Die Kapuzinergruft
Die Kapuzinergruft ist ein Roman von Joseph Roth, der 1938 im Bilthovener Verlag „De Gemeenschap“[1] erschien. Das Schlusskapitel wurde am 23. April 1938 in der Exilzeitschrift Das Neue Tage-Buch unter dem Titel „Der schwarze Freitag“ vorab veröffentlicht. Die erste Ausgabe von 1938 wurde in einer Auflage von 3.000 Exemplaren gedruckt. Etwa die Hälfte dieser Auflage wurde im Mai 1940, vor der Besetzung der Niederlande durch deutsche Truppen, vergraben und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weiter verkauft.
Franz Ferdinand Trotta erzählt – rückblickend – aus seinem Leben; zeichnet ein eigenes Bild vom Untergang seiner geliebten Donaumonarchie bis zum Ende Österreichs als selbstständiger Staat im Jahr 1938 („Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland).
Zeit und Ort
Der Roman handelt vom April 1913[2] bis zum 12. März 1938[3] in Wien, Galizien und Sibirien.[4]
Trotta
Franz Ferdinand Trotta, 1891 geboren[5], stammt aus „Sipolje in Slowenien“. Der Bruder seines Großvaters war jener Leutnant Joseph Trotta, „der dem Kaiser Franz Joseph in der Schlacht bei Solferino das Leben“ rettete und dafür geadelt wurde.[6] Obwohl Franz Ferdinand Trotta in Wiener adeligen Kreisen verkehrt, obwohl er vom Caféhausbesitzer mit „Herr Baron“[7] angeredet wird, ist er bürgerlich. Denn er spricht vom „geadelten Zweig“ seines „Geschlechts“, wenn er ihn gegen den eigenen bürgerlichen herausstellen möchte. Sein Vater war zu Lebzeiten Chemiker, rebellierte gegen Kaiser Franz Joseph, besaß zwei Zeitungen in Agram und strebte ein „slawisches Königreich unter habsburgischer Herrschaft“ an[8] (siehe Trialismus).
Inhalt
Im April 1913 wird Franz Ferdinand Trotta, der als reicher junger Mann[9] in Wien lebt, von seinem Vetter Joseph Branco, Bauer und gelegentlich Maronibrater aus Sipolje, besucht. Branco, der mit Trotta Slowenisch spricht, hat einen Regimentskameraden zum Freund, den jüdischen Kutscher Manes Reisiger aus Zlotogrod in Galizien. Der Kutscher taucht wenig später aus dem „fernen Osten“ des Reiches auf und bittet Trotta, dem einzigen Sohn „Ephraim einen Freiplatz im“ Wiener „Konservatorium“ zu verschaffen. Trotta sucht einen seiner vielen Freunde in der „frohlebigen“[10] Wiener Vorkriegsgesellschaft, den Grafen Chojnicki, auf. Der Graf, ein „Galizianer“, verschafft dem Jungen unbesehen die Stelle.[11]
Im Sommer 1914 reist Trotta auf Einladung des Kutschers nach Zlotogrod. Reisiger und Trotta werden Freunde. Da bricht der Krieg aus. Fähnrich Trotta eilt nach Wien und lässt sich von seinem Wiener Heimatregiment in ein Regiment nach Ostgalizien[12] versetzen, in dem seine beiden Freunde Branco und Reisiger dienen. Trottas Wiener Regimentskameraden sind über die „Transferierung“ des „Kriegsspielverderbers“[13] enttäuscht. Trotta kann auf diese Wiener „Walzertänzer“[13] keine Rücksicht nehmen und reist, zum Leutnant befördert, ostwärts ins galizische Kampfgebiet. Zuvor heiratet der frischgebackene Leutnant noch Hals über Kopf seine Freundin Elisabeth Kovacs,[14] Tochter eines Wiener Hutmachers und Kriegsgewinnlers in spe. Ganze sechzehn Stunden hat das Paar Zeit für den Vollzug seiner Ehe.[15] Aus der „Brautnacht“ wird nichts. Elisabeth flüchtet. Trotta zieht als „Einzelreisender“ ins Feld. Seine Freunde Branco und Reisiger trifft er gesund und munter an. Die erste Schlacht der Drei bei „Krasne-Busk“[16] endet ruhmlos. Gefangen genommen, werden sie nach Wiatka an die Lena gebracht.[17] Die Kriegsgefangenen flüchten und finden Unterschlupf bei dem „sibirischen Polen Jan Baranovitsch“.[18] In Sibirien zerbricht die Freundschaft. Alle drei Freunde können sich nach Hause durchschlagen. Trotta kehrt Ende 1918 allein heim. Der tote Kaiser liegt in der Kapuzinergruft.[19] Elisabeth Trotta arbeitet als „Kunstgewerblerin“[20]; sie ist eine „Verkehrte“[21] geworden, d. h. sie lebt in einer gleichgeschlichtlichen Beziehung mit einer Frau, Jolanth Szatmary. Trotta gelingt es, seine Ehefrau wiederzugewinnen. Die Brautnacht wird nachgeholt.[22] In der hektischen Zwischenkriegszeit bekommt Elisabeth ein Kind.[23] Trotta wird häuslich. Er liebt seinen Sohn. Elisabeth verlässt Mann und Kind.
