Kollektiv
Kollektiv (von lateinisch colligere „zusammensuchen, zusammenlesen“) bezeichnet soziale Gebilde, deren Zugehörige unbestimmt nach sehr verschiedenen Gesichtspunkten zusammengefasst werden – das können etwa ein Volk, eine Religion, ein Staat, ein Unternehmen oder eine soziale Klasse sein. Andererseits gibt es spezielle handlungsorientierte Kollektive, deren Angehörige als Gruppe, Team oder Mannschaft zweckmäßig und zielgerichtet in bestimmten Handlungsgemeinschaften kooperieren.
Der Begriff in der Soziologie
In der Soziologie wird zwischen unorganisierten und organisierten Kollektiven unterschieden.
Unorganisierte Kollektive
Die Bezeichnung Kollektiv benennt in der Soziologie nach Robert King Merton (1910–2003) u. a. allgemein eine Mehrzahl von Personen, die aufgrund eines Systems von gemeinsamen Normen, Wertvorstellungen und Handlungen Gefühle der Zusammengehörigkeit entwickeln.[1] Nach dieser Definition fallen Kollektive zum Beispiel nicht unter Begriffe wie Sozialkategorie, die Personen demographisch zuordnet, oder Milieugruppe, deren Mitglieder im Gegensatz zum Kollektiv auf Grund ihres gemeinsamen sozialen Status miteinander lose und indifferent interagieren. Vergleichbar definierte Ferdinand Tönnies (1855–1936) den Begriff Samtschaft für unbestimmte, unorganisierte soziale Kollektive und betonte das Merkmal des fehlenden organisatorischen Zusammenhalts. Gemeinsame Willensentscheidungen und gemeinsame Handlungen kommen laut Tönnies nur unter speziellen Voraussetzungen zustande.
Als abstrakte Kollektive bezeichnet Leopold von Wiese soziale Gebilde wie Glaubensgemeinschaften oder ganze Nationen, die aufgrund von „Dauerwerten“ einen „überpersönlichen Charakter“ erhalten.
Organisierte Kollektive
Als politisches Kollektiv wird ein soziales Gebilde mit gemeinsamen politischen Zielen bezeichnet, dessen Mitglieder sich freiwillig organisieren, im Wesentlichen nach den Grundsätzen der Gleichheit und Gleichberechtigung – oft nach dem Prinzip des Konsenses – Entscheidungen treffen und für deren praktische Umsetzung zusammenarbeiten.
Menschen, die in Arbeits- und Handlungssystemen gemeinschaftlich tätig sind, bilden Kollektive im Sinne spezieller Handlungsgemeinschaften, wobei die geleistete Arbeit gesellschaftliche Wirkung entfaltet. Auch zur kulturellen und sportlichen Betätigung organisieren sich Menschen in Kollektiven, um etwa als Ensemble, Team oder Mannschaft gemeinsam Erfolge zu erzielen.
An das Konzept der Räterepublik angelehnt entwickelte Anton Semjonowitsch Makarenko (1888–1939) das Prinzip eines „kommunistischen Kollektivs“ in der Pädagogik.[2]
Der Begriff in der Kulturwissenschaft
Der in die Kulturwissenschaft eingeführte Begriff Kollektiv ist breiter und merkmalsoffener als jener der Soziologie. Unter Kollektiv wird jede Übereinstimmung oder Zusammenschau von Personen verstanden, die eine oder mehrere Gemeinsamkeiten aufweisen.
Der Kulturwissenschaftler Klaus P. Hansen legte 2009 in seinem Werk Kultur, Kollektiv, Nation theoretische Grundlagen für eine Kollektivwissenschaft und prägte darin unter anderem den Begriff der „Multikollektivität“.
Kollektive in der Alternativen Ökonomie
In der alternativen Ökonomie bezeichnet Kollektiv ein einen selbstverwalteten oder hierarchielosen Betrieb oder ein entsprechendes Projekt. Seit Ende der 1970er-Jahre entstand in der Alternativbewegung in Westeuropa und Nordamerika eine Vielzahl dieser Kollektive, in denen oftmals die Entscheidungsstruktur und Vergütung auf folgenden Prinzipien beruht:
- Konsensprinzip: Unter dem Konsensprinzip wird verstanden, dass die Entscheidungen in einem gemeinsamen Prozess stattfinden, dessen Ende zur Zufriedenheit aller Teilnehmenden führt.
- Prinzip der gegenseitigen Hilfe: „Gegenseitige Hilfe“ ist ein Begriff des russischen Anarchisten Peter Kropotkin, welches dem Konkurrenzprinzip gegenübersteht und auf Solidarität fußt. Die Tauschringe sind ein Beispiel für gegenseitige Hilfe.
