Pied-noir
Mit Pieds-noirs (Mehrzahl von französisch pied-noir [pje'nwaʁ], „Schwarzfuß“) bezeichnete man ab den 1950er Jahren die Algerienfranzosen, die sich seit dem Beginn der Eroberung Algeriens durch Frankreich 1830 in dem nordafrikanischen Land angesiedelt hatten. Vorher war für diese Bevölkerungsgruppe der Begriff colons („Siedler“) üblich. Ungefähr 40 % der Siedler stammten aus dem Mutterland Frankreich, namentlich aus Südfrankreich, Korsika, dem Elsass und Lothringen, die meisten übrigen aus Malta, Italien und Spanien. Dazu kamen einheimische sephardische Juden (israélites), die schon länger im Maghreb ansässig waren und im 19. Jahrhundert mit dem „Décret Crémieux“ die französische Staatsbürgerschaft erhalten hatten. Gegen Ende des Algerienkriegs 1962, als fast alle Europäer Algerien verließen, betrug die Zahl der Pieds-Noirs ca. 1,4 Millionen (ca. 13 % der algerischen Bevölkerung)[1]. Im weiteren Sinne werden auch die europäischstämmigen oder jüdischen Bewohner Tunesiens oder Marokkos, die diese Länder nach deren Unabhängigkeit in Richtung Frankreich verließen, als pieds-noirs bezeichnet.
Geschichte
Die Gesellschaft der europäischen Kolonisten in Algerien war zeit ihres Bestehens sozial deutlich gespalten. Einer kleinen Minderheit von alteingesessenen sehr wohlhabenden Familien stand eine große Schicht relativ armer Siedler gegenüber. Die Siedlergesellschaft schaffte es jedoch durch Zugang zum Kapitalmarkt – Muslime waren durch Sondersteuern und die privatrechtlich geltende Scharia davon ausgeschlossen –, große Teile des Landes anzukaufen. Ebenso kam es zu gewalttätigen Landnahmen, zumeist nach Aufständen der muslimischen Bevölkerung. Die europäischen Siedler kontrollierten 1936 mit 7,7 Millionen Hektar rund 40 Prozent des landwirtschaftlich nutzbaren Landes, dies zumeist in den besonders fruchtbaren Küstenregionen des Landes. Viele Algerienfranzosen lebten jedoch auch als Handwerker, Arbeiter oder Ladenbesitzer in den Städten. Der amtliche Lebensstandardindex der europäischstämmigen Bevölkerung war 1950 rund zwanzig Prozent niedriger als im Mutterland.[2]
Unter der französischen Herrschaft genossen nur „Europäer“ volle Bürgerrechte, während die Einheimischen (indigènes) kollektiv als „Araber“ (arabes) oder „Muslime“ (musulmans) bezeichnet wurden und durch den diskriminierenden Code de l’indigénat (1875) benachteiligt waren. 1870 waren die einheimischen Juden, zuvor ebenfalls indigènes, mit dem Décret Crémieux zu Franzosen deklariert worden. Obwohl die Küstenregion Algeriens seit 1848 als französisches Staatsgebiet galt und seine Bewohner daher grundsätzlich als Staatsbürger anerkannt wurden, erhielten nur etwa 7.000 muslimische Algerier das französische Bürgerrecht. Hingegen wurden 1889[3] in großem Umfang Spanier, Italiener und andere Ausländer, wie Deutsche, Schweizer, Maltesen, eingebürgert. Erst 1944 wurde das Bürgerrecht allen Bewohnern Algeriens verliehen. In der Volksvertretung Algeriens waren keine Muslime vertreten.[4] Nach dem Ende des Algerienkriegs, als Algerien seine Unabhängigkeit erhielt, siedelten die meisten der etwa 1,4 Millionen Pieds-noirs in das französische Mutterland um. Der Terror der OAS 1961/62, mit der viele Pieds-noirs und eine Reihe französischer Militärs sympathisierten, wenn diese sie nicht aktiv unterstützten, hatte die algerische Unabhängigkeit nicht verhindern können.