In der „Nacht der Revolution“ knallen „Schüsse“ durch Wien. „Die Regierung schieße auf die Arbeiter“, munkelt man. „Dieser Dollfuß“ wolle „das Proletariat umbringen“.[24] Der junge galizische Musiker Ephraim Reisiger, inzwischen „Rebell“ geworden und umgekommen, wird von seinem Vater, dem Kutscher Manes Reisiger, in Wien zu Grabe getragen. Auch Graf Chojnicki und Trottas andere Wiener Freunde müssen die „Untergangssuppe“ auslöffeln. „Mit leichtfertigen Kaffeehauswitzen haben sie den Staat zerstört“.[25] Trotta wäre lieber gefallen.[26] Er sieht sich „als einen zu Unrecht Lebenden an“.[27] Die Jahre gehen dahin. Trotta schickt den Sohn zur Erziehung nach Paris.
Das „Dritte Reich“[28] lässt grüßen: Trotta sitzt mit seinen aristokratischen Freunden im Café. Ein gestiefelter und gespornter junger Mann erscheint auf der Schwelle und redet die Gäste mit „Volksgenossen!“ an; spricht von der „neuen deutschen Volksregierung“.[3] Jüdische Geschäftsleute verlassen Wien. Trotta weiß nicht, wohin er nun soll. Er will „in die Kapuzinergruft, wo seine Kaiser liegen“, doch die Gruft ist und bleibt verschlossen.[29] Die Habsburg-Legitimisten müssen ihre Hoffnungen begraben. Die Romanhandlung endet am Morgen des 12. März 1938: Hakenkreuzfahnen wurden gehisst, die Nazis übernehmen das Land.
Frau Trotta
Der Ich-Erzähler Franz Ferdinand Trotta stellt seine Mutter besonders eindringlich dar. Frau Trotta führt nach dem Tode des Gatten daheim ein strenges Regiment. Trotta duckt sich. Da kommt der Krieg. Man muss die Karten aufdecken. So gesteht die Mutter, dass sie „Elisabeth nicht leiden mag“.[30] Trotta – in Angst vor dem bevorstehenden großen Sterben – setzt seinen Kopf durch und heiratet überstürzt. Die Mutter gibt überraschend ihren Segen.[31] Der Empfang des Heimkehrers Trotta Ende 1918 durch die Mutter ist erschreckend, unfassbar und hat etwas „fast Überirdisches“: Frau Trotta erniedrigt sich vor dem Kriegsverlierer.[19] Und ihr Ende: Die Mutter stirbt, wie sie gelebt hat – mit Anstand.[32]
Die kunstvolle Darstellung dieser großartigen Frau gehört zu Joseph Roths belletristischen Meisterleistungen.
