Paul Lincke
Paul Lincke (* 7. November 1866 in Berlin; † 3. September 1946 in Hahnenklee-Bockswiese; vollständiger Name Carl Emil Paul Lincke) war ein deutscher Komponist und Theaterkapellmeister. Er gilt als „Vater“ der Berliner Operette. Seine Bedeutung für Berlin ist mit der von Johann Strauß für Wien und Jacques Offenbach für Paris zu vergleichen. Paul Lincke lebte in Berlin und wurde mit 19 Jahren bereits Theaterkapellmeister und Musikverleger.
Leben
Biographisches
Als Sohn des Magistratsdieners August Lincke und seiner Ehefrau Emilie wurde Paul Lincke am 7. November 1866 in der Nähe der Berliner Jungfernbrücke geboren. Vater August Lincke spielte zu jener Zeit als Geiger in mehreren kleinen Orchestern. Sohn Paul war erst fünf Jahre alt, als der Vater verstarb. Mutter Emilie zog mit ihren drei Kindern in die Adalbert-, später in die Eisenbahnstraße, nahe dem Lausitzer Platz in Kreuzberg.
Pauls früh erkennbare musikalische Neigungen zeigten sich besonders im Hang zur Militärmusik. Darum schickte seine Mutter ihn nach Abschluss der Realschule in die Lehre nach Wittenberge. Hier wurde er vier Jahre lang in der „Stadtpfeiferei“, der Wittenberger Stadtmusikkapelle von Rudolf Kleinow, als Fagottist ausgebildet. Darüber hinaus erlernte er dort auch das Spielen des Tenorhorns, des Schlagzeuges, das Klavierspiel sowie das Geigenspiel und schuf erste kompositorische Gelegenheitskompositionen.
Seine Körpermaße entsprachen 1884 nicht den Vorschriften für Militärmusiker, als er sich zu einer Ausbildung bewarb. Stattdessen gelang es ihm, am Central-Theater in der Alten Jakobstraße bei Adolf Ernst ein erstes Engagement als Fagottist zu erhalten. Bereits nach einem Jahr wechselte er ins Orchester des Ostend-Theaters in der Großen Frankfurter Straße. Spontan verliebte er sich in die 16-jährige Soubrette Anna Müller, die er 1893 heiratete und von der er 1898 wieder geschieden wurde. Seine ehemalige Frau feierte später unter dem Namen Anna Müller-Lincke Triumphe beim Berliner Publikum.
In der Unterhaltungs- und Tanzmusik sammelte Lincke am Königsstädtischen Theater, dem Belle-Alliance-Theater und dem Parodie-Theater in der Oranienstraße wertvolle Erfahrungen. Er begleitete musikalisch die Varieté-Programme und lieferte eigene Kompositionen für beliebte Couplet-Sängerinnen. Venus auf Erden, ein revueartiger Einakter, entstand 1897 im Apollo-Theater in der Friedrichstraße.
Zwei Jahre lang ließ sich Paul Lincke am berühmtesten europäischen Varieté, den Folies Bergère in Paris, feiern. Danach kehrte er mit neuen Kompositionen an das Apollo-Theater zurück. Mit riesigem Erfolg wurde 1899 Frau Luna uraufgeführt. Im selben Jahr folgten Im Reiche des Indra und 1902 die Operette Lysistrata. Für das Libretto sorgte in beiden Fällen Heinz Bolten-Baeckers.
1901 traf Lincke eine junge Schauspielerin, die unter dem Künstlernamen Ellen Sousa bekannt war. Sie spielte im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater und begeisterte Lincke vom ersten Augenblick an. Nachdem sie ihm die erste Einladung ausgeschlagen hatte, was für Lincke eine ungewohnte Reaktion war, besuchte er immer wieder ihre Vorstellungen und lud sie jedes Mal aufs Neue ein, bis sie wenige Wochen nach ihrer ersten Begegnung in Linckes Wohnung in der Oranienstraße 64 einzog. Ihre Beziehung war von tiefer Zuneigung und Leidenschaft gekennzeichnet. Lincke konnte ihr keinen Wunsch abschlagen, daher sang Sousa die Rolle der „Frau Luna“ im Apollo-Theater.
Enthusiastische Kritiken und ein begeistertes Publikum ließen Sousa auf eine große Karriere hoffen, doch musste Ellen Sousa ihre Bühnentätigkeit wegen einer Schwangerschaft abbrechen: 1902 gebar sie Lincke einen Sohn, und der Vater verlangte, dass Sousa ihren Mutterpflichten nachkommen und die Bühnenarbeit zu diesem Zweck einstellen müsse. Diese Berufspause dauerte aber schließlich nur ein Vierteljahr.
