Geschlechterturm
Der Geschlechterturm ist eine im Hochmittelalter in Oberitalien entstandene Bauweise, die einflussreichen städtischen Familien für Wohn- und Verteidigungszwecke diente. Wie auf einigen alten Stadtansichten in der Schedelschen Weltchronik zu erkennen, wurde die Turm-Bauweise am Ende des 13. Jahrhunderts nördlich der Alpen in einigen durch Handel mit Italien reich gewordenen Handelsstädten, wie z. B. Nürnberg, Konstanz, Regensburg und Reichenhall[1] kopiert.[2] Die Türme dienten hier aber nicht Verteidigungszwecken, sondern hatten repräsentativen Charakter und dienten der Darstellung von Reichtum und Einfluss. In Deutschland ist nur in Regensburg eine Mehrzahl von Geschlechtertürmen bis heute erhalten, darunter zwei in ursprünglicher Höhe (Goldener Turm, Baumburger Turm).
Geschichte
Die Geschlechtertürme entstanden in Oberitalien seit dem 11., vor allem aber im 12. und frühen 13. Jahrhundert, in Deutschland hingegen meist erst im späten 13. und im 14. Jahrhundert. Die italienischen Geschlechtertürme entlehnten ihre Form den zeitgleichen Bergfrieden ländlicher Burgen, allerdings aufgrund der fehlenden Höhenlage sowie der Enge in den Städten oft höher und schlanker. In den süddeutschen Handelsstädten kamen meist Elemente des Wohnturms hinzu, wie er hier schon länger auch in Städten gebräuchlich war (so etwa um 1100 der Frankenturm in Trier). Ein ursprünglicher Grund für solche Bauten war, dass im frühen Hochmittelalter Stadtmauern noch relativ selten oder wenig effektiv waren. Erst ab dem 12. Jahrhundert begann die allgemeine Befestigung von Städten, die im Lauf der Jahrhunderte, vor allem mit dem Aufkommen von Feuerwaffen, immer mehr verstärkt wurde.
Der oberitalienische Landadel, der bislang Ministerialendienst auf den Burgen oder Festen Häusern seiner Lehnsherren getan und von Anteilen der erhobenen Zolleinnahmen sowie den eher bescheidenen Abgaben der Leibeigenen, Hörigen und Hintersassen gelebt hatte, fühlte sich durch den wachsenden Wohlstand der bürgerlichen Fernhändler in den Städten herausgefordert, siedelte seinerseits schon früh (seit dem 11. Jahrhundert) in die Städte über und begann, sich ebenfalls kommerziell zu betätigen und Handelshäuser oder Bankgeschäfte aufzubauen. Fernhändler bürgerlichen und ritterlichen Ursprungs verschmolzen bald zur Kaste der Patrizier, was auch nördlich der Alpen, etwa im Nürnberger Patriziat, geschah. Gleichwohl behielten die adligen Familien anfangs ihre ritterliche, fehdegewohnte Lebensweise bei und brachten zwischen 1150 und 1250 mit ihren Geschlechtertürmen die fortifikatorische Bauweise von Bergfried, Turmburg und Wohnturm und damit ihre feudalen Macht- und Statussymbole in die Enge innerstädtischer Gassen. Bürgerliche Kaufleute und Bankiers versuchten mitzuhalten und errichteten sich ebenfalls Türme.
Die Geschlechtertürme bestanden anfangs, wie die Wohntürme, oft nur aus wenigen Stockwerken, überragten aber dennoch die damals in der Regel niedrige Bebauung der Gassen. Sie dienten der Verteidigung bei Fehden gegen innerstädtische Rivalen und als Rückzugsorte bei äußeren Angriffen auf die Stadt, wenn der Feind die Stadtmauern überwunden hatte und ans Plündern und Brandschatzen ging. Da sie nicht nur Wehrfunktion hatten, sondern auch Statussymbole waren, wurden sie oft nach und nach – über Generationen – aufgestockt, in den notorischen Erdbebengebieten Italiens kein geringes Wagnis. Bei Stadtbränden boten sie allerdings ebenfalls einen gewissen Schutz, hier konnte größere Höhe von Vorteil sein.
Die Grundfläche der Türme ist meist quadratisch, die Höhe unterschiedlich. Je nach Region sind sie überwiegend aus Backstein oder Feldstein errichtet. Die engen Türme Italiens wurden in der Regel nur im Verteidigungsfall bezogen, die Wohnhäuser für Friedenszeiten standen daneben. Daher waren sie innen fortifikatorisch ausgebaut, man gelangte in das jeweils höhere Stockwerk, das meist nur aus einem Raum bestand, über Leitern oder Strickleitern, die im Belagerungsfall nach oben gezogen werden konnten. Es gab auch nur Hocheingänge, ebenerdige Zugänge sind Zutaten der Neuzeit. In den oberen Stockwerken wurden Waffen (Pfeile und Bogen, Armbrüste, Steinbüchsen), Pech, Wasser und Vorräte gelagert, im Fehdefall wohl auch die Münzreserven. Teilweise sind die Türme auch mit Pechnasen (Wehrerkern) versehen, aus denen Angreifer oder Belagerer mit heißem Öl oder Pech, kochendem Wasser, Steinen und Ähnlichem von einer Erstürmung des Turms abgehalten werden sollten. Die heute oft freistehenden Türme waren im Mittelalter eng umbaut, direkt neben ihnen befanden sich die Wohngebäude der Besitzer, Palazzi aus Stein oder bescheidenere Häuser aus Holz oder Fachwerk. Die meisten Türme in Italien sind um 1200 entstanden. Schon im Lauf des 13. und 14. Jahrhunderts wurden viele wieder zerstört, entweder durch Schleifung nach Fehden oder wegen Baufälligkeit, Einsturz oder städtischen Auflagen, in späterer Zeit oft zur Gewinnung von Baumaterial. Nach dem Mittelalter dienten die verbliebenen Türme als Lager, Wohnungen oder Geschäfte oder wurden als Kerker genutzt. Zu diesen Zwecken wurden sie im Inneren oft umgebaut und in vielen Fällen auf Firsthöhe gekürzt und in die unteren Etagen neuer Häuser integriert. In Florenz sind bei genauem Hinsehen noch viele solcher Turmstümpfe zu erkennen, die in die umgebende Bebauung eingefügt sind und sich aus den Fassaden hervorheben; noch im Zweiten Weltkrieg wurden dort bei Bombenangriffen viele bis dahin erhaltene Türme zerstört.
