Nuklearstrategie
Eine Nuklearstrategie ist ein strategisches Konzept, das den angedrohten oder tatsächlichen Einsatz von Kernwaffen zu politischen Zwecken umfasst. Aufgrund ihres außergewöhnlich hohen Zerstörungspotenzials nehmen Kernwaffen seit ihrem erstmaligen Einsatz am Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1945 eine moralische und sicherheitspolitische Sonderstellung als Massenvernichtungswaffe ein. Nuklearstrategien wie die massive Vergeltung oder die flexible Reaktion waren daher neben dem massiven Wettrüsten ein prägendes Merkmal des Kalten Krieges. Weil beide Konfliktparteien in dieser strategischen Auseinandersetzung über Kernwaffen verfügten und diese technisch aufrüsteten, stand die Nichtverwendung von Kernwaffen bei gleichzeitiger Wahrung sicherheitspolitischer Interessen im Mittelpunkt ihrer Nuklearstrategien.
Nach dem Ende des Kalten Krieges verloren Nuklearstrategien unmittelbar an Bedeutung. Nuklearstrategische Angelegenheiten wie die Sicherung verlorengegangener Atomsprengköpfe, Raketenabwehrschilde, „schmutzige Bomben“, Nichtverbreitung im Rahmen des Atomwaffensperrvertrags und Abrüstungsvorhaben stellen weiterhin wichtige Themen der internationalen Politik dar.
Die nuklearstrategische Forschung war im Kalten Krieg eine umstrittene Domäne der Strategischen Studien. Dabei griffen Strategietheoretiker häufig auf Erkenntnisse der Spieltheorie zurück, die das gängige nuklearstrategische Dilemma des Nichteinsatzes als ein Beispiel für das Gefangenendilemma betrachtete. In diesem Forschungsgebiet bekannt wurden vor allem Bernard Brodie, Herman Kahn, Albert Wohlstetter und Colin Gray.
Strategien der USA / NATO
- 1945 beauftragte US-Präsident Harry S. Truman die US Air Force, einen Operationsentwurf für einen möglichen Krieg mit der UdSSR auszuarbeiten. Im Dezember 1945 wurde unter Führung von General Dwight D. Eisenhower der Plan Operation Totality (JIC 329/1) ausgearbeitet, der bei einem sowjetischen Überraschungsangriff den Abwurf von bis zu 30 Atombomben auf 20 sowjetische Städte vorsah. Hierzu zählten: Moskau, Gorki, Kuibyschew, Swerdlowsk, Nowosibirsk, Omsk, Saratow, Kasan, Leningrad, Baku, Taschkent, Tscheljabinsk, Nischni Tagil, Magnitogorsk, Molotow/Perm, Tiflis, Stalinsk/Nowokusnezk, Grosny, Irkutsk und Jaroslawl.[1][2] Damit sollte Zeit für eine Mobilmachung der konventionellen Streitkräfte gewonnen werden. Dieser Plan wurde bis Mai 1948 mehrmals ergänzt, im Dezember 1948 sah er bereits den Abwurf von 133 Atombomben auf 20 sowjetische Städte vor. Im Falle einer Eskalation einer Krise war auch ein Präventivschlag (First Strike) gegen die Sowjetunion vorgesehen.
- Vorneverteidigung (forward strategy): Konzept der Verzögerung eines Angriffs des Warschauer Paktes mit konventionellen Kräften östlich des Rheins. Anschließend nuklearer Gegenschlag strategischer Luftstreitkräfte mit einer konventionellen Gegenoffensive mit dem Ziel, den Warschauer Pakt zurückzudrängen. Diese Konzeption fand Anwendung von 1950/52 bis 1957 - NATO-Dokument 14/1 - und hätte bei einer Anwendung die Verstrahlung von weiten Teilen Deutschlands bedeutet. Es wurde aufgrund des angewachsenen Vernichtungspotenzials der Atomwaffenarsenale durch die 'massive retaliation' ersetzt.
- Massive Vergeltung (massive retaliation): Beantwortung eines feindlichen (konventionellen) Angriffes mit einem vernichtenden Gegenschlag mit atomaren Waffen. Diese Konzeption bestand von 1954/57 bis 1967/68, NATO-Dokument MC 14/2. Der Single Integrated Operational Plan SIOP-62 sah 1960 3423 Atombombenziele vor.
- Flexible Reaktion (flexible response) (NATO-Dokument MC 14/3): Angemessene Beantwortung des Angriffs. Im Rahmen der Konzeption der flexiblen Reaktion von 1967/68 bis 1991 wurde in der NATO die Triaden-Strategie entwickelt. Diese Taktik sieht vor, konventionelle, nukleartaktische und nuklearstrategische Mittel im Verbund oder als Einzelelemente einzusetzen. 1980 umfasste der Single Integrated Operational Plan SIOP-5D rund 40.000 mögliche Ziele für Nuklearangriffe.[3][4]
- Mutual assured destruction (MAD) (gesicherte wechselseitige Zerstörung): eine ab 1961 in den USA entwickelte minimalistische Nuklearstrategie mit dem Ziel des Erhalts einer nuklearen Zweitschlagsfähigkeit.
