Keir Starmer
Sir Keir Rodney Starmer [kɪə ˈstaːmə] KCB, QC, PC (* 2. September 1962 in Southwark, London) ist ein britischer Anwalt und Politiker. Er ist Mitglied der Labour Party und seit dem 4. April 2020 deren Vorsitzender.[1] Damit ist er auch Leader of Her Majesty’s Most Loyal Opposition (Oppositionsführer) im Unterhaus des britischen Parlaments.
Ausbildung und berufliche Karriere
Keir Starmer ist der Sohn einer Krankenschwester und eines Werkzeugmachers. Als starke Unterstützer von Labour benannten sie Keir nach dem ersten Parteiführer der Partei, Keir Hardie.[2] Durch gute schulische Leistungen erlangte er Zugang zur Grammar School (vergleichbar mit dem deutschen Gymnasium). Nach dem Schulabschluss studierte er Rechtswissenschaften an der University of Leeds, wo er zum Bachelor of Laws (LLB) graduierte, anschließend erwarb er an der Universität Oxford den Bachelor of Civil Law (CBL). 1987 wurde er als Anwalt zugelassen. Ab 2003 war er Menschenrechtsberater der Polizeibehörde von Nordirland (Northern Ireland Policing Board).[3] Von 2008 bis 2013 wirkte er als Direktor des Crown Prosecution Service, der britischen Staatsanwaltschaft.[4] In dieser Zeit betrieb er die Strafverfolgung gegen den Minister für Energie und Klimawandel Chris Huhne, die zu dessen Rücktritt führte. Außerdem verschärfte er die Strafverfolgung von Jugendlichen. So verloren Verdächtige unter 18 Jahren ihr Recht auf Anonymität in der Presse.[5]
Politik
Keir Starmer ist Mitglied des britischen Parlamentes und vertritt dort seit 2015 den Londoner Wahlkreis Holborn and St Pancras, der als ein sicherer Labour-Wahlkreis gilt. Diesen Wahlkreis konnte er in der Unterhauswahl 2019 verteidigen.[6] Nach dem Rücktritt von Ed Miliband galt er bei der folgenden Wahl des Labour-Parteivorsitzenden 2015 als möglicher Kandidat, trat jedoch aufgrund seiner geringen parlamentarischen Erfahrung nicht an und unterstützte stattdessen Andy Burnham. Im Schattenkabinett des neuen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn hatte er zunächst die Funktion eines Schatten-Ministers im Innenressort (Shadow Home Office Minister) inne.
Beim EU-Mitgliedschaftsreferendum 2016 setzte er sich für den Verbleib in der Europäischen Union ein. Nach dem Referendum trat er mit zahlreichen anderen prominenten Labour-Politikern aus Protest gegen die Haltung des Parteivorsitzenden Corbyn aus dessen Schattenkabinett aus und forderte einen Wechsel der Parteiführung. In den daraufhin anberaumten Wahlen zum Parteivorsitz unterstützte er Owen Smith gegen Corbyn. Nachdem Letzterer jedoch gewann, berief er im Oktober Starmer zum Brexit-Schattenminister (Shadow Secretary of State for Exiting the European Union). Starmer gab dafür seine Beraterposition bei einer auf Menschenrechtsfälle spezialisierten Rechtsanwaltskanzlei auf. Er folgte der Linie Corbyns, das Referendum zu respektieren, und stimmte daher trotz seiner proeuropäischen Haltung dafür, die Regierung zu autorisieren, den Austrittsantrag an die EU zu stellen, was im März 2017 durch den Brief von Premierministerin Theresa May nach Artikel 50 des EU-Vertrages geschah. Die von der Premierministerin dem Parlament zur Abstimmung vorgelegten Verträge zum Austritt lehnte er jedoch ab. Seit 2016 sprach er sich für ein zweites Referendum über den in Vorbereitung befindlichen Brexit-Vertrag aus. Entgegen der neutralen Haltung des Parteivorsitzenden Corbyn setzte er sich für eine klare Positionierung der Labour-Partei zugunsten des Verbleibs des Vereinigten Königreichs in der EU ein. Gleichzeitig forderte er einen fundamentalen Wandel, was die Niederlassungsfreiheit in der EU angeht, und konzedierte, dass die Immigration in das Vereinigte Königreich zu hoch sei. Er setzte sich für eine künftige Niederlassungsfreiheit von Arbeitnehmern ein, während die Niederlassungsfreizüigkeit an sich abgeändert werden solle.[Beleg benötigt]
Kandidat | Stimmen | Prozent |
---|---|---|
Keir Starmer | 275.780 | 56,2 % |
Rebecca Long-Bailey | 135.218 | 27,6 % |
Lisa Nandy | 79.597 | 16,2 % |
