei Jahre überarbeitete sie unter dem Einfluss Hohoffs den Entwurf und verknüpfte die bisher lose miteinander zusammenhängenden Geschichten miteinander. Sie nahm dabei Hohoffs Rat an, ein starkes Hauptthema zu nehmen, das die einzelnen Erzählungen zusammenhalten konnte. Vorbild für dieses Hauptthema wurde ein Gerichtsfall aus dem Jahre 1933 über die Vergewaltigung einer Weißen durch einen Schwarzen.[4]
Unter dem neuen Titel To Kill a Mockingbird (Wer die Nachtigall stört) erschien Lees Roman 1960 und erhielt im darauf folgenden Jahr den Pulitzer-Preis. Bereits 1962 wurde er von Robert Mulligan mit Gregory Peck in der Rolle des Atticus Finch verfilmt, wofür Peck einen Oscar erhielt (insgesamt bekam der Film drei). Truman Capote hat gelegentlich angedeutet, dass Teile des Romans To Kill a Mockingbird aus seiner Feder stammen würden. Pearl Kazin Bell, ein Verlagseditor bei Harper’s, hält diese Behauptung für plausibel, weil Harper Lee danach keine Romane mehr veröffentlicht hat – was nach ihrer eigenen Aussage jedoch daran liegt, dass jedes Nachfolgewerk im Schatten des ersten Erfolges stehen würde. Lavizzari hält die Indizien für eine Mitarbeit Capotes an Lees Roman für eher schwach und meint, die Widerlegung dieses von Capote gern gestreuten Gerüchts sei ebenso unmöglich wie seine Bestätigung.[8]
Von Ende der 1950er bis in die 1960er Jahre assistierte Harper Lee ihrem Kindheitsfreund und Feriennachbarn Truman Capote bei den Recherchen für dessen Roman Kaltblütig (Originaltitel: In Cold Blood), der unter anderem auch ihr gewidmet ist. Im Anschluss an das Erscheinen des Romans scheint eine Entfremdung zwischen Lee und Capote eingetreten zu sein, womöglich weil Lee ihre Mitarbeit an dem Roman nicht hinreichend gewürdigt sah.[9]
1961 veröffentlichte Harper Lee zwei Artikel in Zeitschriften: Love – In Other Words in der Vogue und Christmas To Me in McCall’s. Ein weiterer Essay, When Children Discover America, wurde 1965 in McCall’s veröffentlicht. Sie wurde von Präsident Johnson in das National Council of Arts aufgenommen (Juni 1966). 1983 besuchte sie das Alabama History and Heritage Festival in Eufaula, Alabama. Dort präsentierte sie den Essay Romance and High Adventure.
2007 wurde sie in die American Academy of Arts and Letters gewählt.[10]
Im Februar 2015, 55 Jahre nach To Kill a Mockingbird, wurde über ihren Verlag Penguin Random House die Veröffentlichung eines zweiten Romans unter dem Titel Go Set a Watchman bekannt gegeben.[11] Allerdings handelt es sich nicht um einen neuen Text oder eine Fortsetzung, sondern um die 1957 ursprünglich beim Verlag J. B. Lippincott eingereichte frühe Fassung von Wer die Nachtigall stört, die jedoch 20 Jahre nach der finalen Fassung spielt,[12] als die Hauptfigur Jean Louise von New York nach Alabama zurückkehrt, um ihren Vater zu besuchen.[3] Das verschollen geglaubte Manuskript wurde angeblich Ende 2014 in Lees Archiv entdeckt. Die Umstände der Veröffentlichung von Go Set a Watchman galten allerdings als umstritten, denn vielfach wurde bezweifelt, inwieweit die nach einem Schlaganfall unter gesundheitlichen Einschränkungen leidende Harper Lee der Entscheidung zur Veröffentlichung zustimmen konnte.[13][14][15] Das Buch hatte eine Startauflage von zwei Millionen.[16] In Deutschland umfasst die erste Auflage 100.000 Exemplare.[17]
Harper Lee lebte sehr zurückgezogen in einem Altenheim in Monroeville.[18] Einer ihrer seltenen öffentlichen Auftritte war anlässlich der Entgegennahme des Los Angeles Public Library Literary Award (Literaturpreis der öffentlichen Bibliotheken von Los Angeles) im Mai 2005. 2007 wurde ihr die Presidential Medal of Freedom überreicht, die höchste zivile Auszeichnung der Vereinigten Staaten. Nach Angaben ihrer Familie starb Harper Lee am 19. Februar 2016 im Alter von 89 Jahren im Schlaf.[19]
Darstellung im Film
- Tracey Hoyt spielte Lee 1998 im Fernsehfilm Scandalous Me: The Jacqueline Susann Story.
