Staatsräson
Der Begriff der Staatsräson [ˈʃtaːtsrɛzõː] (auch Staatsraison) bedeutet das Streben nach Sicherheit und Selbstbehauptung des Staates mit beliebigen Mitteln. Nach Wolfgang Kersting stellt er eine „Rangordnungsregel für Interessens- und Rechtskollisionen“ dar. Damit ist zumeist die klassische Dreiheit „voluntas, necessitas und utilitas“ („Wille, Notwendigkeit, Nützlichkeit“) als Legitimationsgrößen staatlicher Handlungen gemeint.
In diesem Sinn ist die Staatsräson ein vernunftgeleitetes Interessenskalkül einer Regierung, unabhängig von der Regierungsform, und einzig der Aufrechterhaltung des funktionierenden Staatsgebildes verpflichtet. Dabei besteht die tendenzielle Gefahr, dass die Staatsmacht zum Selbstzweck wird und der Staatsapparat zum Staat im Staate.
Definitionen
Der Brockhaus von 1923 weist kein Stichwort „Staatsräson“ auf, sondern sieht Wesen, Zweck und Aufgaben des Staates nur gemäß zahlreichen Theorien („Machttheorie“, „organ. Staat“, „Rechtstheorie“ u.a) begründet.[1] Ebenso wenig verwenden Lexika der DDR von 1969 und 1973 den Begriff, die den Staat definieren als „Organ der Klassenherrschaft“, entscheidendes „Machtinstrument der herrschenden Klasse“, deren „Herrschaft er durch die Staatsmacht durchsetzt und sichert“, „indem diese den Widerstand ihrer Klassengegner unterdrückt“ und aus einem „System von Institutionen und Formationen bewaffneter Menschen“ bestehe.[2] Der sozialistische Staat sei folglich „seinem Klassenwesen nach Diktatur des Proletariats“ und der sozialistische Staatsapparat diene „dem im Interesse des Volkes liegenden gesellschaftlichen Fortschritt.“[3] So wurde verbrämt, dass die Macht der SED als Staatsräson gesetzt und die „Partei“ zum Tiefen Staat geworden war.
In westlichen Gesellschaften hingegen gibt es immerhin ein Bewusstsein der Problematik: Staatsräson als „Grundsatz, daß die Verwirklichung des Staatswohl, der Machterhaltung und -erweiterung Maßstab und Maxime staatl. Handelns seien.“ Für Machiavelli und den Absolutismus gelte, „daß der Staat beim Gebrauch der für die Selbsterhaltung notwendigen Macht keine Rücksicht auf das geltende Recht oder die herrschende Moral zu nehmen brauche.“[4]
Das Lexikon der Politik definiert den Begriff „Staatsräson“ als ein „in der italienischen Renaissance (vor allem Machiavelli) erstmals auf den Begriff gebrachtes, grundsätzliches Orientierungs- und Handlungsprinzip, welches die Erhaltung des Staates bzw. der staatlichen Autorität und/oder sogar deren Steigerung zur entscheidenden politischen Maxime erklärt. […]“[5]
Alternativ bietet das Wörterbuch zur Politik drei verschiedene Definitionen der Staatsräson:
- Als erstes wird Staatsräson als „Vorrang der Staatsinteressen vor allen anderen Interessen“ interpretiert,
- eine zweite Definition sieht Staatsräson als „Staatsnotwendigkeit, im Gegensatz zur individuellen Vernunft und Notwendigkeit“.
- Eine dritte Unterscheidung erkennt in ihr einen „Grundsatz, dem zufolge oberster Maßstab staatlichen Handelns die Wahrung und Vermehrung des Nutzens des Staates ist, auch unter Inkaufnahme der Verletzung von Moral- und Rechtsvorschriften“.
