Abri
Ein Abri (Maskulinum, seltener auch Neutrum; französisch abri) ist ein durch Erosion entstandener, zumeist in Tälern von Buntsandstein- oder Jurakalkgebieten gelegener Felsüberhang. Solche Unterstände werden auch Halbhöhlen genannt (englisch rock shelter), je nach Gestalt auch „Felsdach“, „Felsnische“ oder „Felsvorsprung“.
Die schweizerdeutsche Entsprechung ist Balm (abgeleitet auch „Unterstand, Schutz, Obdach“).[1][2]
Nutzung
Abris boten den Menschen früherer Zeiten Schutz vor Nässe, Kälte und Wind, weshalb sie zum einen für die Archäologie bezüglich steinzeitlicher Siedlungsspuren, zum anderen für die Zoologie zum Nachweis von Nahrungsresten oder Winterruheplätzen bestimmter Tiere von hoher Relevanz sind. In geschichtlicher Zeit wurden in Frankreich und in der Schweiz Häuser unter großen Abris errichtet und noch bis ins 20. Jahrhundert bewohnt.
Entstehung
Abris entstehen durch Auswaschung und Verwitterung der unteren Partien von Felswänden, etwa aus Buntsandstein. An freistehendem Fels führt die hygroskopische Struktur des je nach Schicht und Wasserzufuhr unterschiedlich empfindlichen Materials zu Wabenverwitterung sowie zu Absandung bei Sandsteinen. Besonders in den glazialen Phasen treten Frostverwitterung und, je nach Lage, auch Korrasionseffekte (Windabtragungen) auf. Auf gleiche Weise entstehen auch Hohlkehlen und in selteneren Fällen auch Pilzfelsen.
Buntsandstein
Im Buntsandsteingebiet des südlichen Leineberglandes zwischen den Orten Nörten-Hardenberg, Heiligenstadt und Göttingen befindet sich die größte Gruppe von Abris in Mitteleuropa. Sie finden sich in den schluchtartigen Felstälern zwischen der Leine und dem Eichsfeld oft auf engstem Raum. In einem Gebiet von rund 30 km Länge und 6 bis 10 km Breite sind heute rund 1600 Abris erfasst.
Kreidesandstein
Auch in den kreidezeitlichen Quarzsandsteinen Sachsens und Böhmens entstanden durch Verwitterung zahlreiche Abris.
Kalkstein
In Felswänden von Tälern der Kalkgebirge etwa im Südwesten Frankreichs (z. B. im Tal der Vezère) oder der fränkischen Alb (z. B. im Altmühltal) entstanden Felsvorsprünge durch die stärkere Erosion schwacher Gesteinsschichten oder durch Auskolkungen während der Talbildung.
Archäologie
Zwischen 1978 und 1998 hatte ein interdisziplinäres Erfassungs- und Untersuchungsprojekt der Göttinger Kreisarchäologie mit einer Reihe von Probegrabungen in Niedersachsen zur Auffindung von über 100 in vorgeschichtlicher Zeit bewohnter Abris geführt. Gute archäologische und geostratigrafische Befunde in den bis über zwei Meter mächtigen Sedimentlagen unter den Felsdächern ergaben sich dabei für die älteren Perioden des Jung- und Spätpaläolithikums und für das Mesolithikum. Funde aus Stein, Knochen und Geweih, gut erhaltene Feuerstellen, Gruben und Steinpflasterungen und verkohlte botanische Reste ermöglichten sehr differenzierte Momentaufnahmen zu den Lagerplätzen früher Jäger und Sammler. In aufeinander folgenden Kulturschichten gefundene Geräte (z. B. die Abri-Audi-Spitzen) bilden die Grundlagen altsteinzeitlicher Chronologien.
Die meisten Spuren unter aufgesuchten Felsschutzdächern stammen aus der letzten Kaltzeit (Weichsel-Kaltzeit). Sie dienten Jägern vielleicht als Basislager. Von einer regelrechten Sammeltätigkeit kann angesichts der Fauna kaum oder nur saisonal ausgegangen werden. Ein solcher Platz wurde eher saisonal aufgesucht, bis die größeren Herdentiere weiter zogen.
Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass die offene Seite von Abris möglicherweise mit zeltartigen Konstruktionen aus organischem Material verschlossen wurde. Feuer- und Herdstellen deuten offenbar darauf, dass auch Nahrung zubereitet wurde.
Seit 1978 werden in Nordböhmen Abris unter der Leitung des tschechischen Prähistorikers Jiří A. Svoboda archäologisch untersucht.