- Catherine Keener spielte Lee 2005 im Spielfilm Capote und erhielt unter anderem eine Oscar-Nominierung als Beste Nebendarstellerin.
- Sandra Bullock spielte Lee 2006 im Spielfilm Kaltes Blut – Auf den Spuren von Truman Capote (Infamous).
Werke
- To Kill a Mockingbird, deutscher Titel Wer die Nachtigall stört (Lippincott, 1960). (Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste in den Jahren 1962 und 1963)
- Überarbeitung der ersten deutschen Übersetzung von Claire Malignon durch Nikolaus Stingl und mit einem Nachwort von Felicitas von Lovenberg. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2015, ISBN 978-3-498-03808-3.
- Love In Other Words (Memento vom 9. Oktober 2006 im Internet Archive) (in Vogue, 15. April 1961, S. 64–65).
- Christmas To Me (Memento vom 7. September 2006 im Internet Archive) (in McCall’s, Dezember 1961).
- When Children Discover America (Memento vom 24. Oktober 2006 im Internet Archive) (in McCall’s, August 1965)
- Romance and High Adventure (Memento vom 24. Oktober 2006 im Internet Archive) (in Clearings in the Thicket, Mercer University Press, 1985).
- Go Set A Watchman, William Heinemann, London 2015, ISBN 978-1-7851-5028-9
- Gehe hin, stelle einen Wächter. Übers. Klaus Timmermann, Ulrike Wasel. Deutsche Verlagsanstalt, München 2015, ISBN 978-3-421-04719-9[20] (Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste vom 1. bis zum 7. August 2015)
Literatur
- Roy Newquist (Hrsg.): Counterpoint. Rand McNally, Chicago 1964.
- William T. Going: Truman Capote. Harper Lee’s Fictional Portrait of the Artist as an Alabama Child. In: Alabama Review. 42 (1989), S. 136–149.
- Mark Childress: Looking for Harper Lee. In: Southern Living. Ausgabe Mai 1997, S. 148–150.
- Charles J. Shields: Mockingbird – A Portrait of Harper Lee. Holt, New York 2006, ISBN 0-8050-7919-X.
- Alexandra Lavizzari: Glanz und Schatten. Truman Capote und Harper Lee – eine Freundschaft. Edition Ebersbach, Berlin 2009, ISBN 978-3-938740-90-3.
- Hermann Weber: Juristen als Schriftsteller nichtdeutscher Sprache: (Nelle) Harper Lee. In: Neue Juristische Wochenschrift, Heft 11/2013, S. 743–748.
- Marja Mills: The mockingbird next door : life with Harper Lee. Penguin Press, New York 2014, ISBN 978-1-594-20519-4.
- Hermann Weber: Juristen als Schriftsteller nichtdeutscher Sprache: Noch einmal (Nelle) Harper Lee. In: Neue Juristische Wochenschrift, Heft 11/2016, S. 765–769. (Zugleich Besprechung von Harper Lee: Gehe hin, stelle einen Wächter. Deutsche Verlagsanstalt, München 2015.)