Am 4. Januar 2020 gab Starmer seine Kandidatur für den Vorsitz der Labour Party bekannt. Seine beiden Gegenkandidatinnen waren Rebecca Long-Bailey und Lisa Nandy.[8] Umfragen prognostizierten ihm dabei gute Chancen, die Wahl zu gewinnen.[9] Starmer galt als Vertreter mittiger und pragmatischer politischer Standpunkte – im Gegensatz zum früheren Vorsitzenden Corbyn, der mit dem mittigen Kurs der Partei gebrochen hatte und der Konkurrentin Long-Bailey, die den Kurs Corbyns fortsetzen wollte.[10][11][12] Die Wahl erfolgte durch die Labour-Parteimitglieder sowie erklärte Labour-Sympathisanten und fand über drei Monate statt. Es beteiligten sich etwas über 490.000 von den 784.151 Abstimmungsberechtigten.[7] Am 4. April 2020 wurde der Wahlsieg Starmers bekanntgegeben. Durch die zeitgleich sich abspielende, die öffentliche Aufmerksamkeit fast ausschließlich in Anspruch nehmende COVID-19-Pandemie war die Wahl zu diesem Zeitpunkt in den Hintergrund getreten.[1] Am nächsten Tag berief Starmer sein Schattenkabinett, in das er sowohl den früheren Parteiführer Ed Miliband als auch die beiden unterlegenen Kandidatinnen Long-Bailey und Nandy berief. Dazu installierte er mit Anneliese Dodds die erste Frau als Schatten-Schatzkanzlerin.[13]
Unmittelbar nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden bat Starmer im Namen der Partei in seiner ersten Video-Botschaft und in einem Brief an den Deputiertenausschuss britischer Juden (Board of Deputies of British Jews) um Entschuldigung für den Antisemitismus in seiner Partei.[14] Im Juni 2020 entließ Starmer Rebecca Long-Bailey wegen Antisemitismus-Vorwürfen aus seinem Schattenkabinett. Ein Sprecher Keir Starmers wies im Zusammenhang mit der Entlassung von Rebecca Long-Bailey darauf hin, dass der Labour-Vorsitzende die Wiederherstellung des Vertrauensverhältnisse mit der jüdischen Gemeinde als höchste Priorität eingestuft habe.[15] Starmer erhielt für die Entlassung die Zustimmung diverser jüdischer Organisationen in Großbritannien und vieler MPs, die den ehemaligen Parteiführern Tony Blair und Gordon Brown nahestehen. Kritik an der Entscheidung kam vom linken Parteiflügel. Erste Blitz-Umfragen auf YouGov zeigten tags darauf, dass eine Mehrheit sowohl in der Bevölkerung als auch in der Labour-Partei Starmers Entscheidung begrüßte.[16] An Long-Baileys Stelle berief Starmer Kate Green ins Schattenkabinett.[17]
Als Oppositionsführer kritisierte Starmer wiederholt die konservative Regierung in der Coronakrise für ihr Missmanagement. Vor allem beklagte er die fehlenden Testkapazitäten und in dieser Hinsicht den Unterschied zwischen den Versprechungen der Johnson-Regierung und der Realität.[18][19] Im Zuge der ausufernden Black Lives Matter-Proteste in Großbritannien und des Streits um die Entfernung von Statuen historischer Größen nahm Starmer eine Mittelposition ein. So kritisierte er die Protestler, die in Bristol eigenmächtig die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston niedergerissen und im Hafen versenkt hatten, räumte jedoch ein, dass die Statue gar nicht erst hätte aufgestellt werden oder schon vor langem hätte entfernt werden müssen.[20]
Diverse Wahlniederlagen bei den Regionalwahlen im Mai 2021 (u. a. in Hartlepool) wurden als Rückschlag und Verlust an Autorität für Keir Starmer gewertet.[21] Starmer nahm mit Anschluss an die Wahlen eine Umbildung des Schattenkabinetts vor.[22] Er wurde dafür kritisiert, die Interessen der Arbeiterklasse vernachlässigt zu haben.[23][24][25][26][21]
Politische Positionen
Starmer wird als Vertreter der „soften Linken“ beschrieben, dem Flügel der Labour-Partei, der auch Ed Miliband, Angela Rayner und Sadiq Khan angehören. Sein früherer Kollege Gavin Millar bezeichnete ihn als einen rotgrünen Politiker, eine Umschreibung, die Starmer selbst ebenfalls akzeptierte.[27] Starmer plädiert für weitere Investitionen in den öffentlichen Sektor, vor allem den NHS. Weiterhin ist er dafür, die Studiengebühren abzuschaffen.[28] Starmer spricht sich außerdem gegen die Unabhängigkeit Schottlands aus.[29] 2021 sprach er sich gegen den Wunsch einiger Parteilinker aus, Steuererhöhungen für Unternehmen zu fordern.[30]
