Mendele Moicher Sforim
Mendele Moicher Sforim (geb. 21. Dezember 1835jul. / 2. Januar 1836greg. in Kopyl bei Minsk; gest. 25. Novemberjul. / 8. Dezember 1917greg. in Odessa; jiddisch מענדעלע מוכר־ספרים Transkription mendele mojxer-sforim; hebräisch מנדלי מוכר ספרים; jiddische und aschkenasische Aussprache: Mendele Mojcher Sforim, sephardische Aussprache: Mendele Mocher Sefarim; wörtlich deutsch „Mendele der Buchhändler“,[1] eigentlich Scholem Jankew Abramowitsch) war ein vor allem jiddischer, aber auch hebräischer[2] Schriftsteller. Er gilt als „Großvater“ (jiddisch sejde)[3] der neujiddischen Literatur und hat ihr mit seiner geschliffenen Prosa Weltruf verschafft. Mendele ist, vor Scholem Alejchem (der sich stets als Mendeles „Enkel“ bezeichnet hat) und Jitzchok Leib Perez, der älteste der sogenannten drei Klassiker der jiddischen Literatur.
Leben
Schon seit früher Jugend lernte Abramowitsch Hebräisch, Bibel und Talmud. Nach dem Tod seines Vaters verließ der knapp 13-jährige Mendele seinen Geburtsort, zog als wandernder Student umher und besuchte verschiedene Jeschiwot. Auf seinen Reisen durch Litauen, Wolhynien, Podolien und die Ukraine nahm er zahlreiche Eindrücke des jüdischen Lebens auf, die später in seinen Werken ihren Niederschlag fanden. In Podolien hatte er bei dem damals berühmten Schriftsteller Abraham Bär Gottlober Aufnahme gefunden und dort Deutsch, Russisch und die neueste Aufklärungsliteratur studiert, danach ein reguläres Studium aufgenommen, das Lehrerdiplom erworben und einige Jahre an einer staatlichen Schule als Lehrer gearbeitet.
Von 1853 bis 1858 hielt sich Mendele in Kamenz auf, wo er die Tochter eines Anhängers der Haskala heiratete. Diese erwies sich jedoch als psychisch instabil, und die Ehe ging in die Brüche. In Berditschew, wo er von 1858 bis 1869 lebte, heiratete er ein zweites Mal, und dieses Mal hielt die Ehe. Fortan lebte er bis 1881 in Schytomyr (wo er das Rabbinerdiplom erwarb) und für den Rest seines Lebens (abgesehen von einem zweijährigen Aufenthalt in Genf, 1905–1907) in Odessa, wo sich eine große und wohlhabende jüdische Gemeinde befand. Hier, in einem Zentrum der Aufklärung, betätigte er sich als Lehrer und wurde Leiter der jüdischen Gemeindeschule Talmud-Torah.
Mendeles Wirken und sein literarisches Werk bewegen sich zwischen gegensätzlichen Polen: auf der einen Seite satirische Beschreibung des Ghettojuden, auf der anderen Seite verzeihende Liebe und Engagement für das jüdische Volk. Oftmals sind beide Tendenzen im selben Werk zu finden. In seiner Jugend war er ein Anhänger der jüdischen Aufklärung (Haskala), wobei er der Assimilation der Juden grundsätzlich kritisch gegenüberstand, und wandte sich dann im Alter dem Zionismus zu. In einer auf hebräisch geschriebenen Erzählung von 1894/95 (Die himmlische und die irdische Akademie) beschreibt er die Spaltung zwischen Befürwortern der Assimilation, orthodoxen Juden und Anhängern der neuen Zionsbewegung (Chowewe Zion). Der Autor selbst, der in der Erzählung unter seinem Namen auftritt, zählt zwar viele Argumente der Parteien auf, kann sich aber für keinen eigenen Standpunkt entscheiden.
Mendele gilt als Begründer der modernen jiddischen Literatur, die ab seiner ersten Publikation in jiddischer Sprache einen Aufschwung erlebte. Das Jahr 1864 wird deshalb als Meilenstein in der Geschichte dieser Literatur angesehen. Mendele zeichnete humorvoll und realistisch das Bild der Juden aus dem Ansiedlungsrayon. Die fiktiven Ortsnamen (etwa „Dümmingen“ oder „Schnorringen“) in seinen Werken deuten auf Ignoranz und fehlenden praktischen Sinn der Bewohner. Während seines ganzen Lebens schrieb er sowohl jiddisch als auch hebräisch. Oftmals erzielt er überraschende Wirkungen, indem er Redewendungen aus dem biblischen Kontext auf Tagesfragen überträgt. Die Qualität seines neuen hebräischen Stils beschreibt er wie folgt: „Lasst uns einen hebräischen Stil schaffen, ein lebendiges Wesen, das klar und deutlich spricht, wie es Menschen hier und heute tun, und lasst seine Seele jüdisch sein.“
Werke (Auswahl)
- Mischpass Scholojm. Wilna 1860 (Sammlung verschiedener Schriften).
