National Health Service
National Health Service (NHS; deutsch Nationaler Gesundheitsdienst) bezeichnet das staatliche Gesundheitssystem in Großbritannien und Nordirland.
Der NHS agiert in vier weitgehend eigenständigen Organisationen in England, Wales, Schottland und Nordirland und versorgt rund 65,5 Millionen Menschen medizinisch. 2015 hatte der NHS ein Finanzvolumen von umgerechnet 251,2 Milliarden Euro.[1]
Insgesamt beschäftigten die vier regionalen Bereiche 2016 um die 1,7 Mio. Angestellte.[2] Zum Vergleich, 2014 waren 2,1 Mio. Angestellte im britischen Gesundheitswesen tätig. Aufgeteilt sind dies 1.789.586 in England, 198.368 in Schottland, 110.292 in Wales and 66.797 in Nordirland.[3] 2017 waren im Vereinigten Königreich 691.000 Krankenschwestern registriert, knapp 2000 weniger als im Vorjahr. Damit sank zum ersten Mal seit 2008 die Zahl der Pflegekräfte.
Der NHS behandelt alle 24 Stunden knapp eine Million Patienten. Mit 1,7 Mio. Angestellten ist das Unternehmen der fünftgrößte Arbeitgeber der Welt, genauso wie die größte nicht-militärische Organisation in öffentlicher Hand.[4][5] Zudem verfügt der NHS seit 2005 über eine elektronische nationale Patientenakte sowie ein von der NHS Digital verwaltetes nationales Krankenhausinformationssystem.[6]
Der National Health Service wurde 1948[7][8] unter Premierminister Clement Attlee gemäß dem so genannten Beveridge-Report gegründet. Er wird weitgehend aus dem Budget des Gesundheitsministeriums mittelbar über die Staatliche Agentur Public Health England (PHE) finanziert und garantiert jeder in Großbritannien wohnhaften Person medizinische Versorgung im primären (Hausarzt) und sekundären Bereich (Krankenhäuser). Reisende aus der EU bzw. dem EWR haben im Notfall ebenfalls Anspruch auf gebührenfreie medizinische Versorgung.[9]
Geschichte
Der National Health Service wurde 1948[7][8] nach dem Zweiten Weltkrieg unter Premierminister Clement Attlee gegründet. Die Labour-Regierung bezog die Empfehlungen des Beveridge-Report ein. Gesundheitsminister Aneurin Bevan setzte die Gründung des öffentlichen und zentralen Gesundheitssystems auch gegen die Opposition der niedergelassenen Ärzte durch.
Während in Deutschland der wilhelminische Ansatz eines Gesundheitssystems, das durch einkommensabhängige Sozialversicherungsbeiträge finanziert wird, seit seiner Etablierung bis heute fortbesteht,[10] basiert das System im Vereinigten Königreich auf der grundlegenden Idee des Wohlfahrtsstaates. Der NHS soll jeder in Großbritannien wohnhaften Person medizinische Versorgung im primären Bereich (Hausarzt) und im sekundären Bereich (Krankenhäuser) zur Verfügung stellen. Reisende aus der EU bzw. dem EWR haben im Notfall ebenfalls Anspruch auf gebührenfreie medizinische Versorgung.[9]
Nach der Gründung bis in die 1990er Jahre
In den Anfangsjahren des NHS übertrafen die Betriebskosten schnell die ökonomischen Prognosen zum Betrieb des Systems. Gebühren für Rezepte zur Deckung der steigenden Kosten wurden in Betracht gezogen. In den 1960er Jahren wuchs der NHS stark und das Gesundheitswesen allgemein erlebte auch durch die Entwicklung neuer wirksamer Medikamente in diesem Zeitraum einen positiven Schub.
