Emanuela Orlandi
Emanuela Orlandi (* 14. Januar 1968 in Rom) ist die Tochter eines Hofdieners von Papst Johannes Paul II. und vatikanische Staatsbürgerin.[1] Bekannt wurde sie durch ihr mysteriöses Verschwinden in Rom am 22. Juni 1983. Nachdem erste Ermittlungen ergebnislos verlaufen waren, wurden sie im Mai 2012 wieder aufgenommen,[2] blieben aber erneut ohne Erfolg.[3] Im Oktober 2015 stellte die italienische Justiz die Ermittlungen abermals ein, nahm sie aber im Juli 2019 wieder auf.[4][5]
Entführung
Emanuela fuhr regelmäßig mit dem Bus zu einer Musikschule. Am Mittwoch, den 22. Juni 1983, erschien sie spät zum Unterricht in einem Palazzo an der Piazza Sant’Apollinare. In einem Telefonat mit ihrer Schwester erklärte sie, ein Jobangebot von einem Vertreter von Avon Cosmetics bekommen zu haben. Nach dem Unterricht sprach Emanuela über das Jobangebot mit einer Freundin. An diesem Abend kehrte sie nicht nach Hause zurück. Emanuela wurde angeblich zuletzt in einem großen, dunklen BMW gesehen. Um 15 Uhr des folgenden Tages riefen ihre Eltern den Direktor der Musikschule an, um nach dem Verbleib ihrer Tochter zu fragen. Die Polizei hatte vorgeschlagen, vor einer Vermisstenanzeige nachzuforschen, ob das Mädchen vielleicht bei Freunden geblieben sei. Nachdem alle Nachforschungen vergeblich geblieben waren, wurde Emanuela noch am selben Tag als vermisst gemeldet. Suchmeldungen mit der Telefonnummer der Eltern erschienen am darauffolgenden Samstag und Sonntag in den Zeitungen Il Tempo, Paese della Sera und Il Messaggero.
Am Samstagabend, den 25. Juni, meldete sich telefonisch ein 16-jähriger Junge namens „Pierluigi“, der behauptete, das vermisste Mädchen auf der Piazza Navona am Nachmittag getroffen zu haben. Der Jugendliche erwähnte Emanuelas Flöte, ihr Haar und die Brille, die sie nicht gerne trage, zusammen mit anderen Details, die seine Aussage glaubwürdig erscheinen ließen. Nach seinen Angaben hatte sich Emanuela die Haare schneiden lassen und nannte sich „Barbarella“. Sie habe erklärt, dass sie gerade von zu Hause weggelaufen sei und Avon-Produkte verkaufen wolle.
Drei Tage später, am Dienstag, den 28. Juni, rief ein Mann namens „Mario“ bei der Familie Orlandi an und behauptete, eine Bar in der Nähe des Ponte Vittorio Emanuele II zu besitzen, die zwischen dem Vatikan und der Musikschule liegt. Der Mann sagte, dass ein Mädchen namens „Barbara“ eine neue Kundin sei und sich ihm anvertraut habe. Sie wolle zur Hochzeit ihrer Schwester nach Hause zurückkehren.
Am 30. Juni wurden in Rom 3000 Plakate mit Emanuela Orlandis Fotografie verteilt, um die Bevölkerung zur Mithilfe bei der Suche nach dem Mädchen aufzurufen.
Papst Johannes Paul II. appellierte am Sonntag, den 3. Juli an diejenigen, die verantwortlich für Emanuela Orlandis Verschwinden seien. Dadurch gab er indirekt zu verstehen, dass es sich seiner Meinung nach um eine Entführung handeln müsse. Zwei Tage später erhielt die Familie Orlandi den ersten einer Reihe von anonymen Anrufen. Der Anrufer meldete sich mit amerikanischem Akzent; demnach war Emanuela angeblich Gefangene der terroristischen Vereinigung Graue Wölfe, welche die Freilassung von Mehmet Ali Ağca, der am 13. Mai 1981 ein Attentat auf den Papst verübt hatte, forderte. In den folgenden Tagen kamen weitere Anrufe, darunter einer, bei dem eine Aufnahme von Emanuelas Stimme über das Telefon abgespielt wurde. Wenige Stunden später wurde dem Vatikan ein Austausch von Ali Ağca gegen Orlandi vorgeschlagen. Ein anonymer Gesprächspartner erwähnte die früheren Anrufer „Mario“ und „Pierluigi“ und bezeichnete sie als Mitglieder der Organisation.