- Toledos hatewo.[4] 1862–72.
- Doss klejne menschele.[5] Odessa 1864.
- Doss wuntschfingerl.[6] (Der Wunschring. jiddisch: Warschau 1865, Mendeles erster jiddischer Roman; hebräisch, von Mendele selbst übersetzt: Be emek habacha, Das Tränental 1897/98; deutsche Erstausgabe: Jüdischer Verlag, Berlin 1925; zuletzt zusammen mit Fischke der Krummer bei Walter, Olten 1961).
- Ho owojss we ha-bonim.[7] (Väter und Söhne, hebr., Roman). Schitomir 1867.
- En Mischpas.[8] Schitomir 1867.
- Diwre hajomim liwne harussim.[9] Odessa 1868.
- Fischke der Krummer.[10] (Der lahme Fischke, jiddisch: Schitomir 1869, deutsch von Alexander Eliasberg, Der Luftballon, Schitomir 1869; erweitert, jiddisch: Schitomir 1888; hebräisch 1901; weitere deutsche Ausgabe: Loewit-Verlag, Wien und Berlin 1918; Fischke der Lahme: Bettlerroman. Reclam, Leipzig 1994, ISBN 3-379-01496-6; Fischke der Krumme. Tredition Classics, Hamburg 2012, ISBN 978-3-8472-6712-6).
- Di taksse.[11] Schitomir 1869 (russisch von J. M. Petrikowski).
- Der fisch. Odessa 1870.
- Di kliatsche.[12] (Das Lastpferd, Die Schindmähre, Die Mähre, jiddisch: Wilna 1873; polnisch: Warschau 1886; hebräisch 1901; deutsche Erstausgabe: Jüdischer Verlag, Berlin 1924; zuletzt Goldmann, München 1988, ISBN 978-3-442-08909-3).[13]
- Der usstaw iber wojnsski pawinosst. Schitomir 1874.
- Doss jidl.[14] Warschau 1875.
- Pirke schirah.[15] Schitomir 1875.
- Luach hassocherim (Kalender für Kaufleute). Schitomir 1877.
- Majssess Binjomin haschlischi, 1878[16] (ins Polnische übersetzt von Klemens Junosza unter dem Titel Donkiszot Żydowski (= „Der jüdische Don Quichotte“, Wilna 1878; hebräisch 1896 unter dem Titel Masaot Binjamin ha-Schlischi; auch tschechisch; ins Deutsche übersetzt von Efraim Frisch unter dem Titel Die Fahrten Binjamins des Dritten, Schocken-Verlag, Berlin 1937, zuletzt bei Walter, Olten 1983, ISBN 978-3-530-56410-5; neu übersetzt von Susanne Klingenstein unter dem Titel Die Reisen Benjamins des Dritten, Hanser, München 2019, ISBN 978-3-446-26395-6).
- Luach hassocherim (Kalender für Kaufleute). Wilna 1879.
- Der Prisiw (Drama in fünf Akten). Odessa 1884.
- Schem we Japhet ba Agalah. 1890.
- Bijeme haraasch (Aus der Zeit der Pogrome). 1894.
- Bi Jeschiwa schel maalah (Humoreske). 1895.
Ohne Jahr oder Jahr nicht ermittelt:
- Bejomim hahem („In jenen Tagen“).
- Schlojmale[17] (autobiographische Erzählung)
Ausgaben (Auswahl):
- Werkausgabe in 17 Bänden 1910 anlässlich des 75. Geburtstages des Verehrten herausgegeben im Verlag seiner Verehrer Mendele (darunter ein Band Kritiken)
- Ale Werk. 22 Bände. Krakau, Warschau, New York, Wilna, 1911–1936.
Literatur (Auswahl)
- Salman Reisen: Dus Leben fun Mendale Mocher Sforim. Wilna 1918 (2. Auflage 1923).
- Schemarja Gorelik: Mendele Moicher Sforim. 1920.
- Samuel Niger: Mendele Moicher-Sforim. Originalmanuskript 1928, Neubearbeitung für den Jiddischen Kulturkongress, New York 1970.
- Nachman Meisel (Hrsg.): Dos Mendele-Buch. New York 1959.
- Der sejde Mendele. Warschau 1964.
- Theodore L. Steinberg: Mendele Mocher Sforim. Twayne, Boston 1977, ISBN 0-8057-6308-2.
- David Aberbach: Realism, caricature, and bias: the fiction of Mendele Mocher Sefarim. Littman Library of Jewish Civilization, London 1993.
- Dan Miron: Fishke. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 2: Co–Ha. Metzler, Stuttgart/Weimar 2012, ISBN 978-3-476-02502-9, S. 345–354.
- Susanne Klingenstein: Mendele der Buchhändler. Leben und Werk des Sholem Yankev Abramovitsh. Eine Geschichte der jiddischen Literatur zwischen Berdichev und Odessa, 1835–1917. Harrassowitz, Wiesbaden 2014. (= Jüdische Kultur. Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur. 27), ISBN 978-3-447-10145-5.