Linckes Versuche, sich mit seiner familiären Situation zu arrangieren, scheiterten, daher bot er Ellen Sousa die Ehe an und verlangte im Gegenzug, dass sie für immer die Bühne verlasse. Sie rang ihm eine Bedenkzeit ab und versuchte sich in ihrer neuen Rolle als Hausfrau und Mutter. Paul Lincke erlebte in dieser Zeit eine weitere Welle des Erfolgs, da seine Stücke nun wieder in Paris gefragt waren. Weiterhin verbrachte er die Abende, wenn nicht am Theater, in illustren Runden oder großen Gesellschaften, denen Sousa nicht beiwohnen konnte. Lincke forderte nun eine Antwort von Sousa und erklärte, wenn sie sich für die Bühne entscheiden sollte, wolle er sie und ihren gemeinsamen Sohn nicht mehr sehen. Er gab ihr zehn Tage Bedenkzeit, fuhr in dieser Zeit zu einem Gastspiel, und als er nach sechs Tagen zurückkehrte, waren Sousa und das Kind ausgezogen.
Jahre später heiratete Ellen Sousa einen Großkaufmann, dem sie nach Dresden folgte und der ihren Sohn ohne Einwände Linckes adoptierte. Dies war das endgültige Ende der Beziehung zu Ellen Sousa und seinem Sohn. An jene Ereignisse erinnert der Walzer „Verschmähte Liebe“.
Der Direktor des Apollo-Theaters, Richard Schultz, verpflichtete Paul Lincke 1908 als ersten Kapellmeister und Komponisten an das Metropol-Theater, dessen pompöse Ausstattungsrevuen zu den größten Attraktionen der Reichshauptstadt gehörten.
Paul Lincke und das NS-Regime
Anders als viele Biographien vor ihm hat Jan Kutscher 2016 in seiner Lincke-Biographie sich erstmals mit dieser Thematik auseinandergesetzt und auch andere biographische Angaben zu dieser Thematik kritisch hinterfragt:[1] Kutscher differenzierte damit insofern auch die Akten-Recherchen von Fred K. Prieberg,[2] die sich aus seiner Sicht als erheblich komplexer darstellen würden.
Paul Lincke war von Anfang an Mitglied und im Vorstand der Kameradschaft der Deutschen Künstler e.V., die 1933 unter der Schirmherrschaft von Joseph Goebbels gegründet wurde. Ab 1933 war er im Ehrenvorstand des Neuen Deutschen Bühnen- und Filmklubs, ab 1936 Ehrenpräsident des Berufsstandes der Deutschen Komponisten. 1933 komponierte er u. a. den Marsch „Unsere braunen Jungens“, der dann zum Repertoire der SS-Leibstandarte Adolf Hitler gehörte. Dem folgten weitere Kompositionen mit ähnlichen Titeln – allerdings in seinem unverwechselbaren (und hinsichtlich der Titel auch austauschbaren) Musikstil. Er war nie Mitglied der NSDAP.
Auch wenn er 1937, überreicht von Reichsminister Goebbels, die Silberne Ehrenplakette seiner Heimatstadt Berlin erhielt und zu seinem 75. Geburtstag am 7. November 1941 von Goebbels in Anwesenheit aller Ratsherren, Kreisleiter und des Gauleiters Staatsrat Artur Görlitzer im Auftrage von Adolf Hitler die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft überreicht bekam, die damals „höchste Auszeichnung des deutschen Kunstschaffens“, und dieser außerdem den Ehrenbürgerbrief der Reichshauptstadt übergab – Goebbels hielt auch die Laudatio –, war und blieb Lincke nach Kutschers Recherchen dem NS-Staat in gewisser Weise zu suspekt, um ihn in ihre Propaganda voll einbinden zu wollen: Exemplarisch standen dagegen insbesondere solche nach wie vor populären Musikstücke (und Titel), wie Schlösser, die im Monde liegen, oder auch Bis früh um fünfe, kleine Maus, die der (gewünschten) Ideologie des NS-Staates völlig fremd waren.[1]
Gleichzeitig verbanden Lincke persönliche, teilweise sehr enge Kontakte zu verschiedenen prominenten Nationalsozialisten wie dem Kulturfunktionär Hans Hinkel, dem sogenannten „Reichsbühnenbildner“ Benno von Arent und Magda Goebbels, der Ehefrau des Propagandaministers. Seine Musik erlebte während des Dritten Reiches eine Renaissance, die sich für ihn auszahlte: Zwischen 1934 und 1940 verdreifachte sich (ungefähr) sein Einkommen. Im Lichte dieser Entwicklung kommt der Musikwissenschaftler Albrecht Dümling zu dem Urteil, dass Lincke ein Profiteur des Dritten Reiches gewesen sei.[3]
Da nach 1945 der amerikanischen und auch der britischen Besatzungsmacht diese Verbindungen bekannt waren, belegten sie Lincke in ihren jeweiligen Besatzungszonen mit Auftrittsverboten, die auch bis zu Linckes Tod nicht aufgehoben wurden. Gleichwohl wurden Auftritte von ihm, z. B. in Arzberg, geduldet, mit denen sich Lincke finanziell 1945 und 1946 über Wasser hielt.[1]
Nach dem Krieg
1943 gastierte Lincke im böhmischen Marienbad, um dort sein Werk Frau Luna zu dirigieren, dessen Uraufführung 1899 als Geburtsstunde der Berliner Operette gilt. Während seiner Abwesenheit wurden seine Wohnung und sein Verlag in der Berliner Oranienstraße ausgebombt.