Bekannte Abris in Europa
Im deutschsprachigen Raum
- Deutschland
- Abris am Bettenroder Berg; besonders Abri IX, Lkrs. Göttingen
- Abri im Pfaffenholz, Altmühltal
- Allerberg bei Reinhausen (Gleichen), Lkrs. Göttingen
- Bürgertal (Abri Bürgertal IV), Lkrs. Göttingen
- Felsställe bei Ehingen (Donau), Ortsteil Mühlen
- das Geißenklösterle sowie ein Seitenteil der Sirgensteinhöhle bei Blaubeuren, Teil des UNESCO-Weltkulturerbes "Höhlen und Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb"
- Heidenschmiede in Heidenheim an der Brenz, (Mittelpaläolithikum)
- Helga-Abri, Gemarkung Schelklingen im Achtal, Feuerstellen des Magdalénien, des Spätpaläolithikum und des Frühmesolithikums
- Sesselfelsgrotte (Mittelpaläolithikum, Jungpaläolithikum) und Abri I (Gravettien und Magdalénien), beide in Neu-Essing, Niederbayern
- Stendel (Abri Stendel XVIII), bei Groß Schneen, Friedland (Niedersachsen)
- Österreich
- Schweiz
- Abri Unterkobel, St. Galler Rheintal
- Chesselgraben, Kanton Solothurn
- Schweizersbild bei Schaffhausen
Im übrigen Europa
- Frankreich
- Abri-Audi bei Les Eyzies-de-Tayac-Sireuil im Département Dordogne
- Abri de Cro-Magnon
- Abris von Les Vachons
- Grotte du Mannlefelsen (Haut-Rhin)
- Abri du Roc-aux-Sorciers in Angles-sur-l’Anglin
- Abri Pataud (Dordogne)
- Abri Blanchard (Dordogne)
- Caminade
- Cap Blanc (Abri)
- Abri Castanet
- Castel Merle
- Labattut bei Montignac-Lascaux
- La Cave
- La Madeleine (Abri)
- Abri von Roque Saint-Christophe (Dordogne)
- Le Moustier (Dordogne)
- Movius (Dordogne)
- Abri Pataud
- Abri Reverdit
- La Souquette
- Spanien
- Kloster San Juan de la Peña, Aragonien
- Setenil de las Bodegas, Andalusien
- Schottland
Amerika und Afrika
Auch die Cliff Dwellings genannten Bauten der Anasazi-Indianer im Mesa-Verde-Nationalpark im US-Bundesstaat Colorado stehen zumeist unter großen Felsvorsprüngen; gleiches gilt für viele Lehmbauten und Felsmalereien der Dogon in Mali.
Literatur
- Claus-Joachim Kind: Das Felsställe. Eine jungpaläolithisch-frühmesolithische Abri-Station bei Ehingen-Mühlen, Alb-Donau-Kreis. Die Grabungen 1975–1980 (= Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg. Band 23). Theiss, Stuttgart 1987, ISBN 3-8062-0777-1.
- Klaus Grote: Die Abris im südlichen Leinebergland bei Göttingen. Archäologische Befunde zum Leben unter Felsschutzdächern in urgeschichtlicher Zeit (= Veröffentlichungen der urgeschichtlichen Sammlungen des Landesmuseums zu Hannover. Band 43). 3 Bände. Isensee, Oldenburg 1994.
- Jiří A. Svoboda (Hrsg.): Mezolit severních Čech. Komplexní výzkum skalních převisů na Českolipsku a Děčínsku, 1978–2003. In: Dolnověstonické Studie. Band 9, Archeologický ústav Av ČR, Brno 2003, ISBN 80-86023-52-4 (tschechisch; englisch: Mesolithic of northern Bohemia. Complex excavation of rockshelters in the Česká Lípa and Děčín areas, 1978–2003).
Weblinks
Einzelnachweise
- Schweizerisches Idiotikon, Bd. 4, Sp. 1215 f.
- *balmâ ‘Grotte’. In: Uwe Friedrich Schmidt: Praeromanica der Italoromania auf der Grundlage des LEI (A und B). Band 49 von Europäische Hochschulschriften, Reihe 9 Italienische Sprache und Literatur, Verlag Peter Lang, Frankfurt a. M./Berlin/Bern 2009, ISBN 978-363158770-6, S. 160–170 (ausführlicher Überblick über die Forschung; Google eBook, vollständige Ansicht).