Susanne Kriemann
Susanne Kriemann (* 1972 in Erlangen) ist eine deutsche Künstlerin und Professorin. Ihre Arbeit ist von der Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie im sozialhistorischen und archivalischen Kontext gekennzeichnet und wurde unter anderem im Fotomuseum Winterthur, in der Berlinischen Galerie und im Museum of Contemporary Art in Chicago ausgestellt.
Leben und Werk
Nach Abschluss ihres Kunststudiums an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart, 1997, wo sie von Joseph Kosuth und Joan Jonas unterrichtet wurde, nahm Susanne Kriemann 2000 am Programme de recherche an der École nationale supérieure des beaux-arts de Paris teil. Die Künstlerin hat an unterschiedlichen Artist-in-Residence-Programmen teilgenommen, unter anderem in Moskau, Stockholm, Kairo und Wien. Gemeinsam mit Aleksander Komarov gründete sie die Künstlerinitiative AIR Berlin Alexanderplatz. Sie wird durch die Galerien Wilfried Lentz (2008–2020) und RaebervonStenglin (2009–2016) vertreten.
Susanne Kriemanns künstlerische Praxis ist durch einen erweiterten Fotografie-Begriff gekennzeichnet. Dabei wird das Aufzeichnen als fotografisches Prinzip unter den Aspekten der Temporalität und der materiellen Prozesshaftigkeit innerhalb spezifischer sozialhistorischer Kontexte untersucht. Ihre Arbeitsmethoden reichen von der Recherche in Archiven über Feldforschung bis hin zur Anwendung verschiedener fotografischer Aufnahme- und Druckverfahren.
Die fortlaufende Arbeit Pechblende (seit 2014) befasst sich mit dem Abbau des Minerals Uraninit zur Urangewinnung in den Jahren 1946–1991 durch die SDAG Wismut im Erzgebirge auf dem Gebiet der DDR. Dieser hatte maßgeblich zur nuklearen Aufrüstung der UdSSR beigetragen. Die Strahlung des Minerals besitzt die Eigenschaft, fotosensitives Papier bei direktem Kontakt zu belichten. Auf diese Weise entstand eine Reihe Autoradiographien, bei denen das Mineral selbst gewissermaßen zur „Kamera“ wurde.
Als Fortentwicklung entstand die Arbeit Falsche Kamille, Wilde Möhre, Bitterkraut (2016). Der Titel benennt drei Pflanzenarten, die auf dem für 100.000 Jahre als verseucht geltenden, ehemaligen Gelände der SDAG Wismut wachsen. Von ihnen fertigte Kriemann in zwei Zyklen Fotogramme (Zyklus 1) und Heliogravüren (Zyklus 2) an. Für Zyklus 1 trocknete sie einige dieser Pflanzen, um von ihnen mit dem Blitz ihres Smartphones in der Dunkelkammer Fotogramme herzustellen und sie anschließend zu Pigmenten zu verarbeiten. Diese dienten als Druckfarbe für zugehörige Farbfelder und eine Liste an Rohstoffen, die in den jeweiligen Pflanzen gefunden wurden, darunter Gadolinium, Uran, Aluminium, Kupfer, Nickel und Zink, die zur Produktion von Smartphones, Kameralinsen und LEDs verwendet werden. Für Zyklus 2 hatte sie Pflanzen auf dem Gelände fotografiert und anschließend Heliogravüren mit den Pigmenten der jeweiligen Pflanzen angefertigt. Bildgegenstand und Bildmaterial fallen somit zusammen.
Ein ähnliches Prinzip verfolgt die Arbeit Duskdust (2014–2016), eine Siebdruck-Serie einer stillgelegten Kalkstein-Mine auf der Halbinsel Furillen in Gotland, Schweden, der einige Gesteine entnommen und zu einem Pigment gemahlen wurden, um auf diese Weise das fotografierte Material selbst zum Bildträger zu machen.
Die Arbeit Ray (2013) markiert eine neue Phase der Auseinandersetzung mit der Welt als Analogon zur Fotografie, im Sinne eines „Rekorders“ von durch Menschen ausgelöste ökologische Prozesse. So setzte sich Ray mit radioaktiv strahlenden Seltenen Erden auseinander, die heute essentiell für die Herstellung von Smartphones und LED-Lichtern sind. In den späten 1880er-Jahren wurden sie im Lake Buchanan der Barringer Hill Mine in Llano, Texas intensiv erforscht. Im Rahmen einer Recherchereise 2013 erkundete Kriemann den See, auf dessen Grund die Seltenen Erden lagern, unter dem Gesichtspunkt seiner fotografischen Anlage als optische Linse für die darunter liegende Mine, in der sich das Sonnenlicht bricht.