- Martin Walser: Shmekendike blumen. Ein Denkmal / A dermonung für Sholem Yankev Abramovitsh. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2014, ISBN 978-3-498-07387-9.
- Artikel Mendele Moicher Sforim in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie (BSE), 3. Auflage 1969–1978 (russisch)
- Martin Walser: Der Zauber und die Tragödie des Jiddischen. In seiner Literatur erfuhr ich, wie Juden fühlten, träumten, beteten: Ein Denkmal für Sholem Yankev Abramovitsh, den größten jiddischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. In: Die Welt. 20. September 2014.
Weblinks
- Literatur von und über Mendele Moicher Sforim im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Werke von Mendele Moicher Sforim im Projekt Gutenberg-DE
- Mendele Moykher Sforim. In: Encyclopædia Britannica
- Boris Sandler: Mendele Moykher Sforim. Rubrik Tog ba tog – Day by Day. In: The Forward, 5. Januar 2017 (jiddisch, mit englischen Untertiteln).
- Literatur von und über Mendele Moicher Sforim in der Universitätsbibliothek JCS Frankfurt am Main: Digitale Sammlungen Judaica
- Mendele Moicher Sforim. In: Bio-Bibliographisches Lexikon der neuen hebräischen Literatur (hebräisch)
Einzelnachweise
- Selbstgewähltes Pseudonym
- In seinen späteren Lebensjahren übersetzte er selbst einen Teil seiner jiddischen Schriften ins Hebräische
- Als „Urgroßvater der jiddischen Literatur“ wird Salomon Ettinger bezeichnet.
- Dreibändige populärwissenschaftliche Naturgeschichte, hebräisch, ursprünglich in Einzelaufsätzen erschienen im Haboker Or, Mendeles umfangreichstem Werk in hebräischer Sprache
- Das kleine Menschele oder eine Lebensbeschreibung; Kritik am Verhalten der jüdischen Gemeindeführer, die sich ungerechtfertigt bereichern
- Grundthese des Buches: Die Haskala – aber nicht die Assimilation – sei der Zauberring für eine glückliche jüdische Zukunft
- Schilderung des Kampfes zwischen der alten, traditionell-observant lebenden und der der Aufklärung anhängenden Jugendgeneration; Mendeles einziger Roman in hebräischer Sprache; ins Russische übersetzt von Löb Bienenstock, Petersburg 1868
- Zwei Abhandlungen über das russische Judentum
- Kurzgefasste russische Geschichte, angefertigt im Auftrag der „Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden Russlands“
- Fischke der krumer, a majsse fun jidische oreme lajt, mild-liebevolle Kritik an den Zuständen im Schtetl, verkörpert durch die Figur des „lahmen Fischke“, den die Gemeinde mit einer blinden Bettlerin verheiratet hat – unter Rückgriff auf eigene Jugenderlebnisse, als Mendele mit dem Bettler „Avreml dem Lahmen“ über Land zog
- Die Takse oder di Bande Städt-baale-toves: Die Takse = Die Steuer, nämlich für die Kontrolle des Koscherfleisches etc., erneut Kritik an der Geldgier der Gemeindeführung; dieses Drama führte zu weiteren Misshelligkeiten mit der Gemeindeleitung in Berditschew, die ihn schließlich veranlassten, 1869 den Ort zu verlassen
- Die Klatsche oder Zaar baale chajim: allegorische Schilderung des Schicksals des jüdischen Volkes in der Gestalt eines verwunschenen Prinzen, der in ein Lastpferd verzaubert wurde, das von allen geprügelt, vom jungen Jisrolik bei Nacht in einem Sumpf gefunden wird und ihm von seinem traurigen Los erzählt; jetzt wird die Haskala – der einstige Zauberring! – kritisiert, die Bildung verordnet, aber die soziale Not, den Hunger und Schmutz übersieht
- Die Mähre, 1924
- Geschichte des jüdischen Volkes vom Sinai bis Mendelssohn, in Versen abgefasst
- Smires, Gesänge zum Schabbat mit jiddischer Übersetzung
- Humoreske über den Typen des wirklichkeitsfremden Juden, eine Art Don Quijote, der sich, angespornt durch die Erzählungen von den verlorenen Stämmen, gleich dem großen Reisenden von Tudela auf den Weg macht, um über das Kommen des Messias Klarheit zu erlangen. Doch wird er mit seinem Begleiter Senderl schon im nächsten Dorf gefasst und in den Militärdienst gezwungen, woraus die beiden nur durch ihre völlige Untauglichkeit gerettet werden. Voll scharfer Satire schildert hier Mendele den mangelnden Realitätsbezug vieler Juden, steht jedoch zugleich ihrem Idealismus mit Sympathie gegenüber
- Deutsch von Solomon Birnbaum = Schelomo Rabbi Chaims, zuerst erschienen im Jid, Krakau; Fragment geblieben