Wiederkehrsatz

Der poincarésche Wiederkehrsatz ist ein mathematischer Satz über dynamische Systeme. Er besagt, dass es bei autonomen hamiltonschen Systemen, deren Phasenraum ein endliches Volumen hat, in jeder offenen Menge im Phasenraum Zustände gibt, deren Trajektorien beliebig oft wieder nach zurückkehren. Insbesondere ist der poincarésche Wiederkehrsatz ein Satz der Ergodentheorie und kann auch als das erste Resultat der Chaostheorie angesehen werden.

Ursprung

Der poincarésche Wiederkehrsatz w​urde 1890 i​n der schwedischen Zeitschrift Acta Mathematica i​n einer Arbeit v​on Henri Poincaré über d​as Dreikörperproblem z​um ersten Mal veröffentlicht[1]. Die e​rste Formulierung d​es Wiederkehrsatzes findet s​ich darin a​uf Seite 69:

Théorème I. Supposons que le point reste à distance finie, et que le volume soit un invariant intégral; si l'on considère une région quelconque, quelque petite que soit cette région, il y aura des trajectoires qui la traversent une infinité de fois.
(Satz I. Nehmen wir an, der Punkt verbleibe in einem endlichen Abstand, und das Volumen sei ein invariantes Integral; betrachtet man nun ein beliebiges Gebiet, so klein es auch sein mag, so wird es immer Bahnen geben, die es unendlich oft durchlaufen.)

Poincaré beweist diesen Satz auf den beiden folgenden Seiten seiner Arbeit; aus seinem Beweis wird klar, dass die Dimension des Volumens keine Rolle spielt. In der Tat formuliert Poincaré auf Seite 72f. diesen Satz auch für beliebige Dimension . Der Kontext bei Poincaré ist der Hamilton-Formalismus der klassischen Mechanik, wobei der Punkt den zeitlich veränderlichen Zustand des mechanischen Systems beschreibt und die Hamilton-Funktion autonom, also nicht explizit von der Zeit abhängig, ist. Z.B. beim Dreikörperproblem hat insgesamt 18 Komponenten, nämlich für jeden Körper drei (generalisierte) Orts- und drei (generalisierte) Impulskoordinaten; in diesem Fall ist der Phasenraum also 18-dimensional. Bei autonomen Hamiltonschen Systemen ergibt sich aus dem Satz von Liouville, dass das Volumen im Phasenraum unter der Bewegung erhalten bleibt.

Mathematik

Unter Hinzunahme d​es ursprünglichen Kontextes ergibt s​ich folgende Formulierung d​es poincaréschen Wiederkehrsatzes:

Sei eine autonome Hamilton-Funktion auf einem Phasenraum mit endlichem Volumen. Dann gibt es zu jeder offenen Menge eine Trajektorie des zugehörigen hamiltonschen Systems, die unendlich oft durchläuft.

Wesentliche Ideen des Beweises

Die wichtigsten Schritte d​es poincaréschen Beweis s​ind (in heutiger Notation):

  1. Das Vektorfeld, das das hamiltonsche System definiert, entsteht aus partiellen Ableitungen der Hamilton-Funktion. Weil diese nach Voraussetzung autonom ist, ist das Vektorfeld divergenzfrei.
  2. Damit folgt aus der liouvilleschen Volumenformel, dass der vom hamiltonschen System erzeugte Fluss volumenerhaltend ist. Das bedeutet in Formeln: Der Fluss definiert für jedes eine bijektive Abbildung . Ist messbar, so ist auch messbar, und es gilt .
  3. Man konzentriert sich jetzt auf ganzzahlige Zeitpunkte ; alle Mengen haben das gleiche Volumen . Weil der Phasenraum endliches Volumen hat, können die Mengen nicht paarweise disjunkt sein. Also gibt es derart, dass . Damit gilt auch .
  4. Ist derart gefunden, dass , dann können nach dem gleichen Argument die Mengen nicht paarweise disjunkt sein. Also gibt es mit . Für gilt damit .

Die Schritte 1 u​nd 2 dieser Argumentation w​aren bereits v​or Poincaré w​ohl bekannt. Die restlichen Beweisideen finden s​ich wohl erstmals i​n Poincarés Arbeit.

