Prozess Wirtschafts-Verwaltungshauptamt der SS
Der Prozess gegen das Wirtschafts-Verwaltungshauptamt der SS (WVHA) fand als vierter von insgesamt zwölf Nürnberger Nachfolgeprozessen gegen Verantwortliche des Deutschen Reichs zur Zeit des Nationalsozialismus vom 13. Januar bis zum 3. November 1947 im Nürnberger Justizpalast vor einem US-amerikanischen Militärgericht statt. Die Anklageschrift nannte vor allem die gemeinsame Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Mitglied in einer verbrecherischen Organisation.
Die angeklagten Spitzenfunktionäre des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes (SS-WVHA) verwalteten bis Mai 1945 die SS-eigenen Industrien, Gewerbe und Betriebe, auch in den Konzentrationslagern, und führten diese zu eigenen Konzernen zusammen. Zugleich war die SS Teil des staatlichen Polizeiapparates und das Amt war u. a. für die wirtschaftliche Ausbeutung dieser Funktion zuständig. Dabei arbeitete das WVHA eng mit dem allgemeinen SS-Hauptamt und dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) zusammen und spätestens ab 1942/43 war ihm mit dem Amt D fast das gesamte Konzentrationslagersystem unterstellt. Das Amt D war die Inspektion der Konzentrationslager unter SS-Gruppenführer Richard Glücks.
Das SS-WVH-Amt bestand daneben aus folgenden weiteren vier Amtsgruppen: Amt A: Truppenverwaltung, Amt B: Truppenwirtschaft, Amt C: Bauwesen unter SS-Gruppenführer Kammler und dem Amt W: Wirtschaftsunternehmungen unter der direkten Leitung Pohls. Diese wirkten u. a. bei der Kontrolle des Lagersystems eng zusammen.
Rechtsgrundlage für diesen Prozess war das Kontrollratsgesetz Nr. 10 über die Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben. Unter Kriegsverbrechen wurden Delikte verstanden, die bereits in den Haager Abkommen vor dem Ersten Weltkrieg definiert worden waren: Tötung oder Misshandlung von Kriegsgefangenen, Hinrichtung von Geiseln, Verschleppung zur Zwangsarbeit etc. Unter Verbrechen gegen die Menschlichkeit fielen vor allem die Verfolgung und Vernichtung der Juden in ganz Europa und die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, also Tötungsdelikte, die in allen zivilisierten Staaten verfolgt werden.
Die Anklagepunkte
Die Anklageschrift vom 13. Januar 1947:
- Das gemeinsame Vorhaben oder die Verschwörung (I.) zur Begehung von Kriegsverbrechen (II.),
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit (III.),
- Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen (IV).
Die Richter
Im Unterschied zum Hauptverfahren saßen bei sämtlichen Folgeprozessen ausschließlich amerikanische Richter auf der Richterbank.