Begriffsgeschichte
Als bedeutendster Verfechter der Idee der Staatsräson gilt unbestritten der florentinische Staatsdenker Niccolò Machiavelli. Dieser verklausuliert jedoch die als Arkanwissen geltende Strategie der Herrschaftserhaltung, indem er sich der nicht ganz eindeutigen Begriffskonstruktion mantenere lo stato bedient – also von der Aufrechterhaltung des Staates (auch Zustandes der Herrschaft/Regierung) spricht. Demgegenüber ist sein Landsmann Giovanni Botero rund 60 Jahre nach Machiavellis Tod als geistiger Urheber des Begriffes der Staatsräson in die Geschichtsbücher eingegangen. In seiner epochalen Schrift Della Ragion di Stato 1589 hat Botero als erster (bereits kritisch[4]) den Versuch unternommen zu definieren, was unter Staatsräson im Sinne der zeitgenössischen ragion di stato zu verstehen sei. Botero bezeichnet den Staat als eine „auf Dauer gestellte Herrschaft über ein Volk“ und die Staatsräson als „Kenntnis der Mittel, die zur Gründung, Erhaltung und Erweiterung dieser Herrschaft vonnöten sind.“
In Deutschland wurde der Begriff der Staatsräson erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges in den politischen Diskurs eingeführt. Er trug der Tatsache Rechnung, dass die einzelnen deutschen Fürsten nunmehr jeweils absolutistisch in Nachahmung des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. regierten, den Kaiser nur noch formell anerkannten und auch alle religiösen und moralischen Fragen selbst entschieden. Joseph von Eichendorff schreibt, dass „die sogenannte ‚Staatsraison‘, ein diplomatisches Schachspiel verhüllter Intentionen“, damals „in der Politik an die Stelle der christlichen Moral“ getreten sei.[6] Er stellt Herzog Anton Ulrich von Braunschweig (1633–1714) als literarischen Protagonisten der Staatsräson vor: Der Herzog, welcher Braunschweig gewaltsam erobert und dann zum Zweck des Erwerbs von Köln den Glauben gewechselt hatte, schrieb voluminöse Geschichtsromane, in denen die „Hofräthsel“ der braunschweigischen Diplomatie allegorisch verschlüsselt dargestellt wurden.
Nationalsozialistischer und stalinistischer Staatsterror haben die Orientierung an der Staatsräson in Misskredit gebracht.[4]
Dennoch entwickelte in den 1970er Jahren Henry Kissinger für die USA eine Realpolitik, die Interessen über Werte stellte und Verbündete nicht nach ihrer Menschenrechtsbilanz beurteilte,[7] wodurch der Begriff wieder auflebte.[4]
Der Terminus der Staatsräson, auch ratio status, ragione di stato, raison d’état oder reason of state genannt, ist zum Synonym für eine politische Klugheitslehre, eine Strategie des prudenter loco et tempore („mit praktischem Verstand für Ort und Zeit“) geworden.
Kritik
Giovanni Botero hielt zwar die Staatsräson für einen Zweck, der die Mittel heilige, schränkte dies aber insofern ein, als er im Gegensatz zu Machiavelli den Staat auf christliche Prinzipien verpflichtete. Die neuzeitlichen Vertreter der Naturrechtslehre stellten das Naturrecht über den Staat und damit die Staatsräson. Immanuel Kant stellte der Staatsräson das Prinzip der Gerechtigkeit gegenüber.[4]
Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland?
Die Idee der Staatsräson ist der Philosophie des deutschen Grundgesetzes diametral entgegengesetzt, das Menschen – und nur ihnen – einen primären und unantastbaren Rechtsstatus zugesteht und nur dort Notwendigkeit zur Regulierung sieht, wo es Interessenkonflikte zwischen Menschen gibt. Dem Staat selbst wird kein Rechtsstatus zugestanden, der einem Menschen ebenbürtig oder sogar überlegen wäre.