Während hier die Mine im Sinne einer materiellen Archäologie ökologischer, ökonomischer, politischer und chemischer Prozesse begriffen wird, befasste sich Kriemann in Ashes and broken brickwork of a logical theory (2009–2010) mit tatsächlichen archäologischen Ausgrabungsstätten. Aufnahmen aus dem fotografischen Archiv der Schriftstellerin Agatha Christie werden Fotografien und Luftaufnahmen Susanne Kriemanns von der Syrischen Wüste und Ausgrabungsstätten in Mesopotamien gegenübergestellt. Als Fotografin für das British Museum nahm Agatha Christie an archäologischen Exkursionen 1928 im Nordirak und 1930 in Syrien teil – Aufenthalte, die ihr auch als Inspiration für Romane wie Mord im Orient-Express dienten. Es ging den Archäologen in dieser Zeit nicht mehr nur darum, spektakuläre Funde zu machen, sondern die kleinteiligen Ausgrabungsstücke zu klassifizieren und zu einem schlüssigen Bild der Vergangenheit zusammenzufügen. Zugleich gab es zur Zeit der Ausgrabungen heftige Anti-koloniale Auseinandersetzungen vor Ort mit teils blutigen Folgen.[1] Durch die Sammlung aus historischen Bildern und Aufnahmen Kriemanns, die in einem Künstlerbuch und drei Ausstellungen im KIOSK, Gent, im Künstlerhaus Stuttgart und der Berlinischen Galerie präsentiert wurden, werden historische Dokumente in ein neues Ordnungssystem gebracht und somit auch die Konstruktion von Geschichte unter dem Aspekt der kolonialen Herrschaft über die Geschichtsschreibung reflektiert.
Ausgangspunkt für ihre Arbeit One Time One Million (2006–2009) ist eine Ross HK7 Hasselblad-Kamera aus dem Jahr 1942, die Kriemann mit zugehörigen, alten Filmen aus den 1940er-Jahren während eines Rechercheaufenthaltes in Stockholm auf einer Auktion erworben hatte. Victor Hasselblad hatte dieses Modell im Auftrag der Schwedischen Armee basierend auf einer deutschen Luftüberwachungskamera 1940 entwickelt. Mit der historischen Ausrüstung fertigte Kriemann Helikopteraufnahmen von den Siedlungen Tensta und Rinkeby am Rand von Stockholm an, die 1964–1974 in der Zeit der Wohnungsknappheit als „Millionenprogramm“ Raum für eine Million Menschen schuf und heute zu einem Ort globaler Migrationsbewegungen geworden ist. Diesen Aufnahmen stellt sie in einer Installation und einem von Roma Publications verlegten Künstlerbuch ornithologische Fotografien Victor Hasselblads aus dem Archiv der Hasselblad Foundation und Aufnahmen von Militärflugzeugen aus dem Schwedischen Militärarchiv entgegen.
Der Titel der Installation und des Künstlerbuchs 12 650 000 (2005–2008) bezieht sich auf das Gewicht in Kilogramm des 1940–1941 gebauten Schwerbelastungskörpers in Berlin, der dem Architekten Albert Speer als Testkörper für einen gigantischen Triumphbogen diente, der als Südtor für die von Adolf Hitler konzipierte „Welthauptstadt Germania“ geplant war. Der Massivität dieses historischen Dokuments begegnet Kriemann mit fotografischem und schriftlichem Archivmaterial aus der Presse, das seit 1950 in zum Teil abweichenden Ergebnissen die materielle Existenz des Schwerbelastungskörpers zu fassen versucht.
Die Arbeitsweise Kriemanns, archivalisches Material in ihre Arbeit zu integrieren und die technischen Voraussetzungen für die Herstellung von Fotografie zu untersuchen, folgt der Fragestellung, wer der Initiator von Fotografien ist und unter welchen historischen Bedingungen sie entstehen. So ist ihre Herangehensweise an Fotografie weniger vom Abbilden, sondern vielmehr von einem Interesse an der Fotografie als technisches Werkzeug für die Herausbildung von Geschichte geprägt.