- Präsident: Robert M. Toms, Richter des Berufungsgerichts in Detroit, Michigan
- Fitzroi D. Phillips, Richter im Staat North Carolina
- Michael A. Musmanno, Richter in Pittsburgh, Pennsylvania
- John J. Speight, Richter in Alabama
Die Anklage vertraten Telford Taylor (Chief of Counsel for War Crimes), James M. McHaney (Chef der SS Abteilung der Ankläger) und Jack W. Robbins (Chefankläger für dieses Verfahren)
Die Angeklagten
Alphabetisch geordnete Namen der 18 Angeklagten im Verfahren
„Vereinigte Staaten vs. Oswald Pohl et al.“ und Urteile vom 3. November 1947:
Angeklagter | Rang | Funktion | Schuldig nach Anklagepunkt | Urteil |
---|---|---|---|---|
Johannes Baier * 1893; † 1969 |
SS-Oberführer | Stabschef der Amtsgruppe W (Wirtschaftsunternehmen) | II, III, IV | 10 Jahre Haft, 1951 vorzeitig aus der Haft entlassen |
Hanns Bobermin * 1903; † 1960 |
SS-Obersturmbannführer | Leiter des Amtes W II (Steine und Erden – Ost) | II, III, IV | 20 Jahre Haft, reduziert auf 15 Jahre Haft |
Franz Eirenschmalz * 1901; † nach 1964 |
SS-Standartenführer | Leiter des Amtes C VI (Bauunterhaltung) | II, III, IV | Todesstrafe, in 9 Jahre Haft umgewandelt |
Heinz Fanslau * 1909; † 1987 |
SS-Brigadeführer | Leiter der Amtsgruppe A (1944–1945) | II, III, IV | 20 Jahre Haft, reduziert auf 15 Jahre Haft, 1954 vorzeitig aus der Haft entlassen |
August Frank * 1898; † 1984 |
SS-Obergruppenführer | Leiter der Amtsgruppe A (bis 1944), Stellvertretender Leiter des WVHA (bis 1943) | II, III, IV | Lebenslängliche Haftstrafe, umgewandelt in 15 Jahre Haft, am 7. Mai 1954 vorzeitig entlassen |
Hans Hohberg * 1906; † 1968 |
Kein Mitglied der Schutzstaffel | Stabschef der Amtsgruppe W (Wirtschaftsunternehmen) | II und III | 10 Jahre Haftstrafe, 1951 vorzeitig aus der Haft entlassen |
Max Kiefer * 1889; † 1974 |
SS-Obersturmbannführer | Leiter des Amtes C II (Sonderaufgaben Bauwesen) | II, III, IV | Lebenslängliche Haftstrafe, reduziert auf 20 Jahre Haft, 1951 vorzeitig aus der Haft entlassen |
Horst Klein * 1910; † 1947 |
SS-Obersturmbannführer | Leiter des Amtes W VII (Sonderaufgaben) | Freispruch | |
Georg Lörner * 1899; † 1959 |
SS-Gruppenführer | Leiter der Amtsgruppe B, Stellvertretender Leiter des WVHA (bis 1944–1945) | II, III, IV | Todesstrafe, reduziert auf lebenslängliche Haft, umgewandelt in 15 Jahre Haft, am 31. März 1954 vorzeitig entlassen. |
Hans Lörner * 1893; † 1983 |
SS-Oberführer | Leiter des Amtes A I (Haushaltswirtschaft) | II, III, IV | 10 Jahre Haft, 1951 vorzeitig aus der Haft entlassen |
Karl Mummenthey * 1906; † nach 1953 |
SS-Obersturmbannführer | Leiter des Amts W I (Steine und Erden im Reich) | II, III, IV | Lebenslänglich – umgewandelt in 20 Jahre Haft, am 18. Dezember 1953 vorzeitig Landsberg entlassen |
Oswald Pohl * 1892; † 1951 |
SS-Obergruppenführer | Leiter des WVHA | I, II, III, IV | Todesstrafe – am 7. Juni 1951 hingerichtet |
Hermann Pook * 1901; † 1983 |
SS-Obersturmbannführer | Stellvertretender Leiter des Amts D III (Sanitätswesen) | II, III, IV | 10 Jahre Haft, 1951 vorzeitig aus der Haft entlassen |
Rudolf Scheide * 1908; † unbek. |
SS-Standartenführer | Leiter des Amtes B IV (Verkehrswesen) | Freispruch | |
Karl Sommer * 1915; † unbek. |
SS-Sturmbannführer | Stellvertretender Leiter des Amts D II (Arbeitseinsatz der Häftlinge) | II, III, IV | Todesstrafe, reduziert auf lebenslängliche Haft, umgewandelt in 20 Jahre Haft, am 11. Dezember 1953 vorzeitig entlassen |
Erwin Tschentscher * 1903; † 1972 |
SS-Standartenführer | Stellvertretender Leiter der Amtsgruppe B | II, III, IV | 10 Jahre Haft, 1951 vorzeitig aus der Haft entlassen |
Josef Vogt * 1884; † 1967 |
SS-Standartenführer | Leiter des Amtes A IV (Prüfungsamt) | Freispruch | |
Leo Volk * 1909; † 1973 |
SS-Hauptsturmführer | Adjutant von Oswald Pohl | II und III | 10 Jahre Haft, umgewandelt in 8 Jahre Haft, Anfang Februar 1951 vorzeitig entlassen |
Verfahrensablauf
- 13. Jan. 1947 Eröffnung der Anklagepunkte
- 10. März Verfahrenseröffnung und Fragen nach Schuldbekenntnis
- 8. April bis 14. Mai Vorträge der Ankläger
- 14.–16. Mai Erste Stellungnahmen der Verteidiger
- 5. Juni – 18. August Verteidigung der einzelnen Angeklagten
- 16. September Zusätzliche Vorträge beider Seiten
- 17. September Schlussplädoyer der Ankläger
- 17.–20. September Schlussplädoyers der Verteidiger
- 22. September Schlussworte der Angeklagten
- 3. November 1947 Urteilsverkündung
- Nächste Verfahrensschritte betrafen die Revision der Urteile durch die Militärgouverneure, Verfahrenshinweise an die Verteidigung und die Ausfertigung der Urteile am 11. August 1948.