- Prinzip der gemeinsamen solidarischen Ökonomie: Unter „gemeinsamer Ökonomie“ ist zu verstehen, dass es keine hierarchie- oder leistungsbezogenen Einkünfte gibt, sondern dass alle das gleiche Einkommen erhalten oder aber sich aus einer „gemeinsamen Kasse“ das nehmen, was sie ihrer Meinung nach benötigen. Speziell wird damit auch die Lebens- oder Arbeitsgruppe bezeichnet, in der die Gruppenaufgaben gemeinschaftlich angegangen werden und welche die Güter „zur gesamten Hand“ besitzt (siehe auch Gemeinnutz).
- Räte-Prinzip: Kollektive verstehen sich zueinander nicht als in Konkurrenz stehend, sondern streben eine Vernetzung an, die nach dem Prinzip der Rätedemokratie funktioniert, womit im Wesentlichen gemeint ist, dass keine Entscheidungsbefugnis „nach oben“ delegiert wird, sondern bei den Kollektiven zu bleiben habe.
Besondere Formen dieser Art von Kollektivität sind die Kommunen, in denen zudem noch gemeinsam gewohnt wird, was dann als zusätzliches Prinzip von dem gemeinsamen Leben und Arbeiten verstanden wird. Da in Deutschland die Rechtsformen nicht explizit auf diese Kollektive und ihre Prinzipien zugeschnitten sind, entstehen oftmals rechtliche Probleme.[3]
In den Ländern des Südens („Dritte Welt“) war die Kollektiv-Bewegung häufig Hoffnung einer Selbstbefreiung im Sinne einer politischen und gesellschaftlichen Emanzipation. Dabei konnte man in vielen Fällen an Formen der traditionellen – kollektiven – Ökonomie anknüpfen, wie im Fall der Ejidos in Ecuador oder der Ujamaa in Tansania.
Eine – als erfolgreich geltende – Form der Kollektive sind die Kibbuze in Israel. Hier wirken drei kollektiv-fördernde Faktoren zusammen:
- gemeinsame Religion oder religiöse Ideologie
- wirtschaftlicher Erfolg
- Bedrohung von außen (gemeinsamer äußerer Feind)
Das Kollektiv als Wirtschaftsform basiert auf der Vorstellung vom „homo collectivus“ der – anders als der „homo oeconomicus“ – seine Individualinteressen bewusst zugunsten gemeinsamer Interessen zurückstellt.
Kollektive im Sozialismus
In der DDR entsprach die Bezeichnung „Kollektiv“ ungefähr dem, was in der Bundesrepublik „Arbeitsgruppe“ wird. In den Volkseigenen Betrieben, den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und den Produktionsgenossenschaften des Handwerks wurde das Kollektiv als „Brigade“ bezeichnet.
In Verlautbarungen und Agitprop wurden auch große Kollektive „zitiert“, wie „die Arbeiterklasse“.[4]
Zur Propagierung des Kollektivs wurde auch bei spitzensportlichen Leistungen das Kollektiv (Trainer, Trainingsgruppe, Mannschaftsarzt, Physiotherapeut und andere) hervorgehoben.[5]
Kollektivbewusstsein
Kollektivbewusstsein (französisch conscience collective ou commune) ist ein soziologischer Begriff der Durkheim-Schule für die geistigen Eigenschaften und Werte einer Gesellschaft, die sich u. a. in Systemen wie Moral, Recht, Gewohnheiten, Sprache, Gewissen, Wissen äußern. Es ist die „Gesamtheit der Glaubensvorstellungen und Gefühle, die allen Mitgliedern derselben Gesellschaft gemeinsam sind“.[6] Allgemein ist auch die Rede von Volksseele, Kollektivseele, kollektiver Mentalität, Gruppenseele und anderen Gesamtheiten geistiger Eigenschaften eines sozialen Gebildes. Das Kollektivbewusstsein bringt die „Objektivität des sozialen Geschehens“ gegenüber den individuellen Motivationen der Menschen zum Ausdruck.[7] Die genannten, dem Kulturmenschen geläufigen geistigen Eigenschaften wurden in ähnlicher Weise auch von Lucien Lévy-Bruhl beschrieben, der sie mit den „mystischen Kollektivvorstellungen“ (représentations collectives) der Primitiven verglich (siehe auch participation mystique),[8] sowie von Carl Gustav Jung, der das Konzept eines kollektiven Unbewussten erarbeitete (vergleiche auch Archetyp (Psychologie)).
Nach Alfred Vierkandt bilden die Angelegenheiten einer sozialen Gruppe die kollektiven Bewusstseinsinhalte, die das kollektive Subjekt in Form des „Wir“ gegenüber dem individuellen „Ich“ formuliert.
Kritik
Kritik an kollektiven Organisationsformen
Das Modell der „Tragik der Allmende“ legt nahe, dass kollektives Eigentum zu einer erhöhten Ausbeutung der Ressourcen etwa durch Trittbrettfahrerverhalten der einzelnen Mitglieder führt. Dies ist jedoch umstritten (siehe Tragik der Anti-Allmende).
