Reformierte Oberstufe
Die reformierte Oberstufe (in Bayern Kollegstufe) ist seit 1972 ein Begriff für das Unterrichtssystem der letzten beiden Schuljahre (Qualifikationsstufe) in der gymnasialen Oberstufe, also der 11./12. bzw. 12./13. Jahrgangsstufe an deutschen Gymnasien, Fachgymnasien oder Oberstufen von Gesamtschulen. In der reformierten Oberstufe sind die Klassenverbände mit einem für alle gleichen Stundenplan aufgelöst; stattdessen wählen die Schüler eine individuelle Kombination aus Kursen in verschiedenen Fächern (Kurssystem). Die reformierte Oberstufe wird seit der Einführung 1972 ständig weiter reformiert.
Zielsetzung
Es gab seit Einführung der verbindlichen Abiturprüfung im frühen 19. Jh. keine kontinuierliche gymnasiale Oberstufe, was die Fächer und Prüfungsmodalitäten betrifft, vielmehr ständig Reformanstrengungen und Anpassungen an geänderte gesellschaftliche Bedingungen. In den 1960er Jahren wurde einerseits eine Expansion der Abschlusszahlen gefordert, um die Begabungsreserven der Gesellschaft auszuschöpfen und dem Arbeitsmarkt mehr hochqualifizierte Schulabsolventen zuführen zu können, andererseits sollte das Prüfungsniveau nicht sinken, um in der internationalen Konkurrenz der Industrienationen (Sputnikschock) den Anschluss nicht zu verlieren. Die Lösung sollte in einer Individualisierung der Schullaufbahn nach persönlichen Begabungsschwerpunkten bestehen. Für einen Studienerfolg musste demnach nicht zwingend Mathematik oder Latein belegt werden, anspruchsvolle Leistungen und Prüfungen waren in allen Fächern mit hochschulmäßigen Bezugsdisziplinen durchführbar. Daraus folgte der Grundsatz der „Gleichberechtigung aller Schulfächer“ im Abitur, eine Absage an die traditionellen Hauptfächer. Stattdessen sollte eine Öffnung der Oberstufe in freie Strukturen mit Möglichkeiten der Anwahl erfolgen.
Die Ausgestaltung der gymnasialen Oberstufe als Kurssystem sowie des Abiturs als ausbildungsbegleitende, kumulative (die Kursleistungen bereits einbeziehende) Prüfung gehen in der Bundesrepublik Deutschland zurück auf eine Vereinbarung der Kultusministerkonferenz vom 7. Juli 1972,[1] die die Saarbrücker Rahmenvereinbarung von 1960 ablöste. Das bedeutet, dass die notwendigen Leistungen zum Bestehen nicht erst in der Prüfung selbst, sondern bereits durch Leistungen in der ganzen Qualifikationsstufe erbracht werden (ungefähr im Verhältnis 2/3 vor der Prüfung zu 1/3 in der Prüfung). Seitdem ist die reformierte Oberstufe mehrmals modifiziert worden („Reform der Reform“), wobei die Tendenz dahin ging, die zunächst sehr großen Wahlmöglichkeiten wieder einzuschränken; insbesondere ist es inzwischen kaum noch möglich, Deutsch oder Mathematik vor dem letzten Schuljahr abzuwählen und einige (als leichter angesehene) Abiturfächer zu wählen.
Das Kurssystem der reformierten Oberstufe wurde in mancher Hinsicht dem Hochschulstudium angepasst: Die reformierte Oberstufe und die Abiturprüfung, die zum Hochschulstudium befähigen, sollten die Schüler schon zuvor mit der freieren, selbständigen Lernstruktur der Universität vertraut machen. Das war zugleich eine Absage an den traditionellen Klassenverband, der für manche eine zu feste eingefahrene Rollenverteilung bedeutete.
An Ähnlichkeiten zwischen Kollegstufe und Universität bestehen noch:
- Kurssystem
- In vielen Fächern hat man wechselnde Mitschüler, oft in einem anderen Unterrichtsraum. Als Hauptfächer muss man zwei Leistungskurse (drei in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Saarland und Baden-Württemberg) belegen, die eine höhere Wochenstundenzahl haben. Daneben werden Grundkurse angeboten, die einen unterschiedlichen Stellenwert haben: bloße Belegung, pflichtmäßige Einbringung in die Punktewertung oder Wahl als Abiturfach (schriftlich/mündlich) gewichtet werden können (siehe Grund- und Leistungskurse). Wahlmöglichkeiten bestehen insbesondere unter den Naturwissenschaften und Fremdsprachen sowie den Gesellschaftswissenschaften, unter denen Geschichte durch Pflichtbelegung herausgehoben wird.
- Facharbeit
- Eine wissenschaftlichen Ansprüchen angenäherte Arbeit (Belegung, Literaturarbeit) in einem der Leistungs- oder Grundkurse, die selbständiges Arbeiten erfordert und einer Hausarbeit an der Universität ähnelt. Sie wird nicht in allen Bundesländern verlangt.
Rechtlicher Rahmen
Die Leistungen aus der Qualifikationsstufe und aus der Abiturprüfung gehen in das Abiturzeugnis ein; die Ausgestaltung der gymnasialen Oberstufe ergibt sich deshalb weitgehend aus den Rechtsvorschriften über die Abiturprüfung. Diese Vorschriften umfassen ein feinverästeltes und hochgradig verknüpftes Netz von Regeln, welche Kombinationen von Kursen
- belegt werden müssen,
- in die Abiturwertung eingebracht werden müssen,
- als Abiturprüfungsfach gewählt werden können,
- als schriftliches Abiturprüfungsfach gewählt werden können/müssen.