Historische Bedeutung
Der Prozess sollte der Öffentlichkeit zeigen, dass auch die Schreibtischtäter zur Verantwortung gezogen werden. Sie hatten mindestens die gleiche Schuld auf sich geladen wie die Mörder vor Ort. Damit wurde die Mitwirkung von Verwaltungsspitzen, ohne deren Dienste ein Terrorregime nicht handlungsfähig wäre, international erstmals strafrechtlich geahndet.
Der Prozess gegen Pohl und das WVHA verfehlte innerhalb Deutschland seine beabsichtigte Wirkung teilweise. Das Urteil wurde damals vielfach als Siegerjustiz bewertet und öffentlich zum Teil sogar als Schandurteil bezeichnet. Am 9. Januar 1951 überreichte eine Abordnung des Deutschen Bundestages dem amerikanischen Hochkommissar John Jay McCloy eine erfolglose Bitte um Pohls Amnestie.
Siehe auch
- NS-Zwangsarbeit
- Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel (Angeklagter im Hauptverfahren)
- Reichsarbeitsminister Franz Seldte (verstarb vor einer Anklageerhebung)
- Die Organisation Todt setzte als Bauorganisation für militärische Anlagen auch viele KZ-Häftlinge ein (Unterorganisation im Reichsministerium für Bewaffnung und Munition)
Zeit nach 1945:
- Entnazifizierung
- Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen bis in die 1970er Jahre (D und international)
- Debatte um das 2005 erschienene Buch von Götz Aly Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus
Literatur
- Johannes Tuchel: Fall 4: Der Prozeß gegen Oswald Pohl und andere Angehörige des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes. In: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952 (= Fischer-Taschenbücher. Die Zeit des Nationalsozialismus 13589). Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-13589-3, S. 110–120.
- Robert M. W. Kempner: SS im Kreuzverhör. Rütten & Loening, München 1964.
- Records of the United States Nuremberg War Crimes Trials, Vol. V. United States Government Printing Office, District of Columbia 1950. (Band 5 der „Green Series“)
- Jan Erik Schulte: Im Zentrum der Verbrechen. Das Verfahren gegen Oswald Pohl und weitere Angehörige des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes, in: Kim C. Priemel, Alexa Stiller (Hrsg.): NMT. Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung. Hamburg : Hamburger Edition, 2013, S. 67–99
- Jan Erik Schulte: Zwangsarbeit und Vernichtung: Das Wirtschaftsimperium der SS. Oswald Pohl und das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt 1933–1945. Schöningh, Paderborn 2001, ISBN 3-506-78245-2
Weblinks
- Videosammlung zu den Nürnberger Prozessen des Robert H. Jackson Center, darunter Aufnahmen vom Pohl-Prozess (1947/48)
- Introduction to NMT Case 4 – U.S.A. v. Pohl et al., Nuremberg Trials Project (Harvard Law School Library)