Brüderlichkeit
Brüderlichkeit (von „Bruder“), heute auch geschlechtsübergreifend Geschwisterlichkeit,[1] bezeichnet das tatsächliche oder angestrebte soziale und solidarische Verhalten in einer Gruppe oder Gemeinschaft, die nicht auf Verwandtschaft oder Heirat gründet, sondern auf einem freiwilligen Zusammenschluss von Personen. Ihre gleichgestellten Beziehungen zueinander werden durch eine gegenseitige „Verbrüderung“ geschaffen, die unterschiedliche Formen haben kann. Obwohl Brüderlichkeit im wörtlichen Sinne Frauen nicht einbezieht, bezog sich das Wort auch früher schon stellenweise auf Personen beider Geschlechter. In Bezug auf Frauensolidarität wird auch Schwesterlichkeit verwendet. In fast allen Kulturen der Welt ist das Ideal der Brüderlichkeit bekannt, im weitesten Sinne schließt es die Würde und die Gleichberechtigung aller Menschen ein, die Menschlichkeit, die Barmherzigkeit, den Pazifismus und auch die Feindesliebe (vergleiche Bruder als weltweiter Ausdruck für Freundschaft).
Der Gedanke der Brüderlichkeit stammt aus der Philosophie der Stoa (ab 300 v. Chr.) und aus dem Judentum. Auch ins Christentum wurde er übernommen. Die Brüderlichkeit wird mit der gemeinsamen Abstammung von einem Vater begründet (Patrilinearität). Im Gegensatz zum nicht-personal gedachten Gott-Vater-Begriff der Stoa wird jedoch Gott, der Vater (JHWH) als personales Gegenüber vorgestellt, das beispielsweise zu seinem auserwählten Volk spricht. Die Vaterschaft des Gottes im Christentum wird zu einer im menschgewordenen Sohn Jesus Christus vermittelten Vaterschaft, die die brüderliche Einheit im Sohn Gottes einschließt. Jesus von Nazaret selbst lehrte die Brüderlichkeit im Gebot der Nächstenliebe.
Brüderlichkeit der Stoa
Der Brüderlichkeitsbegriff in der Stoa beruht auf einem ursprünglichen, mythologischen Naturbegriff. Im Himmel wird eine welterzeugende Kraft gesehen, die zusammen mit der „Mutter Erde“ alles Leben der Welt erwirkt. In diesem Sinn kann dann der Himmel „Vater“ der Menschen heißen. Platon sieht in der ewigen transzendenten Idee des Guten den Vater und Herrn, aber deren Personalität bleibt zweifelhaft. Von einer persönlichen Beziehung zu den Geschöpfen der Welt kann keine Rede sein. Die Lehre von der Vaterschaft ist hier eine Umdeutung des alten Mythos von Zeus und Hera. Die Götter bilden lediglich die Spitze eines erhabenen Kosmos. Von einem persönlichen, zürnenden, sorgenden, verzeihenden Vater-Gott findet sich in der Stoa keine Spur.
Christliche Brüderlichkeit
Die Einswerdung mit Christus schließt die Einswerdung der Christen untereinander ein und bedeutet so die Aufhebung der trennenden natürlichen geschichtlichen Grenzen.
„Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder.“
Damit wird der große Hauptunterschied, der bisher die Welt unüberwindlich geteilt hatte, hinfällig. Der Unterschied zwischen Israel und den Heiden, zwischen Rein und Unrein, zwischen Auserwählten und Nicht-Auserwählten. Über alle ständisch-hierarchischen Ordnungen natürlich-geschichtlicher Grenzen hinweg herrscht nun der christliche Bruderbegriff.