Dreijährige Dauer
Die gymnasiale Oberstufe umfasst laut Vereinbarung der deutschen Kultusministerkonferenz eine einjährige Einführungs- und eine zweijährige Qualifizierungsphase. In Bundesländern, die das Abitur schon nach zwölfjähriger Schulzeit vorsehen (siehe Dauer der Schulzeit), fällt die Einführungsphase in die Jahrgangsstufe 10, die eine doppelte Zuordnung hat, indem sie zur Erlangung des Abschlusses nach der Klasse 10 (Mittlere Reife) notwendig und zugleich bereits Teil der gymnasialen Oberstufe ist. Die Einführungsphase kann im Klassenverband oder im Kurssystem stattfinden.
Aufgabenfelder
Einige Beleg- und Einbringregeln nehmen Bezug auf die Unterteilung der Fächer in Aufgabenfelder. Es gibt:
- das sprachlich-literarisch-künstlerische Aufgabenfeld (I)
- das gesellschaftswissenschaftliche Aufgabenfeld (II)
- das mathematisch-naturwissenschaftlich-technische Aufgabenfeld (III)
Sport ist keinem Aufgabenfeld zugeordnet. Für Religion gelten landesspezifische Regelungen.
Daneben gibt es an vielen Schulen außerhalb dieses Rahmens weitere Wahlfächer wie z. B. Niederdeutsch, Orchester oder Chor, die zwar eingebracht werden können, in denen jedoch keine Abiturprüfung abgelegt werden kann.
Bei der Wahl der vier bis fünf Abiturfächer (die zwei oder drei Leistungskurse sowie ein Grundkursfach schriftlich und ein oder zwei Grundkursfächer mündlich (Kolloquium)) müssen alle drei Bereiche abgedeckt werden.
Grund- und Leistungskurse
Grundkurse (bzw. in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg gA-Kurse (grundlegendes Anforderungsniveau)) und Leistungs- oder Erweiterungskurse (bzw. in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg eA-Kurse (erhöhtes Anforderungsniveau)) gliedern das Lernangebot „dem Niveau nach“.
Je nach Bundesland wählen die Schüler
- zwei oder drei Leistungskurs-Fächer, die je vier-, fünf- oder sechsstündig unterrichtet werden (Standard)
- drei oder mehr Grundkurs-Fächer (am Beruflichen Gymnasium in Schleswig-Holstein genau zwei, 1. vier- bis sechsstündig sowie 2. fünfstündig), die mindestens vierstündig unterrichtet werden.
Eines der Leistungskursfächer muss Deutsch, Mathematik, eine fortgeführte Fremdsprache oder eine Naturwissenschaft sein. Das zweite Fach kann dann aus dem Angebot der Schule frei gewählt werden. Einzelne Länder beschränken überdies die möglichen Leistungskurskombinationen.
Die Grundkurse sind mindestens zwei- oder dreistündig, in Deutsch, Fremdsprachen und Mathematik mindestens dreistündig.
Ausgleich zwischen Spezialisierung und Wahlmöglichkeit
Insgesamt ist in den meisten Bundesländern der Trend zu erkennen, die Spezialisierungs- und (Ab-)Wahlmöglichkeiten der Schüler wieder einzuschränken und den Fokus stärker auf eine breitere Allgemeinbildung durch höhere Gewichtung der sogenannten Kernfächer (Deutsch, Mathematik, Fremdsprache) gesetzt wird. Durch die Bündelung von Kurswahlmöglichkeiten zu Profilen werden teilweise die abgeschafften Klassenverbände in Teilen wieder eingeführt.[2] Auf der anderen Seite haben Tests etwa für Mathematik ergeben, dass ohne anspruchsvolle Leistungskurse die Voraussetzungen für anschließende Ausbildungen an Hochschulen nicht bestehen, daher wurden Modelle mit mehr als drei Hauptfächern 2016 zurückgeführt.
Siehe auch
Literatur
Historisch
- Heubrock, Dietmar: Die reformierte gymnasiale Oberstufe im Schülerurteil: Hintergründe, Analysen u. Folgerungen e. empir. Erkundungsstudie. Königshausen und Neumann, Würzburg 1979, 148 S., ISBN 3-88479-004-8.
- Hitpass, Josef: Reformierte Oberstufe – besser als ihr Ruf? Richarz, Sankt Augustin 1985, 134 S., (Beiträge zur Pädagogik; Bd. 4), ISBN 3-88345-653-5.
- Kollegstufe am Gymnasium. Bayer. Staatsministerium für Unterricht u. Kultus, München 1972, 452 S., (Schulreform in Bayern; Bd. 2).
Weblinks
- Deutscher Bildungsserver: Sekundarbereich II – Aufbau und Struktur
- Kurssystem an Oberstufen steht auf der Kippe, Die Welt, 30. September 2005; Schulbehörde wiegelt ab, taz Hamburg, 30. September 2005
- Strukturvergleich der Schulsysteme in den Bundesländern, politikerscreen.de, 13. Juli 2005
- Janna Kuchenbäcker: Heidelberger VersuchskABInchen, bildungsklick.de, 5. Juli 2004
Einzelnachweise
- Vereinbarung zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 7. Juli 1972 i. d. F. vom 6. Juni 2013) (Memento vom 13. Mai 2014 im Internet Archive)
- Anja Kühne: Gymnasiasten ohne Wahl. Der Tagesspiegel vom 27. Mai 2010. Abgerufen am 25. November 2014.