Neben internationalen Ausstellungen in Städten wie Basel, Toronto, Shanghai, Wien, Vancouver, Paris und Rotterdam sind seit 1998 sechzehn Künstlerbücher als Multiples entstanden. Diese sind als integraler Bestandteil der Arbeit Susanne Kriemanns zu begreifen und entstehen in enger Zusammenarbeit mit den Designerinnen und Designern sowie den Autorinnen und Autoren. Als ortsunabhängige, verfügbare Archive überführen sie die Arbeit in ein anderes Format, das die Künstlerin als dunkle Kammer beschreibt, die beim Aufklappen und Durchblättern die Seiten belichtet.
Seit 2017 ist Susanne Kriemann Professorin für Künstlerische Fotografie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Sie lebt und arbeitet in Berlin und Karlsruhe.
Ausstellungen (Auswahl)
- 2018: Canopy Canopy, CCA Wattis Institute for Contemporary Art, San Francisco, USA.
- 2017: Dyeing untill the water runs clean, Kunstforum Baloise, Basel, CH.
- 2013: Modelling (Construction School), Arnolfini, Bristol, UK; Het Licht, RaebervonStenglin, Zürich, CH.
- 2012: Everything was soulful and all souls were one, Wilfried Lentz, Rotterdam, NL; Het Licht, KASK, De Zwarte Zaal Gent, BE; Cold Time, Kunstverein Braunschweig, Braunschweig, D.
- 2011: A Silent Crazy Jungle Under Glass, Kunsthalle Winterthur, Winterthur, CH.
- 2010: Ashes and broken brickwork of a logical theory, RaebervonStenglin, Zürich, CH, Berlinische Galerie, Berlin, D, KIOSK, Gent, BE.
- 2009: One Time One Million (Migratory Birds Romantic Capitalism), Stedelijk Museum Bureau, Amsterdam, NL.
- 2007: The originality of the avant-garde and other modernist myths, Projectstudio, Berlin, Germany.
- 2004: TCM – The Quiet American, Städtische Galerie Erlangen, Erlangen, Germany.
Stipendien
Publikationen (Auswahl)
- Susanne Kriemann: Ge(ssenwiese) K(angisberg) Library for radioactive afterlife, Spector Books, Leipzig 2020, ISBN 978-3-95905-336-5.
- Susanne Kriemann: P(ech) B(lende) Library for radioactive afterlife, Spector Books, Leipzig 2016, ISBN 978-3-95905-099-9.
- Susanne Kriemann: Duskdust, Sternberg Press, Berlin New York 2016, ISBN 978-3-95679-236-6.
- Susanne Kriemann: RAY, Roma publications, Amsterdam 2014, ISBN 978-9491843198.
- Hilke Wagner, Axel Wieder (Hrsg.): Susanne Kriemann. Sternberg Press, Berlin 2013, ISBN 978-3-943365-69-6.
- Susanne Kriemann: Reading. Sternberg Press, Berlin 2011, ISBN 978-1-934105-49-8.
- Susanne Kriemann: ONE DAY. Witte de With Publishers, Rotterdam 2010, ISBN 978-90-73362-95-6.
- Susanne Kriemann: Ashes and Broken Brickwork of a Logical Theory. Roma Publications, Amsterdam 2010, ISBN 978-90-77459-44-7.
- Thomas Köhler (et al.), Susanne Kriemann. Kerber Verlag, Bielefeld 2010, ISBN 978-3-86678-466-6.
- Susanne Kriemann: One Time One Million. Roma Publications, Amsterdam ISBN 978-90-77459-35-5.
- Susanne Kriemann: 12650. A Prior Magazine, Bruxelles 2008.
- Susanne Kriemann: Not Quite Repilca. Rotterdam 2006, ISBN 90-810795-1-4.
Weblinks
- Susanne Kriemanns offizielle Homepage
- Werke von Susanne Kriemann bei RaebervonStenglin
- CV von Susanne Kriemann (PDF-Datei; 117 kB) bei Wilfried Lentz
- Susanne Kriemann im Mousse Magazine
- Künstlerinitiative AIR Berlin Alexanderplatz
Einzelnachweise
- Axel John Wieder: Susanne Kriemann: Ashes and Broken Brickwork of a Logical Theory. 2010.
- Senatsverwaltung für Kultur und Europa (Suchfunktion). berlin.de, abgerufen am 12. September 2017.