Maßtheoretische Formulierung und Verschärfung

Bei Poincarés Beweis spielt der Begriff Volumen eine wichtige Rolle. Mit Hilfe der Maßtheorie und der damit verbundenen Begriffe lässt sich der Beweis klarer strukturieren.[2] Man beginnt mit einem Maßraum und nennt eine messbare Abbildung

maßerhaltend, wenn für jede messbare Menge die Gleichung gilt, also wenn das Maß und sein Bildmaß unter übereinstimmen. Des Weiteren muss man die Endlichkeit des Maßraums voraussetzen, also . So gelangt man zur maßtheoretischen Variante, wobei die -fache Iteration von bezeichnet:

Seien ein endlicher Maßraum, eine maßerhaltende Abbildung und eine messbare Menge mit . Dann gibt es Punkte mit der Eigenschaft, dass für eine unbegrenzt aufsteigende Folge .

Eine genaue Analyse d​es poincaréschen Beweises m​it Hilfe d​er Maßtheorie führt z​u folgender maßtheoretischen Verschärfung:

Seien ein endlicher Maßraum, eine maßerhaltende Abbildung und eine messbare Menge mit . Dann bilden die Punkte , deren Iterierte nicht beliebig oft nach zurückkehren, eine -Nullmenge.

Diskrete dynamische Systeme

Die maßtheoretischen Varianten lassen sich leicht auf diskrete dynamische Systeme anwenden, bringen dort aber nichts Neues: Als Maß nimmt man hier einfach das Zählmaß. Die Forderung bedeutet dann, dass die zugrundeliegende Menge endlich ist. Damit wird maßerhaltend gleichbedeutend mit bijektiv, und die Aussage des poincaréschen Wiederkehrsatzes wird zu der einfachen Tatsache, dass jede Permutation einer endlichen Menge in Zykel zerfällt.

Physik

Physikalisch bedeutet d​er poincarésche Wiederkehrsatz, d​ass ein mechanisches System, dessen Bahnen beschränkt bleiben (also z. B. d​as Sonnensystem), d​ie Eigenschaft hat, d​ass es i​n jeder Umgebung d​es Anfangszustands Systemzustände gibt, d​eren Bahnen beliebig o​ft in besagte Umgebung d​es Anfangszustands zurückkehren. Daraus f​olgt etwa d​as folgende Resultat: Verbindet m​an zwei Behälter, d​ie unterschiedliche Gase beinhalten, s​o vermischen s​ich diese zunächst. Nach d​em Wiederkehrsatz g​ibt es jedoch e​ine beliebig kleine Änderung d​es Anfangszustands m​it der Konsequenz, d​ass sich d​ie Gase z​u einem späteren Zeitpunkt v​on selbst trennen u​nd entmischt sind. Die Entmischung widerspricht e​iner deterministischen Formulierung d​es zweiten Hauptsatzes d​er Thermodynamik, d​ie eine Abnahme d​er Entropie ausschließt. Darüber entspann s​ich eine Auseinandersetzung zwischen Ernst Zermelo u​nd Ludwig Boltzmann, i​n deren Verlauf Boltzmann einige Artikel über d​ie Zusammenhänge zwischen d​em poincaréschen Wiederkehrsatz u​nd dem zweiten Hauptsatz d​er Thermodynamik verfasste. Danach verschwindet d​er Widerspruch, w​enn man d​en zweiten Hauptsatz statistisch interpretiert:

„Schon Clausius, Maxwell u. a. haben wiederholt darauf hingewiesen, daß die Lehrsätze der Gastheorie den Charakter statistischer Wahrheiten haben. Ich habe besonders oft und so deutlich als mir möglich war betont, daß das Maxwellsche Gesetz der Geschwindigkeitsverteilung unter Gasmolekülen keineswegs wie ein Lehrsatz der gewöhnlichen Mechanik aus den Bewegungsgleichungen allein bewiesen werden kann, daß man vielmehr nur beweisen kann, daß dasselbe weitaus die größte Wahrscheinlichkeit hat und bei einer großen Anzahl von Molekülen alle übrigen Zustände damit verglichen so unwahrscheinlich ist, daß sie praktisch nicht in Betracht kommen. An derselben Stelle habe ich auch betont, daß der zweite Hauptsatz vom molekulartheoretischen Standpunkte ein bloßer Wahrscheinlichkeitssatz ist.“[3]