Nachdem der wirtschaftliche Optimismus der 1960er Jahre nachließ, wurde der NHS 1974 erstmals stark umstrukturiert. In den 1980er Jahren wurden unter der Thatcher-Regierung verstärkt Managementmethoden eingeführt, die auf Angebot-und-Nachfrage-Kriterien basierten. Doch auch unter Margaret Thatcher, die soziale Ungleichheit hinnahm und etliche andere Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge zurückfuhr, konnte nach Einschätzung der Journalistin Jessica Brain der NHS seine Grundaufgabe weiter erfüllen.[11]
Gesundheitsreform und Brexit (2010–2019)
Premierminister David Cameron (Conservative Party), betrieb nach eigenen Bekunden die „radikalste NHS-Reform seit Jahrzehnten“.[12] Im Januar 2011 erfolgte die zweite Lesung seines Health and Social Care Act 2012 im Parlament. Cameron wollte die Ausgaben im Gesundheitswesen von umgerechnet 115 Milliarden Euro pro Jahr bis 2015 um 18 Milliarden Euro senken und vor allem die Verwaltung umstrukturieren. Das Gesetz sah eine stärkere Konkurrenz von Staats- und Privatmedizin vor und schaffte etliche NHS-Agenturen ab. Eine wesentliche Änderung war, dass die Zuständigkeit für die allgemeine Gesundheitsversorgung mittels des NHS dem Gesundheitsministerium entzogen und der neu gegründeten staatlichen Agentur Public Health England zugeschlagen wurde.
Im Mai 2017 legte die Ransomware „WannaCry“, von der insgesamt 70 Länder betroffen waren, Krankenhäuser und andere Einrichtungen des NHS in ganz Großbritannien lahm. Laborberichte und Patientendaten konnten nicht eingesehen werden. Viele Krankenhäuser schlossen und waren nur für akut lebensbedrohte Patienten erreichbar; viele Operationen und Krebsbehandlungen wurden ausgesetzt.[13][14][15]
Der Brexit wirkte sich auch erheblich auf die Personalstruktur im NHS aus. Viele Angestellte aus dem EU-Ausland wanderten wieder ab.
Pandemie 2020
Als die Corona-Pandemie 2020 weltweit die Gesundheitssysteme stark beanspruchte, wurde klar, dass der NHS in etlichen Bereichen durch jahrelange Einsparungen nicht ausreichend für die Großlage gewappnet war.[17] Der bestehende Personalmangel hatte sich durch die Ausreise etlicher EU-Ausländer nach dem Brexit nochmals verschärft. Ein großer Teil des medizinischen Personals hatte sich zudem infiziert; laut Royal College of Physicians war zeitweise jeder vierte Mediziner des NHS „krank oder in Isolation“. Zeitweise lag der Krankenstand laut RCP an manchen Orten bei bis zu 50 Prozent.[17] Die Zahl der Intensiv-Betten im NHS liegt unterhalb des Europäischen Durchschnitts. Wegen dieses Mangels an Betten auf Intensivstationen musste das Britische Militär einspringen und baute sieben Feldkrankenhäuser mit mehreren tausend Intensivbetten auf.[18]
Rund 20.000 ehemalige NHS-Angestellte erklärten sich bereit, in der Krise auszuhelfen. Außerdem rekrutiert die Regierung von Boris Johnson in der Pandemie beschäftigungslose Flugbegleiter.
Organisation
Der NHS untersteht direkt dem Gesundheitsministerium. Vom Umfang dessen Budget ist der Betrieb des NHS abhängig. Der NHS ist stark nach dem Top-Down Prinzip gegliedert. Auch historisch bedingt agieren vier weitgehend eigenständigen Organisationen für die Teile des Landes:
- NHS England in England
- NHS Wales in Wales (Walisisch: GIG Cymru, Gwasanaeth Iechyd Gwladol Cymru)
- NHS Scotland in Schottland (Gälisch: SNS Alba, Seirbheis Slàinte na h-Alba)
- HSC, Health and Social Care in Northern Ireland in Nordirland.
General Practitioner und Facharzt-System
Vergleichbar mit den Hausärzten im deutschsprachigen Raum sind die General Practitioners (GPs). Das NHS betreibt flächendeckend Allgemeinarzt-Praxen, in denen teilweise mehrere angestellte Ärzte arbeiten und die administrativen Aufgaben ein Praxismanager übernimmt[19]. Fachärzte aller Bereiche sind ausschließlich in Krankenhäusern angesiedelt. GPs überweisen ihre Patienten bei Bedarf zu einem solchen; Patienten können jedoch nicht selbständig einen Facharzt aufsuchen. Während zeitweise die Patienten einem NHS-Allgemeinmediziner zugewiesen wurden, steht heute die Praxis-Wahl den Patienten weitgehend offen.