Viele Pieds-noirs waren seit Generationen in Algerien ansässig gewesen oder hatten gar keine Wurzeln in Frankreich, da ihre Familie als Einwanderer in Algerien das französische Bürgerrecht erworben hatten. Sie mussten aber notgedrungen dorthin übersiedeln, da sie von Seiten der algerischen Unabhängigkeitsbewegung FLN mit dem Tode für den Fall bedroht wurden, dass sie Algerien nach der Unabhängigkeit nicht verlassen würden. Die Wendung „La valise ou le cercueil“ beschreibt diese Situation in überspitzter Form – es blieb ihnen nur die Wahl zwischen dem Koffer (la valise) oder dem Sarg (le cercueil). Drohungen, die im Fall einiger im Land verbliebener Pieds-noirs, vor allem aber der sogenannten Harkis, auf grausame Weise wahrgemacht wurden: Tausende Angehörige dieser Gruppe muslimischer Algerier, die während des Unabhängigkeitskampfes loyal zu Frankreich gestanden und in dessen Militär gekämpft hatten, massakrierte die FLN zusammen mit ihren Familien. Am 5. Juli 1962, dem Tag, an dem Algerien seine Unabhängigkeit proklamierte, kam es in Oran, der Stadt mit dem größten Anteil an Pieds-noirs an der Gesamtbevölkerung, zu einem Massaker an europäischstämmigen Einwohnern der Stadt, dem je nach Quellen zwischen 95 und 3500 Menschen zum Opfer fielen. Keiner der Täter wurde je bestraft.[5]
Die französische Regierung unter Präsident Charles de Gaulle zeigte – ebenso wie die öffentliche Meinung in Frankreich – gegenüber den Pieds-Noirs wenig Sympathie. Die noch verbliebenen Armeeeinheiten wurden nach dem 1. Juli 1962 nicht mehr zum Schutz der Algerienfranzosen eingesetzt und die Aufnahme muslimischer Harkis restriktiv gehandhabt. Mitgefühl, Ermutigung oder auch materielle Hilfe bei der Übersiedlung nach Frankreich gab es für die Pied-Noirs nur in sehr beschränktem Umfang. De Gaulle selbst erklärte im Ministerrat in Bezug auf die Algerienfranzosen: „Diese Leute verwechseln die Interessen Frankreichs mit ihren eigenen Interessen“.[6]
Die meisten Pieds-noirs siedelten sich entlang der Südküste Frankreichs (etwa in Aix-en-Provence, Perpignan, Montpellier, Marseille, Toulon oder Nizza), im Großraum Paris oder auf der bis dahin nur dünn besiedelten Insel Korsika an, was dort zu Spannungen[7] mit den Korsen führte. Persönlichkeiten aus dieser heterogenen Gruppe der rapatriés, wie sie zunächst nur genannt wurden, nahmen in vielen gesellschaftlichen Bereichen großen Einfluss in der France métropolitaine.
Bekannte Pieds-Noirs
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Literatur (französisch)
- Marie Cardinal: Les Pieds-Noirs. Place Furstenberg éditeurs. Paris 1994, ISBN 2-910818-00-4.
- Pierre Daum: Ni valise, ni cercueil. Les pieds-noirs restés en Algérie après l’indépendance. Solin/Actes Sud, Arles 2012, ISBN 978-2-330-00227-5.
- Raphaël Delpard: L'Histoire des Pieds-Noirs d'Algérie. (1830-1962). Michel Lafon, Neuilly-sur-Seine 2002, ISBN 2-8409-8761-9.
- Pierre Goinard: Algérie. L'œuvre française. 2. Aufl. Gandini, Nizza 2001, ISBN 2-906431-29-X.
- Marcel Gori: L'Algérie illustrée. Éditions Campanile. Sophia-Antipolis, 2005.
- Jean-Jacques Jordi: 1962. L'arrivée des Pieds-Noirs. Autrement, Paris 2002, ISBN 2-86260-520-4.
- Jean-Jacques Jordi: De l'Exode à l'Exil. Rapatriés et pieds-noirs en France; l'exemple marseillais, 1954-1992. L'Harmattan, Paris 2000, ISBN 2-7384-2305-1.
- Daniel Leconte: Les Pieds-Noirs. Histoire et portrait d'une communauté. Le Seuil, Paris 1980, ISBN 2-02-005397-7.
- Cécile Mercier: Les Pieds-Noirs et l'exode de 1962. À travers la presse française. L'Harmattan, Paris 2003, ISBN 2-7475-3794-3.
- Jean-Pax Méfret, Jean Bastien-Thiry: Jusqu’au bout de l’Algérie française. Pygmalion, Paris 2003, ISBN 2-85704-815-7. (Schilderung aus kolonialnostalgischer Sicht)
- Pierre Nora: Les Français d'Algérie. Éditions Julliard, Paris 1961.
- Jeannine Verdès-Leroux: Les Français d'Algérie de 1830 à aujourd'hui. Une page d'histoire déchirée. Fayard, Paris 2001, ISBN 2-213-60968-3.
- Jean-Jacques Viala: Pieds-Noirs en Algérie après l'indépendance. Une éxperience socialiste. L'Harmattan, Paris 2001, ISBN 2-7475-0890-0.
Weblinks
- Waffen mitgebracht. In: Der Spiegel vom 17. Oktober 1962.
Einzelnachweise
- Bernard A. Cook (Hrsg.): Europe since 1945. An encyclopedia, Bd. 1. Garland, New York 2001. S. 398 ff. ISBN 0-8153-1336-5.
- Martin Evans: Algeria. France’s Undeclared War. University Press, Oxford 2012, ISBN 978-0-19-280350-4, S. 24–27.
- Jean-Jacques Jordi: Idées reçues: Les Pieds Noirs. Hrsg.: Marie-Laurence Dubray. Éditions Le Cavalier Bleu, Paris 2009, ISBN 978-2-84670-197-6, S. 28, 32.
- Edward R. Kantowicz: Coming apart, coming together. W. B. Eerdmans, Grand Rapids, Michigan 2000, ISBN 0-8028-4456-1, S. 207.
- Pierre Daum: Das Trauma von Oran. In: Le Monde diplomatique, Nr. 9821 vom 8. Juni 2012, ISSN 0026-9395.
- Wilfried Loth: Charles de Gaulle. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-17-021362-3, S. 214.
- Catherine Krahmer, Josef Müller-Marein: 21mal Frankreich. In: Panoramen der Welt. 5. Auflage. Nr. 2680. Piper Verlag, München 1989, ISBN 3-492-15103-5, S. 422.