Die Idee der Staatsräson aber sieht den Staat als mindestens ebenbürtig, wenn nicht höherwertig gegenüber dem Menschen an, so dass es nach dieser Philosophie im Falle von Konflikten zu Entscheidungen kommen kann, die den abstrakten Staat bevorteilen, konkrete Menschen aber benachteiligen. Zugespitzt in den Worten des Staatsrechtlers Helmut Rumpf: „In der liberalen und naturrechtlichen Denktradition steht die Idee der Staatsräson im Gegensatz zur Idee des Rechts und des Rechtsstaats, sind Staatsräson und Rechtsstaat feindliche politische Leitbegriffe.“[8] Das „politische Problem der Staatsräson“ gebe es zwar noch, doch sei sie ein Begriff von „historischer Konkretheit“ und habe „anderen tragenden Begriffen Platz gemacht“.[9]
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland postuliert mit Artikel 1 die Würde des Menschen als unantastbar und begründet mit der Aufzählung der Grundrechte[10] in den folgenden Artikeln einen Neuanfang, der nach der Stunde Null angesichts der deutschen Geschichte bitter notwendig war und deshalb auch die Idee einer Staatsräson unbedingt verbannen sollte. Die Raison d’Être (Existenzberechtigung) des neuen, demokratischen, rechtsstaatlichen und sozialen Staates[11] sollte das Wohl der Menschen sein, wozu als bindende Verpflichtung aus der deutschen Geschichte gerade auch die Bekämpfung des Antisemitismus und die Sicherung des jüdisches Leben gehören, zumindest in Deutschland und möglichst darüber hinaus.
Zwar hatten die Siegermächte eine Entnazifizierung vorgenommen, doch war diese nur äußerlich und zu kurz durchgeführt, denn Konrad Adenauer bemühte sich mangels „sauberen Wassers“ mit schmutzigem weiß zu waschen und den neuen Staat aufzubauen. Hans Globke und Reinhard Gehlen sind nur die eklatantesten Beispiele dafür, dass die staatlichen Posten wieder mit alten Nazis besetzt wurden. Auch die kaum belangte Justiz stellte bei der Fortsetzung der Karrieren kein Hindernis dar. Zumindest bis 1969 (Kanzlerschaft Kurt Kiesingers) hatte sich am Staatsapparat und seiner Staaträsons-Mentalität nicht Wesentliches geändert. Jahrzehntelang war von einer Staatsräson in der Bundesrepublik Deutschland nicht die Rede. Weder Gewährenlassen und Zusammenarbeit im NSU-Komplex[12][13], noch die weiter fortgesetzte Anwendung von Sanktionen gegen Alg-II-Beziehende trotz höchstrichterlich beanstandeter Menschenrechtswidrigkeit[14][15] wurden damit in Verbindung gebracht.
Erst Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ausdrücklich den Begriff Staatsräson verwendet. Bei einem Staatsbesuch sagte sie am 18. März 2008 in ihrer Rede vor dem israelischen Parlament: „Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“[16][17] Und am 10. Oktober 2021 bei ihrem Abschiedsbesuch in Israel bekräftigte sie das nochmals: „… die Sicherheit Israels ist Teil unserer Staatsräson und demnach müssen wir auch handeln, selbst wenn wir unterschiedlicher Meinung in verschiedenen Einzelfragen sind.“[18] So steht Deutschland regelmäßig bei Auseinandersetzungen in der UNO zuverlässig an der Seite Israels und unterstützt es ebenso auch gegenüber dem Iran.[19] Zur Unterstützung dient vor allem aber auch die Lieferung von Rüstungsmaterial an Israel.[19]
Literatur
- Hans-Christian Crueger: Die außenpolitische Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland: Theoretische Grundlagen und politikwissenschaftlicher Diskurs. Duncker & Humblot; 1. Aufl. 2012, ISBN 978-3-428-13785-5. (Dissertation, zugleich „Beiträge zur politischen Wissenschaft, Band 171“)[20]
- Klaus Dieter Wolf: Staatsräson in der Bundesrepublik Deutschland. In: Kurt Graulich, Dieter Simon (Hrsg.): Terrorismus und Rechtsstaatlichkeit – Analysen, Handlungsoptionen, Perspektiven. Berlin 2007, Akademie Verlag, ISBN 978-3-05-004306-7.
- Herfried Münkler: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsräson in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1987.
- Herfried Münkler: Staatsräson und politische Klugheitslehre. In: Iring Fetscher, Herfried Münkler (Hrsg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen. Band 3, München / Zürich 1985, ISBN 3-492-02953-1.
- Wolfgang Kersting: Niccolò Machiavelli. Beck, München 2006, ISBN 978-3-406-54128-5.
- Maurizio Viroli: From politics to reason of state : the acquisition and transformation of the language of politics, 1250–1600. Cambridge University Press, Cambridge, New York 1992, ISBN 0-521-41493-8.