- Counterforce-Doktrin/Countervailing-Strategie: eine in den USA unter Präsident Jimmy Carter entwickelte Strategie, die eine Flexibilisierung des Nukleararsenals und den Ausbau der Angriffsfähigkeiten gegenüber feindlichen (lies: sowjetischen) strategischen Kernwaffen vorsieht, um flexible Optionen unterhalb einer massiven Vergeltung zu ermöglichen. Die Countervailing-Strategie ergänzte ab 1980 durch die US-Präsidentendirektive (PD 59) die Counterforce-Doktrin und führte u. a. zur Entwicklung von „Erdpenetrationskörpern“ (Raketen, Bomben) gegen gehärtete Ziele.
- Global Strike (weltweiter Schlag): Bestandteil einer US-Militärstrategie zur möglichen weltweiten Zerstörung von strategischen und taktischen Zielen mit konventionellen und nuklearen Mitteln und deren Zusammenfügung in einen einzigen Operationsplan OPLAN 8022. Die Bekämpfung von Proliferationszielen ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Konzeptes.
Strategien der UdSSR / Warschauer Vertrag
- 1951 befahl der sowjetische Regierungschef Generalissimus Josef Stalin die Entwicklung von Strategien für den Nuklearkrieg. Die Sowjetarmee sah ebenfalls den Präventivkrieg als Option vor. Nikita Sergejewitsch Chruschtschow erklärte am 14. Januar 1960 vor dem Obersten Sowjet, dass der globale Atomkrieg eine strategische Option sei, die es erlaube, „das Land oder die Länder, die uns überfallen … buchstäblich dem Erdboden gleichzumachen“. 1952 sollte Marschall Pawel Fjodorowitsch Schigarew eine strategische Bomberflotte der UdSSR aufbauen, die in der Lage sein sollte, die USA mit Nuklearwaffen anzugreifen. Entsprechende Luftstützpunkte wurden 1952 in Dikson und auf der Schmidt-Insel eingerichtet, von wo aus modifizierte Tupolew Tu-4 regelmäßig im internationalen Luftraum nahe den US-Basen in Kanada und auf Grönland Einsatzflüge unternahmen.
- Unter Leonid Iljitsch Breschnew wurde ab 1965 eine Doppelstrategie propagiert. Demnach sollte die UdSSR einen Nuklearkrieg nicht führen, wenn er nicht von den USA bzw. der NATO aufgezwungen werde. Wenn ein Atomkrieg notwendig sei, müsse er auch geführt werden. Notfalls sei ein Präventivschlag denkbar.
- Perimetr (Tote Hand), steht für ein Atomwaffen-Führungssystem, das im Falle eines nuklearen Enthauptungsschlags, der die sowjetische Führung aktionsunfähig gemacht hätte, einen allumfassenden Gegenschlag automatisch auslösen sollte.
- Erst unter Michail Sergejewitsch Gorbatschow entwickelte man ab 1987 eine neue Strategie, die der Verhinderung einer militärischen Auseinandersetzung gegenüber der Vorbereitung auf einen möglichen kommenden Krieg Priorität gab.
Siehe auch
- Verzicht auf den Ersteinsatz
- Strategic Defense Initiative
- Pakistanische Nukleardoktrin
- Blue Peacock, britisches Atomwaffenprogramm
Literatur
- Bruce G. Blair: Strategic Command and Control. Redefining the Nuclear Threat. Brookings Institution, Washington D.C. 1985, ISBN 0-8157-0981-1.
- Paul Bracken: The Command and Control of Nuclear Forces. Yale University Press, 1985, ISBN 0-300-03398-2.
- Lawrence Freedman: The Evolution of Nuclear Strategy. 3. Auflage. Palgrave, Basingstoke 2003, ISBN 0-333-97239-2.
- Herman Kahn: On Thermonuclear War. Princeton University Press, 1960.
- Fred Kaplan: The Bomb: Presidents, Generals, and the Secret History of Nuclear War. Simon & Schuster, New York 2020, ISBN 978-1-9821-0729-1.
- Henry Kissinger: Kernwaffen und auswärtige Politik. München 1959.
- Martin J Sherwin: Gambling with Armageddon: Nuclear Roulette from Hiroshima to the Cuban Missile Crisis, 1945-1962. Knopf, New York 2020, ISBN 978-0-525-65931-0.
Quellen
- Michio Kaku, Daniel Axelrod: To Win a Nuclear War. The Pentagon’s Secret War Planes. South end Press, Boston 1987.
- vgl. die ausführliche Darstellung unter The Creation of SIOP-62 More Evidence on the Origins of Overkill National Security Archive Electronic Briefing Book No. 130, gwu.edu, 13. July 2004.
- MC 14/3 (Final) (PDF; 186 kB)
- Flexible Response- das Konzept der abgestuften Abschreckung
Weblinks
- Atomwaffen A-Z Strategische Triade
- Simon Rohling: Russische Doomsday-Machine (Telepolis, 15. September 2007 - vgl. Doomsday)
- Atomwaffen A-Z SIOP
- Adam N. Stuhlberg: Russlands nuklearer Drahtseilakt. In: Russlandanalysen Nr. 153 (PDF; 512 kB)