Nach Kriegsende wollte Lincke nach Berlin zurückkehren. Lange bemühte er sich vergebens um die Zuzugsgenehmigung der Alliierten, die man damals auch als gebürtiger Berliner benötigte.
Mit Hilfe des amerikanischen Generals Pierce übersiedelte er zunächst mit seiner Haushälterin Johanna Hildebrandt, die bereits 35 Jahre für ihn gesorgt hatte, in das oberfränkische Arzberg. Am 7. und 12. Dezember wurde im Richard-Wagner-Festspielhaus in Bayreuth ein auf ihn zugeschnittenes Potpourri mit dem Titel Music You Love To Hear aufgeführt, das Lincke selbst dirigierte.[4]
In Oberfranken herrschte für den gesundheitlich bereits angeschlagenen Lincke nicht das richtige Klima, daher sorgten Freunde in Lautenthal für eine Übersiedlung nach Hahnenklee, einem heilklimatischen Kurort in der Nähe von Goslar. Hier starb er kurz vor Vollendung seines 80. Lebensjahres. Nach der Trauerfeier in der Stabkirche Hahnenklee erfolgte seine Beisetzung auf dem Hahnenkleer Friedhof, wo sein Grab bis heute gepflegt wird.
Ehrungen
- Auf Initiative des Opernsängers und Intendanten Heiko Reissig wurde eine Bronzebüste von Paul Lincke zu den Elblandfestspielen 2001 in Wittenberge feierlich auf dem neubenannten Paul-Lincke-Platz vor dem Festspielhaus der Elbestadt eingeweiht.
- Die Europäische Kulturwerkstatt Berlin-Wien (EKW) führt regelmäßig einen „Internationalen Gesangswettbewerb für Operette – Paul Lincke“ durch. Der erste Wettbewerb fand 2001 unter dem Juryvorsitz von Kammersängerin Renate Holm im Festspielhaus von Wittenberge statt.
Werke
Operetten (Auswahl)
- Venus auf Erden (Uraufführung (UA) Berlin, 1897)
- Frau Luna (UA Berlin, 1899)
- Im Reiche des Indra (UA Berlin, 1899)
- Fräulein Loreley (UA Berlin, 1900)
- Lysistrata (UA Berlin, 1902)
- Nakiris Hochzeit, oder: Der Stern von Siam (UA Berlin, 1902)
- Prinzeß Rosine (UA Berlin, 1905)
- Grigri (UA Berlin, 1911)
- Casanova (UA Darmstadt, 1913)
- Ein Liebestraum (UA Hamburg, 1940)
Gesangswalzer, Tänze, Marschlieder und Charakterstücke
- Radelwadelmadel-Lied. (Wo es nette und adrette.) (Singstimme in: Die Spree-Amazone, um 1896)
- Verschmähte Liebe. Walzer.
- Wenn auch die Jahre enteilen. (Exakt: Es war einmal, aus Im Reiche des Indra)
- Lose, munt're Lieder. (Walzerlied, aus Frau Luna)
- Schenk' mir doch ein kleines bißchen Liebe. (ursprünglich aus der Burleske Berliner Luft, 1922 in Frau Luna eingebaut)
- Bis früh um fünfe, kleine Maus. (Marschlied aus dem Schwank Bis früh um fünfe!)