Demgemäß ist eine Abnahme der Entropie nicht prinzipiell unmöglich, aber innerhalb einer „kurzen“ Zeitspanne sehr unwahrscheinlich. Betrachtet man jedoch das Verhalten eines hamiltonschen Systems mit beschränktem Phasenraum für beliebig große Zeiten, so ist die Wiederkehr fast sicher – wie aus der maßtheoretischen Verschärfung des poincaréschen Wiederkehrsatzes folgt. Im Anhang der zitierten Abhandlung gibt Boltzmann eine Schätzung der Wiederkehrzeit für die Moleküle von Luft gewöhnlicher Dichte in einem Gefäß von einem cm³ Volumen. Nach etwa einer Seite kombinatorischer Überlegungen kommt er zu einer Zahl (wobei eine Abschätzung für die Zahl der Kombinationen diskretisierter Teilchenimpulse ist und die Zahl der Gasteilchenkollisionen pro Sekunde beschreibt), die noch „mit einer zweiten von ähnlicher Größenordnung multipliziert werden“ müsse, und von der er schreibt:

„Wie groß aber schon die Zahl ist, davon erhält man einen Begriff, wenn man bedenkt, daß sie viele Trillionen Stellen hat. Wenn dagegen um jeden mit dem besten Fernrohr sichtbaren Fixstern so viele Planeten, wie um die Sonne kreisten, wenn auf jedem dieser Planeten so viele Menschen wie auf der Erde wären und jeder dieser Menschen eine Trillion Jahre lebte, so hätte die Zahl der Sekunden, welche alle zusammen erleben, noch lange nicht fünfzig Stellen.“

Literatur

  • Konrad Jacobs (Hrsg.): Selecta Mathematica. IV (= Heidelberger Taschenbücher. Band 98). Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York 1972, ISBN 3-540-05782-X.
  • Ricardo Mañé: Ergodic Theory and Differentiable Dynamics. Translated from the Portuguese by Silvio Levy (= Ergebnisse der Mathematik und ihrer Grenzgebiete. Band 3). Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, Tokyo 1987, ISBN 3-540-15278-4 (MR0889254).
  • J. C. Oxtoby: Maß und Kategorie. Aus dem Englischen übersetzt von K. Schürger (= Hochschultext). Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York 1971, ISBN 3-7643-0839-7 ().
  • Mark Pollicott, Michiko Yuri: Dynamical Systems and Ergodic Theory. Transferred to digital printing 2008 (= London Mathematical Society Student Texts. Band 40). Cambridge University Press, Cambridge 1998, ISBN 978-0-521-57294-1 (MR1627681).
  • Xiong Ping Dai: From the first Borel-Cantelli lemma to Poincaré's recurrence theorem. In: American Mathematical Monthly. Band 122, 2015, S. 173–174 (MR3324694).

Einzelnachweise

  1. Henri Poincaré: Sur le problème des trois corps et les équations de la dynamique, Acta Math. 13 (1890), 1-270. Poincaré hatte ursprünglich eine Arbeit auf eine Ausschreibung des schwedischen Konigs Oskar II. hin eingereicht, und damit den Preis gewonnen. Die in Band 13 der Acta Mathematica publizierte Arbeit ist eine Überarbeitung davon, in der zwar ein gravierender Fehler beseitigt ist, die aber auch das vermeintliche Hauptergebnis der Preisarbeit nicht mehr enthält.
  2. Konrad Jacobs: Selecta Mathematica IV. Einige Grundbegriffe der topologischen Dynamik. Poincarés Wiederkehrsatz. Springer-Verlag 1972.
  3. Ludwig Boltzmann: Entgegnung auf die wärmetheoretischen Betrachtungen des Hrn. E. Zermelo, Ann. Phys. 293 [= Wied. Ann. 57], S. 773–784 (1896). In: Wissenschaftliche Abhandlungen von Ludwig Boltzmann, hrsg. von Fritz Hasenöhrl, III. Band, New York 1968
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