Aufklärung und Menschenrechte
Brüderlichkeit war einerseits (als Fraternité) eine der Kampfparolen der Französischen Revolution, während die spätere Arbeiterbewegung überwiegend den Begriff der Solidarität verwendete. Andere sehen in der Brüderlichkeit eher eine ethische Tugend, die zu Friedfertigkeit, zu Toleranz, zu Versöhnung mit dem Feind und zu Hilfsbereitschaft führt. In diesem Sinne ist sie verwandt mit dem Begriff der Verbundenheit. Jeden März feiern in diesem Sinne viele Millionen Menschen die Woche der Brüderlichkeit mit Projekten und Veranstaltungen. Auch in die Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen floss der Gedanke der Brüderlichkeit ein. Er wird im ersten Artikel erwähnt, wo es heißt:
Brüderlichkeit im Marxismus
Im Marxismus findet wieder eine Unterscheidung zweier ethischer Zonen statt. Die Menschheit ist hier in einen historischen Gegensatz von Kapital und Proletariat zerfallen: Im Klassenkampf schließt die Bruderschaft der einen die Feindschaft gegen die anderen ein. Erst die Überwindung der Klassengesellschaft, die kämpferische dialektische Aufhebung von (materieller) Ungleichheit und Unterdrückung in der sogenannten klassenlosen Gesellschaft, soll die „wahre“ Einheit der Menschheit herstellen.
Woche der Brüderlichkeit
Die Woche der Brüderlichkeit ist eine nach amerikanischem Vorbild seit 1952 jährlich im März stattfindende Veranstaltung. Sie wird vom Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit ausgerichtet. Sie hat den jüdisch-christlichen Dialog und die Aufarbeitung des Holocaust zum Ziel. Im Rahmen der Veranstaltung wird seit 1968 die Buber-Rosenzweig-Medaille verliehen. Schirmherr ist der jeweilige Bundespräsident.
Siehe auch
- „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit!“ (politischer Wahlspruch)
- Blutsbrüderschaft (nachgeahmte Blutsverwandtschaft)
- Brüderschaft trinken (freundschaftliches Ritual)
- Bruderschaften/Schwesternschaften (organisierte Gemeinschaften)
- „Brüderlichkeit und Einheit!“ (Devise des Bundes der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien)
- Kongregation der priesterlichen Brüderlichkeit (katholische Ordensgemeinschaft)
- soziale Dreigliederung (Rudolf Steiner: Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben)
Weblinks
- Meldung (tmg): Vatikan nennt weitere Details zu „Fratelli tutti“: Veröffentlichungstermin der neuen Enzyklika bekannt – Titel „inklusiv“. In: Katholisch.de. 16. September 2020 (Untertitel: „über Brüderlichkeit/Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft“).
Literatur
- Hessische Landeszentrale für politische Bildung: Freiheit-Gleichheit-Schwesterlichkeit. Männer und Frauen zur Zeit der Französischen Revolution. Wiesbaden 1989 (Dokumentation einer Tagung an der Philipps-Universität Marburg vom 14.–16. Juni 1989).
- Ulrich Wickert: Das Buch der Tugenden. Hoffmann Campe, Hamburg 1995, ISBN 3-455-11045-2, S. 435 ff. (Solidarität, Brüderlichkeit und Güte).
- Franz-Xaver Kaufmann: Über die Brüderlichkeit. Rede eines demokratischen Hofnarren an ein bürgerliches Publikum. In: Karl Rahner, Bernhard Welte (Hrsg.): Mut zur Tugend. Über die Fähigkeit, menschlicher zu leben. Herder, Freiburg i. Br. 1986, ISBN 3-451-08308-6, S. 67 ff.
- Walter Bloem: Brüderlichkeit. Nachdruck. SH, Köln 2006, ISBN 3-89498-170-9 (Roman).
- Joseph Ratzinger: Die christliche Brüderlichkeit. Kösel, München 1960 (Neuauflage 2006: ISBN 3-466-36718-2).
Einzelnachweise
- Gudrun Sailer: Standpunkt: „Fratelli tutti“: Der Papst hätte ein anderes Zitat wählen sollen. In: Katholisch.de. 18. September 2020, abgerufen am 18. September 2020; Zitat: „Das deutsche Wort für Brüderlichkeit ist infolgedessen Geschwisterlichkeit, jedenfalls dort, wo Männer und Frauen gleichermaßen gemeint sind.“