Begriffskritik
Kritiker der Bildung von „Kollektiven“ unterstellen, dass dabei das Bewusstsein des Einzelnen durch das Bewusstsein der Gruppe als Gesamtheit verdrängt werde (oder schärfer, dass das „Bewusstsein der Gruppe“ eine ideologische Fiktion zur Knutung des Einzelnen sei). An die Stelle der persönlichen Verantwortung trete die Verantwortlichkeit der Gruppe (siehe auch Kollektivismus und Soziologie).
Siehe auch
Literatur
- Gabriel Kuhn: Jenseits von Staat und Individuum. Individualität und autonome Politik. Unrast, Münster 2007, ISBN 978-3-89771-457-1.
- Klaus P. Hansen: Kultur, Kollektiv, Nation. Schriftenreihe der Forschungsstelle Grundlagen Kulturwissenschaft, Band 1. Karl Stutz, Passau 2009, ISBN 978-3-88849-181-8.
- Jörg Scheffer (Hrsg.): Wir, die oder alle? Kollektive als Mittler einer komplexen Kulturwirklichkeit (= Interculture Journal. Band 1). Tagungsband der Forschungsstelle Grundlagen Kulturwissenschaft. Passau, September 2009 (PDF: 1,4 MB, 88 Seiten auf interculture-journal.com).
Kollektive in der alternativen Ökonomie:
- Johannes Berger (Hrsg.): Selbstverwaltete Betriebe in der Marktwirtschaft. AJZ, Bielefeld 1986, ISBN 3-921680-60-3.
- Wolfgang Beywl: Betriebe in Selbstverwaltung: Eine empirische Untersuchung in Nordrhein-Westfalen. Verlag für Wissenschaftliche Publikationen, Darmstadt 1990.
- Jürgen Daviter, Volkmar Gessner, Armin Höland: Selbstverwaltungswirtschaft: Gegen Wirtschaft und Recht? AJZ, Bielefeld 1987.
- Ulrich Burnautzki u. a.: Unter Geiern: Ein Leitfaden für die Arbeit in selbstverwalteten Projekten. Stattbuch, Berlin 1984.
- Arbeitsgruppe Projektberatung (Hrsg.): Der Schatz im Silbersee: Ein Finanzierungsleitfaden für selbstverwaltete Betriebe und Projekte. Stattbuch, Berlin 1984.
- Roland Spliesgart: Landwirtschaftliche Kollektive als Alternative? Eine Fallstudie in Landreformsiedlungen in Brasilien. Lit, Münster/ Hamburg 1995.
Weblinks
Einzelnachweise
- Robert K. Merton: This Week’s Citation Classic. In: CC. Nr. 21, 26. Mai 1980, S. 285 (englisch; Besprechung seines eigenes Zitat aus seinem Buch Social Theory and Social Structure 1949; PDF, 100 kB, 1 Seite auf library.upenn.edu).
- Anton Semjonowitsch Makarenko: Der Weg ins Leben. Ein pädagogisches Poem. Aufbau, Berlin 1971 (russische Version online auf makarenko-museum.narod.ru – original: Педагогическая поэма).
- Harald Deerberg: Man versteht sich ja so gut… Rechtliche Probleme in und mit Kollektiven. In: Contraste – Monatszeitung für Selbstorganisation. 18. April 2005 (online auf contraste.org (Memento vom 28. September 2007 im Internet Archive)).
- Franziska Becker u. a. (Hrsg.): „das kollektiv bin ich“: Utopie und Alltag in der DDR. Böhlau, Köln u. a. 2000, ISBN 3-412-13900-9, S. ?? (Begleitbuch zur Ausstellung).
- Klaus Huhn: Gustav-Adolf Schur: der Star und das Kollektiv. In: Arnd Krüger, Swantje Scharenberg: Zeiten für Helden: Zeiten für Berühmtheiten im Sport (= Schriftenreihe des Niedersächsischen Instituts für Sportgeschichte. Band 22). Lit, Münster 2014, ISBN 978-3-643-12498-2, S. ??.
- Émile Durkheim: De la division du travail social. 7. Auflage. 1893. Paris 1960, S. ?? (deutsch: Über soziale Arbeitsteilung. 3. Auflage. 1988).
- Lexikoneintrag: Kollektivbewußtsein. In: Karl-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie (= Kröners Taschenausgabe. Band 410). 4., überarbeitete und ergänzte Auflage. Kröner, Stuttgart 1994, ISBN 3-520-41004-4, S. 421.
- Lucien Lévy-Bruhl: Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures. 9. Auflage. 1910. Les Presses universitaires de France, Paris 1951, S. 27 (online auf classiques.uqac.ca).