- Nimm mich mit, nimm mich mit, in dein Kämmerlein. (Polkalied aus Bis früh um fünfe!)
- Schlösser, die im Monde liegen. (Fantasie aus Frau Luna)
- Laßt den Kopf nicht hängen. (Marschlied aus Frau Luna)
- Glühwürmchen-Idyll. (aus Lysistrata)
- Berliner Luft (ursprünglich aus der Burleske Berliner Luft, 1922 in Frau Luna eingebaut)
- Folies-Bergère. Marsch. (1922 als Zwischenaktmusik in Frau Luna übernommen)
- Schutzmann-Marsch. (aus Frau Luna)
- Karten-Sammler. Marsch. Dem Erfinder der Ansichtskarten Herrn Johannes Miesler gewidmet [für Klavier], mit humoristischen Texten von Paul Großmann unterlegt, Berlin: Internationaler Musik-Verlag Apollo, um 1920
- Siamesische Wachtparade. Charakterstück. Seiner Majestät Tschulalongkorn König von Siam ehrfurchtsvoll gewidmet. (aus Nakiris Hochzeit)
- Hinterm Ofen sitzt ’ne Maus, die muß raus, die muß raus! Lied.
- Geburtstagsständchen. Charakterstück.
- Die Gigerlkönigin. Rheinländer, bekannt geworden durch Paula Menotti[5]
- Donnerwetter – tadellos! (Der Gardeleutnant), Lied und Marsch aus der Revue Donnerwetter – tadellos! des Metropoltheaters, Berlin 1908[6]
- Märkische Heide, 1933
- Unsere braunen Jungens, 1933
- Unsere braunen Mädels, 1935
- Deutsche Soldaten, 1935
- Jawoll, jawoll!, 1938
- Deutschland muss siegen, 1940
- Lili-Marleen-Marsch, 1942
- Einmal möcht ich dich noch wiedersehn, 1944
Siehe auch
Literatur und Quellen
- Das Archivgut des Verlages von Paul Lincke befindet sich im Bestand 21067 Apollo-Verlag Paul Lincke / Oskar Seifert, Musikverlag und Sortiment, Leipzig, im Staatsarchiv Leipzig.
- Otto Schneidereit: Paul Lincke und die Entstehung der Berliner Operette. Henschelverlag, Berlin 1977
- Anton Würz: Lincke, Paul. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 14, Duncker & Humblot, Berlin 1985, ISBN 3-428-00195-8, S. 572 f. (Digitalisat).
- Jan Kutscher: Paul Lincke. Sein Leben in Bildern und Dokumenten. Schott, Mainz 2016, ISBN 978-3-7957-1084-2.
- Berliner Operetten-König. Der Lincke und die Rechten. In: Berliner Kurier. 24. Februar 2017 .
- Paul-Lincke-Biografie: Ein Profiteur des Dritten Reiches. Albrecht Dümling im Gespräch mit Carsten Beyer. In: Deutschlandfunk Kultur. 16. Dezember 2016 .
- Martin Trageser: Millionen Herzen im Dreivierteltakt. Die Komponisten des Zeitalters der „Silbernen Operette“. Königshausen und Neumann, Würzburg 2020, ISBN 978-3-8260-6924-6, S. 171–184.
Weblinks
- Literatur von und über Paul Lincke im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Werkeverzeichnis von Paul Lincke auf Klassika.info
- Werke von und über Paul Lincke bei Open Library
- Liste der Bühnenwerke von Paul Lincke auf Basis der MGG bei Operone
- Noten und Audiodateien von Paul Lincke im International Music Score Library Project
Einzelnachweise
- Jan Kutscher: Paul Lincke. Sein Leben in Bildern und Dokumenten. Schott, Mainz 2016, ISBN 978-3-7957-1084-2.
- Fred K. Prieberg: Handbuch deutsche Musiker: 1933–1945. Prieberg, Kiel 2005, OCLC 172987448, S. 4260–4264.
- Paul-Lincke-Biografie: Ein Profiteur des Dritten Reiches. Albrecht Dümling im Gespräch mit Carsten Beyer. In: Deutschlandfunk Kultur. 16. Dezember 2016 .
- Albrecht Bald: „Madame Butterfly“ im Festspielhaus In: Heimatkurier 3/2002 des Nordbayerischen Kuriers, S. 14.
- Die Gigerlkönigin. In: http://dansedatabase.dk/. Abgerufen am 6. Januar 2019.
- Donnerwetter – tadellos! In: notenmuseum.de. Abgerufen am 4. März 2019.