- Hans-Georg Schede Hg.: To Kill a Mockingbird. Analyse, Interpretation. Mit Inhaltsangabe, Abituraufgaben mit Lösungen, in Englisch. Königs Erläuterungen, Bange-Verlag, Hollfeld 2017 (Neuaufl.) ISBN 3804420427[21]
- Casey Cep: Furious Hours: Murder, Fraud, and the Last Trial of Harper Lee. Thorndike, 2019, ISBN 978-1-9848-9223-2.
Weblinks
- Literatur von und über Harper Lee im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Thomas Mallon: Big Bird. A biography of the novelist Harper Lee. In: New Yorker. 29. Mai 2006 (englisch)
Einzelnachweise
- Harper Lee, author of ‘To Kill a Mockingbird,’ dies at age 89. In: Fox31 Denver. 19. Februar 2016 (englisch).
- Ann Hellmuth: Walking in Harper Lee’s shoes (Memento vom 15. September 2010 im Internet Archive). In: Orlando Sentinel. 11. Juni 2006 (englisch, „Thirty million copies of To Kill a Mockingbird have been sold since that coming-of-age novel, about a Southern lawyer who believed that no man should be denied justice because of the color of his skin, was first published in 1960 to critical acclaim.“).
- feb/AP: Vorgänger von „Wer die Nachtigall stört“: Harper Lees Debüt erscheint mit 60 Jahren Verspätung. In: Spiegel Online. 3. Februar 2015.
- Hermann Weber: Juristen als Schriftsteller nichtdeutscher Sprache: (Nelle) Harper Lee. In: Neue Juristische Wochenschrift. Heft 11/2013, S. 743–748.
- Eric Homberger: Harper Lee obituary. In: The Guardian. 19. Februar 2016, ISSN 0261-3077 (theguardian.com [abgerufen am 23. Februar 2016]).
- Zitiert nach Lavizzari: Glanz und Schatten. 2009, S. 62.
- Lavizzari: Glanz und Schatten. 2009, S. 63.
- Lavizzari: Glanz und Schatten. 2009, S. 151.
- So jedenfalls Shields: Mockingbird. 2006, S. 253.
- Members: Harper Lee. American Academy of Arts and Letters, abgerufen am 8. April 2019.
- Alison Flood, Paul Lewis: Harper Lee to publish new novel, 55 years after To Kill a Mockingbird. In: The Guardian. 3. Februar 2015, abgerufen am 3. Februar 2015 (englisch).
- Michiko Kakutani: Review: Harper Lee’s ‘Go Set a Watchman’ Gives Atticus Finch a Dark Side. In: The New York Times. 10. Juli 2015 (englisch).
- Harper Lee: Darf ein Schriftsteller nie aufhören? In: Zeit Online. 20. Februar 2016, abgerufen am 20. Februar 2016.
- Harper Lee - die Nachtigall wird nie wieder singen. In: sueddeutsche.de. 19. Februar 2016, abgerufen am 28. April 2018.
- Der Spiegel. Nr. 30, 18. Juli 2015.
- Fritz Göttler: Literarische Sensation. Die Rückkehr der Nachtigall. In: Süddeutsche Zeitung. 4. Februar 2015, abgerufen 6. Februar 2015.
- Ulrich Rüdenauer: Harper Lee: Alabamas Jane Austen. In: Zeit Online. 15. Juli 2015, abgerufen am 20. Februar 2016.
- Der Spiegel. Nr. 30, 18. Juli 2015, S. 111.
- Todd Leopold: Harper Lee, ‘To Kill a Mockingbird’ author, dead at 89. In: cnn.com. Cable News Network, 20. Februar 2016, abgerufen am 21. Februar 2016 (englisch).
- Rezension siehe unten Abschnitt Literatur, Hermann Weber
- weitere Lektürehilfen zum Buch produzieren: Ernst Klett Verlag, mit Vokabel-Beilage; Cornelsen Verlag, Textband mit Anmerkungen als Beilage; Stark Verlag; sowie mehrere englische oder US-Verlage. Abitur-Thema in den Bundesländern Hessen und Niedersachsen im Jahr 2018