Erklärungsversuche
Anfangs wurde angenommen, eine Gruppe Krimineller habe Orlandi entführt, um Geld zurückzufordern, das die Gruppe dem Heiligen Stuhl angeblich geborgt hatte. So kam die Spekulation auf, dass die römische Mafia Emanuela verschleppt, getötet und auf einem Friedhof vor der Stadt bestattet habe. Eine weitere Theorie besagte, die Entführer hätten Mehmet Ali Ağca freipressen wollen. Zwischenzeitlich wurde Orlandi in Paris, Ungarn, dem Irak, einem anderen Land im Mittleren Osten oder der Türkei vermutet. Die Annahmen konnten ebenso wenig bestätigt werden wie die Vermutungen, sie werde gewaltsam in einem Kloster im luxemburgischen Peppange oder im Südtiroler Kloster Säben festgehalten.[6] In der Folge wurden auch der KGB, die CIA und die sizilianische Mafia als Urheber der Verschleppung von Emanuela genannt.
Im Mai 2012 stellte Gabriele Amorth, ein römisch-katholischer Priester und Exorzist, eine neue Möglichkeit in den Raum. Er beschuldigte eine Gruppe, zu der auch Angestellte der Polizei des Vatikanstaates und ausländische Diplomaten gehörten, das Mädchen entführt und für Partys sexuell ausgebeutet zu haben. Später, so Amorth, sei sie ermordet und ihre Leiche beseitigt worden.[7][6]
Ebenfalls im Mai 2012 wurde das Grab des Mafia-Bosses Enrico De Pedis in der Basilika Sant’Apollinare in Rom geöffnet, in dem sich angeblich der Leichnam des Mädchens befinden sollte. Tatsächlich wurden Knochen gefunden, die nicht dem Mafioso zugeordnet werden konnten. Allerdings wird vermutet, dass es sich um die Gebeine von früher in der Krypta Beigesetzten handelt. Ein DNA-Test sollte zur Klärung beitragen. Gegen den damals in der Basilika zuständigen Priester Pietro Vergari wurden Ermittlungen aufgenommen.[8] Von anderen Berichterstattern werden solche Zusammenhänge jedoch bestritten.[9] Die DNA-Tests ergaben, dass die Knochen nicht dem verschwundenen Mädchen zuzuordnen waren.[10]
Im Juni 2012 behauptete Ağca, Emanuela Orlandi sei am Leben und befinde sich in der Türkei. Sie sei entführt worden, um seine Freilassung zu erreichen.[11] Hingegen erklärte Papst Franziskus am 17. März 2013 gegenüber Orlandis Bruder Pietro, Emanuela sei im Himmel.[12] Pietro Orlandi beklagte, von Papst Johannes Paul II. belogen worden zu sein; dessen Nachfolger Benedikt XVI. habe die Lüge durch Schweigen weitergetragen.[13][14] Im August 2019 wiederholte Ağca seine Behauptungen in einem Schreiben an Papst Franziskus; Orlandi lebe in einem streng abgeschlossenen Kloster und der Vatikan sei verpflichtet, sie zu ihrer Familie zurückzubringen.[15]
Im Jahr 2017 schrieb der Journalist Emiliano Fittipaldi, er besitze eine vatikanische Kostenaufstellung, laut welcher Orlandi noch bis 1997 in einem englischen Internat gelebt habe. Der letzte Eintrag Transfer in den Vatikan für die Vollführung finaler Prozeduren lese sich, als sei Orlandi in jenem Jahr nach Rom zurückgebracht und getötet worden. Fittipaldi räumte Zweifel an der Echtheit des Dokuments ein; sei es eine Fälschung, so deute es auf Konflikte innerhalb der Römischen Kurie. Der Heilige Stuhl gab an, das Dokument sei unecht.[16][17][12]
Ein Knochenfund in der Apostolischen Nuntiatur Rom im Oktober 2018 konnte trotz erster Vermutungen nicht mit dem Fall Orlandi in Verbindung gebracht werden; das entdeckte Skelett stammte von einem vor 1964 verstorbenen Mann.[18][19]