Versorgungsquote
Im Rahmen des NHS praktizierten 2016 rund 236.800 lizenzierte Ärzte, womit auf einen Arzt 277 Briten kamen. Die Gesamtausgaben des britischen Gesundheitssystems beliefen sich im Jahr 2015 auf 251,2 Milliarden Euro, was 9,9 Prozent des BIP des Landes entsprach. Bezogen auf die damalige Einwohnerzahl wurden pro Brite im Durchschnitt 3857 Euro für dessen Gesundheit aufgewendet.[1]
Literatur
- British Medical Association: Academic medicine in the NHS: driving innovation and improving healthcare, Juli 2008
- Department of Health: Sixty years of the National Health Service: a proud past and a healthy future, Juli 2008
Weblinks
- Offizielle Website
- Lecture on the Origins of the NHS, Gresham College
- Interview mit Florian Weis zum NHS auf YouTube, April 2020
Einzelnachweise
- UK Health Accounts: 2015 (Accessed August 23rd, 2017)
- 10 truths about Britain's health service, Guardian. 18. Januar 2016. Abgerufen am 19. Januar 2016.
- Andy Cowper: Visible and valued: the way forward for the NHS's hidden army, Health Service Journal. 23. Mai 2016. Abgerufen am 28. Juli 2016.
- Nick Triggle: 10 charts that show why the NHS is in trouble (en-GB). 24. Mai 2018. Abgerufen am 6. Oktober 2019.
- Robert Tombs: The English and Their History. Vintage Books, 2014, S. 864.
- NHS Connecting for Health:Delivering the National Programme for IT. Archiviert vom Original am 10. August 2006. Abgerufen am 4. August 2006.
- The history of the NHS in England
- How the Medical Aid Society started... Tredegar Development Trust (TDT), abgerufen am 30. Januar 2010
- Vereinigtes Königreich: Reise- und Sicherheitshinweise. Auswärtiges Amt, abgerufen am 30. März 2011.
- Welcome to NHS at 60 from the BMJ and Kings Fund, bmj.com
- The Birth of the NHS. Abgerufen am 16. April 2020 (britisches Englisch).
- RP ONLINE: London: Camerons radikale Gesundheitsreform. Abgerufen am 16. April 2020.
- Josh Parry: Full list of hospitals and surgeries targeted by NHS cyber attack. In: liverpoolecho. 12. Mai 2017 (liverpoolecho.co.uk [abgerufen am 12. Mai 2017]).
- The terrifying message that just appeared in hospitals across England. In: The Independent. 12. Mai 2017 (independent.co.uk [abgerufen am 12. Mai 2017]).
- Russian-linked cyber gang blamed for NHS computer hack using bug stolen from US spy agency. In: The Telegraph. (telegraph.co.uk [abgerufen am 12. Mai 2017]).
- Carmen Aguilar: Der Brexit wirkte sich stark auf die Zahl der EU-Ausländer beim einstmals attraktiven Arbeitgeber NHS aus. (Absolute Zahlen je Jahr, nur für England). In: VoxEurop/EDJNet, 29. Mai 2018. Abgerufen am 30. August 2018.
- NHS: Großbritanniens Corona-Tragödie. In: Capital.de. 4. April 2020, abgerufen am 16. April 2020 (deutsch).
- Niklaus Nuspliger: Corona-Krise: Der Gesundheitsdienst NHS ächzt unter den Folgen. In: Neue Zürcher Zeitung. (nzz.ch [abgerufen am 16. April 2020]).
- Deutscher Ärzteverlag GmbH, Redaktion Deutsches Ärzteblatt: Als Allgemeinarzt in England: Rundum zufrieden. 26. September 2003, abgerufen am 16. April 2020.