- Roman Schnur (Hrsg.): Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs. Berlin 1975.
- Friedrich Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der Neueren Geschichte. 1924. (Hrsg. und eingeleitet von Walther Hofer. Friedrich Meinecke Werke; Band 1. R. Oldenbourg, München 1957).
- Carl Joachim Friedrich: Die Staatsraison im Verfassungsstaat. Freiburg 1961.
- Peter Nitschke: Staatsräson kontra Utopie. Von Thomas Müntzer bis Friedrich II. von Preußen. Stuttgart / Weimar 1995.
- Dieter Nohlen (Hrsg.): Kleines Lexikon der Politik. Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-51062-5.
- Nicolas Stockhammer: Das Prinzip Macht. Die Rationalität politischer Macht bei Thukydides, Machiavelli und Michel Foucault. Nomos, Baden-Baden 2009, ISBN 978-3-8329-2801-8.
- Stefanie Kristina Werner: Staatsräson, in: Bildhandbuch zur politischen Ikonographie. Hrsg. von Martin Warnke, München 2011, ISBN 978-3-406-57765-9.
Medien
- Gespräch mit Dick Marty: „Dick Marty, was soll die Unvernunft der Staatsräson?“ aus der SF-Reihe „Sternstunde Philosophie“ / Erstsendung am 15. Juni 2008 (Hinweis beim Schweizer Fernsehen)
- Erich Mühsam: Staatsräson. Ein Denkmal für Sacco und Vanzetti. Drama in 15 Akten. UA 1928.
Weblinks
- Literatur zum Thema Staatsräson im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Einzelnachweise
- Brockhaus Handbuch des Wissens in vier Bänden. Leipzig 1923, 4. Band S. 245 f.
- Meyers Kleines Lexikon. 3. Band, Leipzig 1969, S. 469.
- Kleines Politisches Wörterbuch. Berlin 1973, S. 813–815.
- Meyers Grosses Taschenlexikon. Band 21, Mannheim / Wien / Zürich 1981, S. 45.
- Dieter Nohlen (Hrsg.): Kleines Lexikon der Politik. Art. „Staatsräson“, Beck, München 2007.
- Joseph von Eichendorff: Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zum Christenthum. 2. Auflage. Schöningh, Paderborn 1866, S. 52.
- Russell Crendall: America's Path from Malaise to Primacy. In: Survival. Band 59, Nr. 1 (Februar-März 2017), S. 149–160, 151 f.
- Helmut Rumpf: Die Staatsräson im Demokratischen Rechtsstaat. In: Der Staat. Band 19, Nr. 2. Duncker & Humblot, Berlin 1980, S. 273–292, JSTOR:43641290.
- Roman Schnur: Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs. 1975. zit.nach: Helmut Rumpf: Die Staatsräson im Demokratischen Rechtsstaat. Duncker & Humblot, Berlin 1980.
- GG Art. 1–17.
- GG. Art. 20.
- Hajo Funke, Micha Brumlik: Auf dem Weg zum „tiefen Staat“? Die Bundesrepublik und die Übermacht der Dienste. Blätter für deutsche und internationale Politik. Nr. 8, 2013, S. 77–84.
- Rechtsextremismus „arg unterschätzt“: Verfassungsschutzchef vergibt schlechte Noten für NSU-Aufklärer. MiGAZIN, 25. Oktober 2016.
- Wolfgang Nešković, Isabel Erdem: Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV – Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht. In: Die Sozialgerichtsbarkeit. Nr. 3, 2012, ISSN 0943-1462, S. 134–140.
- Tief besorgt über soziale Missstände in Deutschland auf sueddeutsche.de
- Bundesakademie: Konferenz: Die Bedeutung von „Staatsräson“ am 9. Juni 2015., abgerufen am 18. Oktober 2021.
- Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vor der Knesset am 18. März 2008 in Jerusalem., abgerufen am 18. Oktober 2021.
- Tagesschau: Merkel in Israel am 11. Oktober 2021
- Markus Kaim: Israels Sicherheit als deutsche Staatsräson: Was bedeutet das konkret? bei Bundeszentrale für politische Bildung am 30. Januar 2015. Abgerufen am 19. Oktober 2021.
- FAZ: Rezension (2. Januar 2013)