Städte mit Geschlechtertürmen
Die Stadt mit den meisten in voller Höhe erhaltenen Geschlechtertürmen ist San Gimignano in der Toskana mit 15 schon von weither sichtbaren Türmen. In Florenz gab es einst etwa 200 Türme; viele von ihnen stürzten aber ein, da die Erbauer zu hoch hinaus wollten, teilweise über 70 Meter; Erdbeben taten das Ihre. Die Stadtverwaltung sah sich bereits im Jahr 1250 gezwungen, die Höhe der Türme auf 27,5 Meter – was etwa 9 Stockwerken entspricht – zu begrenzen; was darüber lag, musste auf diese Höhe gekürzt werden. Ferner wurde den Besitzern aufgegeben, die Türme zu bewohnen, damit sie nicht als Waffenmagazine genutzt wurden. Etwa 40 solcher Turmstümpfe sind in Florenz noch vorhanden.
In Bologna sind von ursprünglich 180 noch 20 Türme bzw. deren Stümpfe erhalten; zwei der bekanntesten sind die schiefen Due Torri (Asinelli, 97 m, und Garisenda, 48 m). In Siena sind noch etwa 15 Geschlechtertürme zu sehen, in Volterra sechs, in Pisa drei. Von den einst 250 Türmen in Lucca ist der berühmte Guinigiturm erhalten. Die 50 Türme in Perugia mussten, bis auf einen, nach einer Rebellion 1531 auf päpstliche Anordnung niedergelegt werden. Auch in Rom gibt es einige wenige erhaltene Geschlechtertürme, beispielsweise die Torre dei Capocci oder die Torre Caetani. In Pavia stehen von etwa fünfzig noch drei in voller Höhe; ein vierter, die Torre Civica aus dem 11. Jahrhundert, ist 1989 eingestürzt, wobei vier Menschen ums Leben kamen. Einstürze waren bereits im Mittelalter nicht selten.
In Deutschland sind mehrere Geschlechtertürme nur noch in Regensburg anzutreffen. Dort hatte sich im 13. Jahrhundert das durch Handel wohlhabend gewordene reichsstädtische Regensburger Patriziat die Türme in Italien zum Vorbild genommen, um Reichtum, Weltgewandtheit, Einfluss und Bedeutung nach außen hin zu präsentieren. Bis auf wenige Ausnahmen (Goldener Turm, Baumburger Turm), wurden auch in Regensburg viele Türme (Bräunelturm, Kappelmayerturm, Kastenmayerturm, Zanthausturm) später meist bis auf Firsthöhe gekappt. In Esslingen am Neckar hat sich ein dreistöckiger Geschlechterturm als gut erkennbarer Kern des später vergrößerten Gebäudes Hafenmarkt 9 erhalten, das heute Stadtmuseum ist.
Von den um 1430 in Nürnberg existierenden 65 Geschlechtertürmen ist heute lediglich das Nassauer Haus noch erhalten geblieben.[2] Dieser später aufgestockte Bau aus dem 13. Jahrhundert ist – anders als die schlanken Wehrtürme in italienischen Städten – groß genug, um bewohnt zu werden, er verfügte – wie die meisten anderen deutschen Geschlechtertürme – auch über Fenster; Handelsgut konnte hier ebenfalls in größeren Mengen sicher gelagert werden. Diese Doppelfunktion als Statussymbol und Nutzbau unterscheidet die deutschen Türme von den älteren italienischen. Allerdings finden sich in Handelsstädten wie Florenz ebenfalls bewohnbare Türme.
- Die Türme in Pavia
- Türme am Corso Donati, Florenz
- Torre Forteguerri, Siena
- Turmstumpf in Siena
- Gelbes Haus in Esslingen (Stadtmuseum)
- Goldener Turm, Regensburg
- Baumburger Turm, Regensburg
- Zanthaus West-Turm (von Süden), Gesandtenstraße, Regensburg
- Zanthaus West-Turm
- Bräunelturm am Watmarkt, Regensburg
Siehe auch
Literatur
- Klaus Tragbar: Vom Geschlechterturm zum Stadthaus. Studien zu Herkunft, Typologie und städtebaulichen Aspekten des mittelalterlichen Wohnbaus in der Toskana (um 1100 bis 1350) (= Beiträge zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 10). Rhema-Verlag, Münster 2003, ISBN 3-930454-22-X.
Weblinks
- Joachim Zeune: Geschlechtertürme. In: Historisches Lexikon Bayerns
Einzelnachweise
- Johannes Lang: Geschichte von Bad Reichenhall. Ph.C.W. Schmidt, Neustadt/Aisch 2009; S. 227
- Geschlechtertürme auf historisches-lexikon-bayerns.de, abgerufen am 3. Februar 2020