Im März 2019 forderten Angehörige Orlandis, allen voran ihr Bruder Pietro Orlandi, nach einem anonymen Hinweis, die Gräber von Kurienkardinal Gustav Adolf zu Hohenlohe-Schillingsfürst († 1896), Sophie zu Hohenlohe-Bartenstein († 1836)[20][21] und Charlotte Friederike zu Mecklenburg († 1840) auf dem an den Vatikan grenzenden Campo Santo Teutonico, einem Friedhof des deutschen Priesterkollegs neben dem Petersdom, zu öffnen, um zu überprüfen, ob sich Knochen Emanuela Orlandis dort befänden.[22][23][24][25] Im Juli 2019 wurde dem Antrag auf Durchsuchung des auf einer exterritorialen Besitzung des Heiligen Stuhls liegenden Grabes stattgegeben.[5] Die Gräber waren zuletzt bei einer Renovierung im Jahr 2010 durch Steinmetze geöffnet worden.[22]
Am 11. Juli 2019 wurden die Gräber geöffnet, jedoch wurden keine sterblichen Überreste gefunden, auch nicht von den beiden dort angeblich begrabenen Frauen.[25] Nach der ergebnislosen Suche forderte Pietro Orlandi in mehreren Interviews die Zeugenvernehmung von Francesca Chaouqui, die Tage vor dem Öffnen dieser Gräber ihn anrief und erklärte, dass zwei völlig leere Gräber aufgefunden werden würden. Chaouqui war Mitglied im von Papst Franziskus eingesetzten Wirtschaftsprüfungskommission COSEA, die Wirtschaftsbetriebe und Finanzen des Vatikanstaates untersuchen sollte – das Gremium war auch für die Vatikanbank IOR zuständig und sie war die einzige weibliche Protagonistin der Affäre Vatileaks 2.0.[26]
Nur zwei Tage später vermeldete der Vatikan doch einen Fund: Auf der Suche nach einem Ort, an den die menschlichen Überreste aus den leeren Gräbern gebracht worden sein könnten, stießen die Ermittler auf zwei geheime Beinhäuser unter dem Fußboden des deutschen Priesterkolleg. Die unter einer Falltür gelegenen Räume seien umgehend nach ihrer Entdeckung versiegelt worden, teilte der Vatikan mit. Am 20. Juli wurde ein Untersuchungstermin anberaumt.[27][28][29] Das Ermittlungsverfahren wurde nach dem dortigen Fund tausender Knochen erneut eröffnet.[30] Die genetische Untersuchung der Gebeine wurde eingeleitet.[31] Es stellte sich eine Woche später laut Vatikan heraus, dass keiner der Knochen aus dem 20. Jahrhundert stamme.[32] Ein von Orlandis Familie bestellter Experte bezweifelte die vatikanischen Angaben und forderte weitere Untersuchungen an etwa 70 Knochen.[33] Dies wurde abgelehnt, auch diese Knochen wiesen laut Vatikansprecher Matteo Bruni „Zeichen sehr antiker Datierung“ auf.[34]
Weblinks
- Welche Rolle spielte der Vatikan beim Verschwinden dieses Mädchens?, auf sueddeutsche.de, 19. September 2017
- Entführung aus dem Vatikan: Der Fall Emanuela Orlandi, Dokumentation in der ZDF-Mediathek, Oktober 2018
Einzelnachweise
- Ulrich Nersinger: Ein ungelöster Vatikankrimi als Spielball ominöser Kräfte. Vatican Magazin, Ausgabe 10/2017, kostenlose Leseprobe.
- 15-Jährige soll nach Sexpartys im Vatikan getötet worden sein. In: Spiegel online. 24. Mai 2012, abgerufen am 26. Mai 2012.
- Fall Orlandi ungeklärt bis heute. In: Deutschlandfunk. 21. Juni 2013, abgerufen am 21. Juni 2013.
- Rom stellt Ermittlungen zu entführter Vatikan-Bürgerin ein, auf orf.at, 20. Oktober 2015.
- Burkhard Jürgens: Engel und Dämonen im Vatikan. Domradio vom 8. Juni 2019
- Caso Orlandi, un triplo inganno contro la verità. L’Espresso vom 15. September 2014
- Nick Squires: Emanuela Orlandi 'was kidnapped for sex parties for Vatican police'. In: The Telegraph. 22. Mai 2012, abgerufen am 25. Mai 2012 (englisch).
- Fall Emanuela Orlandi: Ermittlungen gegen Priester. In: Der Standard. 19. Mai 2012, abgerufen am 26. Mai 2012.
- Das Grab, der Gangster und der Fall Orlandi. In: Die Welt. 14. Mai 2012, abgerufen am 12. August 2015.