Selbstzeugnis
Roth konstatiert im Entwurf eines Prospekt-Textes, den er am 5. August 1938 an seinen Verlag übersendet, der Roman sei eine Fortsetzung des Radetzkymarsch und thematisiere „die Verschlingung Oesterreichs durch Preußen“. Und er bezeichnet die Kapuzinergruft in diesem Text als den „aktuellsten Roman dieser Zeit“.[33]
Form
Nach Doppler[34] ist Die Kapuzinergruft ein Zeitroman, in dem das Geschehen bis in die Gegenwart (März 1938) herangeführt wird. Formal handelt es sich um einen in der Ich-Form erzählten Lebensbericht eines Mitglieds der Romanfamilie Trotta. Der Ich-Erzähler nennt Ursachen, die nach Ansicht Joseph Roths zum Niedergang des Reiches führten.[25] Das Ausmalen der Kriegsgräuel unterbleibt. Das Nachkriegselend in Wien wird weitgehend humorig umschrieben. Manche Sentimentalität stört – z. B. wenn Trotta die Geheimnisse des Körpers seiner Frau erforscht.[35]
Zitate
Wörter und Wendungen
Rezeption
- Hans Natonek schreibt 1938 in der Neuen Weltbühne: „Es ist ein Roman ohne Ausweg, es sei denn in eine Gruft. Nach einem solchen Buch schreibt man schwerlich noch eines.“[40].
- Zum Romantitel bemerkt Doppler[41], die Kapuzinergruft sei der Raum, wo die Symbole der alten Welt vermodern.
- Mit dem Roman lässt der Autor sein großes Thema Österreich tief pessimistisch ausklingen.[42]
- Trotta macht eine Identitätskrise durch.[43]
- Steierwald[44] weist auf die eigenartige Fotografie des Krieges durch den Romanautor hin.
- Der Nationalsozialismus in Österreich, wie ihn Joseph Roth zum Romanschluss knapp thematisiert, wird von Steierwald[45] betrachtet.
- Die Alpentrottel, das sind die Deutsch-Österreicher, tragen nach Joseph Roth mit Schuld am Niedergang der Donaumonarchie.[46]
- Wenn sich Trotta einen Feind dieser Zeit nennt, so sieht das Müller-Funk[47] als einen Reflex auf den Triumph des Nationalsozialismus in Österreich.
- Die Todessehnsucht sei in Joseph Roths Romanen allgegenwärtig, so auch in der Kapuzinergruft.[48]
- Raffel[49] geht auf den Heimatort Galizien im Werk Joseph Roths, insbesondere in der Kapuzinergruft, ein.
- Sternburg[50] zitiert Äußerungen von Ludwig Marcuse und Franz Theodor Csokor zu dem Roman.
Verfilmung
Der Roman wurde unter dem Titel „Trotta“ von Johannes Schaaf mit András Bálint, Doris Kunstmann und Rosemarie Fendel verfilmt, die Uraufführung erfolgte am 16. November 1971.[51]
Ausgaben
- Joseph Roth: Die Kapuzinergruft. Roman. De Gemeenschap, Bilthoven (Holland) 1938. 231 S.[52]
- Joseph Roth: Romane 4. Die Kapuzinergruft. S. 9–130. Köln 1999. 297 Seiten, ISBN 3-462-02379-9
- Ausgaben
- Fritz Hackert (Hrsg.): Joseph Roth. Werke. Band 6. Romane und Erzählungen 1936–1940. Frankfurt am Main 1991. ISBN 3-7632-2988-4 [Die Kapuzinergruft ebd. S. 225–346]
- Werner Bellmann (Hrsg.): Joseph Roth: Die Kapuzinergruft. Nach dem Erstdruck 1938, mit Kommentar und Nachwort. Reclam, Stuttgart 2013. 280 Seiten, ISBN 978-3-15-018883-5
- Textausgabe bei Projekt Gutenberg-DE
Literatur
- Theo Bijovet, Madeleine Rietra: Joseph Roth und ‚De Gemeenschap‘ . In: Michael Kessler / Fritz Hackert (Hrsg.): Joseph Roth. Interpretation Rezeption Kritik. Tübingen 1990. 476 Seiten, ISBN 3-923721-45-5
- Alfred Doppler: „Die Kapuzinergruft“: Österreich im Bewußtsein von Franz Ferdinand Trotta. In: Michael Kessler / Fritz Hackert (Hrsg.): Joseph Roth. Interpretation Rezeption Kritik. Tübingen 1990. S. 91–98. ISBN 3-923721-45-5
- Elke Frietsch: Die Wiener Werkstätte als Symbol für das Ende der österreichischen Monarchie in Joseph Roths Roman „Die Kapuzinergruft“. In: Im Prisma. Joseph Roths Romane. Hrsg. von Johann Georg Lughofer. Wien/St. Wolfgang 2009. S. 403–426.