- Liegt eine Mädchen-Leiche hinter den heiligen Mauern? In: bild. 16. Februar 2013, abgerufen am 12. August 2015.
- Fabrizio Peronaci: Alì Agca: „Emanuela è viva, sta bene è stata rapita per farmi liberare“. In: Corriere della Sera. 21. Juni 2012, abgerufen am 21. Juni 2012.
- Orlandi: Papst soll Licht in mysteriösen Kriminalfall bringen. Domradio vom 22. November 2018
- „Die Familie leidet.“ Domradio vom 8. November 2018
- Nicolas Büchse: Entführung im Vatikan: Wo ist Emanuela Orlandi? stern vom 20. August 2017
- Post von Ali Agca. Domradio vom 4. August 2019
- Oliver Meiler: Welche Rolle spielte der Vatikan beim Verschwinden dieses Mädchens? Süddeutsche Zeitung vom 19. September 2017
- Julius Müller-Meiningen: Ließ der Vatikan vor 34 Jahren Emanuela Orlandi verschwinden? Augsburger Allgemeine vom 20. September 2017
- Dietmar Seher: Als Emanuela und Mirella für immer verschwanden. T-online.de vom 28. November 2018, Abruf am 29. November 2018
- Fulvio Fiano: Emanuela Orlandi e Vaticano, le ossa della Nunziatura sono di un uomo. Corriere della Sera vom 24. November 2018, Abruf am 25. November 2018
- Hohenlohe – Section 3: Hohenlohe-Bartenstein and Hohenlohe-Jagstberg. In: Paul Theroff’s Royal Genealogy Site, ohne Datum, abgerufen am 12. Juli 2019. Hier: „1a) Sophie (Schillingsfürst 13 Dec 1758–Rome 20 Jan 1836; bur Campo Santo Teutenico)“; Tochter von: „Ludwig Leopold Fst zu Hohenlohe-Bartenstein 1 Mar 1763 (Siegen 15 Nov 1731-Heubach 14 Jun 1799; bur Kl ENgelberg); m.Schillingsfürst 6 May 1757 Polyxena Gfn von Limburg-Stirum (28 Oct 1738-26 Feb 1798; bur Bartenstein)“.
- Das Prinzessinnenpalais (»Prinzessinnenhaus«) zu Niederstetten. Prinzessin Sophie zu Hohenlohe-Bartenstein (1758–1836) über das zu Schloß Haltenbergstetten gehörenden Prinzessinnenhaus. In: Günther Emigs Literatur-Betrieb. Günther Emig (Hrsg.), Schloss Haltenbergstetten, Niederstetten. Hier insbesondere auch: „… in dem ich glückliche Tage verbrachte bis November 1819, als ich es verließ, um nach Rom zu gehen. …“
- Mysteriöses Verschwinden einer 15-Jährigen. In: tagesspiegel.de, 10. Juli 2019 (abgerufen am 11. Juli 2019).
- Julius Müller-Meiningen: Vermisstenfall im Vatikan: Familie fordert Graböffnung. Augsburger Allgemeine vom 4. März 2019
- Fall Orlandi: Familie bittet Vatikan um neue Ermittlungen. Vatican News vom 4. März 2019
- „Die Gräber sind leer. Wir sind alle überrascht“. In: welt.de. Abgerufen am 11. Juli 2019.
- Bruder bekommt mysteriösen Anruf vor der Graböffnung
- Fall Orlandi: Neue Spur führt zu deutschem Priesterkolleg, katholisch.de, 13. Juli 2019
- Menschenknochen in geheimer Kammer im Vatikan entdeckt, t-online.de, 13. Juli 2019
- Überraschender Knochenfund im Vatikan, 13. Juli 2019
- Stefano Vladovich: Il caso Orlandi si riapre. Trovate migliaia di ossa. il Giornale vom 21. Juli 2019
- Sonja Gurris: Knochenanalyse könnte Fall Orlandi lösen. n-tv, 27. Juli 2019
- Emanuela Orlandi bliebt vermisst - Vatikan: Knochenfund löst Kriminalfall nicht. In: zdf.de, 28. Juli 2019, abgerufen am 28. Juli 2019.
- Knochenfunde im Vatikan ohne Hinweis auf Emanuela Orlandi. Kölner Stadt-Anzeiger vom 28. Juli 2019
- Knochenuntersuchung im Vatikan endet ohne Spur von Orlandi kath.net vom 29. Juli 2019