- Clemens Götze: Verklungener Radetzkymarsch. Zum Tod des habsburgischen Mythos in Joseph Roths „Die Kapuzinergruft“. In: C. G.: „Ich werde weiterleben, und richtig gut“. Moderne Mythen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Berlin 2011. S. 13–46.
- Jürgen Heizmann: Joseph Roths „Kapuzinergruft“ als Totentanz. In: L'art macabre 4 (Jahrbuch der Europäischen Totentanz-Vereinigung). Hrsg. von Uli Wunderlich. Düsseldorf 2003, ISBN 3-934862-06-3, S. 78–90.
- Wolfgang Müller-Funk: Joseph Roth. München 1989. 131 Seiten, ISBN 3-406-33160-2
- Helmuth Nürnberger: Joseph Roth. Reinbek bei Hamburg 1981. 159 Seiten, ISBN 3-499-50301-8
- Eva Raffel: Vertraute Fremde. Das östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und Arnold Zweig. Tübingen 2002.
- Ulrike Steierwald: Leiden an der Geschichte. Zur Geschichtsauffassung der Moderne in den Texten Joseph Roths. Diss. München 1992. 198 Seiten, ISBN 3-88479-880-4
- Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth. Eine Biographie. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009 (2. Aufl.), ISBN 978-3-462-05555-9.
Weblinks
- Joseph_Roth/Werkverzeichnis#Band_6
- online im Internet Archive
- Figurenlexikon zu Die Kapuzinergruft von David Thies im Portal Literaturlexikon online
Einzelnachweise
- Bijovet, Rietra S. 41–46. Arbeitstitel: Ein Mann sucht sein Vaterland
- Roth S. 13
- Roth S. 126
- Im Erstdruck von 1938 steht statt „April des Jahres 1913“ fälschlich: „April des Jahres 1914“. Vgl. dazu die Edition von W. Bellmann, S. 206.
- Roth S. 64
- Roth S. 11
- Roth S. 127
- Roth S. 12
- Roth S. 88
- Roth S. 56
- Roth S. 28
- Roth S. 58
- Roth S. 55
- Roth S. 20
- Roth S. 62
- Roth S. 70
- Roth S. 72
- Roth S. 75
- Roth S. 80
- Roth S. 83
- Roth S. 96
- Roth S. 111
- Roth S. 117
- Roth S. 123
- Roth S. 98
- Roth S. 99
- Roth S. 125
- Roth S. 128
- Roth S. 129
- Roth S. 48
- Roth S. 60
- Roth S. 122
- zitiert in der Edition von Bellmann, S. 269
- Doppler S. 92
- Roth S. 94
- Roth S. 19
- Roth S. 18
- Roth S. 92
- Roth S. 124
- 35. Jahrg., Nr. 22, S. 683; zitiert nach der Edition von Bellmann, S. 279
- Doppler S. 97
- Nürnberger S. 117
- Steierwald S. 108
- Steierwald S. 144
- Steierwald S. 169–170
- Müller-Funk S. 108
- Müller-Funk S. 110
- Müller-Funk S. 118
- Raffel S. 101
- Sternburg, S. 478, 15. Z.v.u.
- Nürnberger S. 152, Trotta in der Internet Movie Database (englisch)
- Trotz zweier kompletter Korrekturdurchgänge weist der Erstdruck zahlreiche Fehler und Inkonsequenzen auf; vgl. dazu die Edition von Werner Bellmann, S. 200–203 und 276f.