Die Politikwissenschaftlerin Eunice Goes beschrieb 2021 seine Strategie als „ideologische Stille“ (ideological quietism), was bedeutet, dass er es versuche zu vermeiden, sich auf eine konkrete politische Agenda festzulegen und mit ideologischen Standpunkten in Verbindung gebracht zu werden, um möglichst viele unterschiedliche Wählerschichten anzusprechen und zu vereinen.[12]
Kontroversen
Der bekannte Regisseur und Drehbuchautor Ken Loach, der unter der Führung Corbyns noch einen Ehrenplatz in der Partei einnahm, wurde 2021 aus der Partei ausgeschlossen, als Starmer den Parteivorsitz innehatte. Loach warf Starmer daraufhin vor, entgegen seinen Versprechen die Partei nicht einen, sondern den linken Parteiflügel vertreiben zu wollen; bereits 120.000 Mitglieder habe er vertrieben. Starmer plane einen „Rückzug von linker Innenpolitik in den Bereichen des öffentlichen Eigentums, des Wohnungsbaus, des Sozialstaats und der Umwelt“ und wolle stattdessen zurück „zur Partei von Tony Blair“.[31]
Persönliches
Starmer hat mit seiner Frau Victoria Alexander, einer Rechtsanwältin (Solicitor), die er 2007 heiratete, einen Sohn und eine Tochter. Die Kinder werden im jüdischen Glauben, der Religionszugehörigkeit seiner Frau, erzogen.[32] Im Jahr 2014 wurde Starmer für „Verdienste um Recht und Strafverfolgung“ als Knight Commander des Order of the Bath geadelt und darf sich seither Sir Keir Starmer nennen, verzichtet aber auf die Verwendung dieser Titulatur.[33]
Starmer geriet Ende Oktober 2020 in den Fokus der Medien, nachdem er einen Radfahrer anfuhr. Das Opfer erlitt leichte Verletzungen. Laut einem Sprecher Starmers blieb dieser bis zum Eintreffen des Krankenwagens am Unfallort und meldete sich einen Tag später bei der Polizei. Einem Polizeisprecher zufolge sprach Starmer vor Ort mit einem Beamten der British Transport Police, verließ den Unfallort jedoch vor dem Eintreffen der zuständigen Polizisten.[34]
Titel und Auszeichnungen
- Ernennung zum Kronanwalt (Queen’s Counsel) im Jahr 2002[35]
- Im Zuge der New Year Honours wurde er von der britischen Königin 2014 zum Knight Commander des Order of the Bath geschlagen[36]
- Vereidigung als Mitglied des Privy Council im Jahr 2017[4]
- Ehrendoktorwürden der Universitäten Essex, Leeds, East London, London SE, Reading und Worcester
- Honorary Fellowship in der St. Edmund Hall in Oxford[35]
Veröffentlichungen
- Justice in Error, Blackstone Press, 1993, ISBN 1-85431-234-0 (mit C. Walker)
- The Three Pillars of Liberty, Routledge, 1996, ISBN 0-415-09641-3 (mit F. Klug und S. Weir)
- European Human Rights Law, Legal Action Group, 1999, ISBN 0-905099-77-X
- Criminal Justice, Police Powers And Human Rights, Blackstone, 2001, ISBN 1-84174-138-8 (mit M. Strange und Q. Whitaker)
Weblinks
- Offizielle Seite (englisch)
- www.parliament.uk : Rt Hon Keir Starmer MP (englisch)
- Keir Starmer im Hansard (englisch)
Einzelnachweise
- Keir Starmer elected as new Labour leader. BBC, abgerufen am 4. April 2020 (englisch).
- Keir Starmer: 'I wouldn't characterise myself as a bleeding heart liberal . . .' Guardian, abgerufen am 29. Juni 2020 (englisch).
- Annual reports for the period 1 April 2005 - 31 March 2006. Northern Ireland Policing Board, abgerufen am 6. April 2019 (englisch).
- Sir Keir Starmer, KCB, QC. Doughty Street Chambers, abgerufen am 6. April 2019 (englisch).
- Emre Sahin: Die Wut bleibt. In junge Welt vom 6. August 2021, S. 6 (online auf jungewelt.de, abgerufen am 12. August 2021)
- Holborn & St Pancras / Parliamentary constituency. BBC, abgerufen am 13. Dezember 2019 (englisch).
- New Labour leader Keir Starmer vows to lead party into 'new era'. BBC News, 4. April 2020, abgerufen am 4. April 2020 (englisch).
- Labour leadership: Sir Keir Starmer enters race. BBC, abgerufen am 5. Januar 2020 (englisch).
- Sir Keir Starmer takes lead in race to replace Corbyn - poll. Sky News, abgerufen am 5. Januar 2020 (englisch).
- Florian Weis: Corbynism without Corbyn? - Rosa-Luxemburg-Stiftung. Rosa-Luxemburg-Stiftung, abgerufen am 7. Juli 2021 (deutsch).
- Matt Singh: Keir Starmer Is Hitting the Right Patriotic Notes. In: Bloomberg. Abgerufen am 7. Juli 2021.
- Eunice Goes: The Labour Party Under Keir Starmer: ‘Thanks, But no “isms” Please!’ In: The Political Quarterly. Band 92, Nr. 2, 2021, ISSN 1467-923X, S. 176–183, doi:10.1111/1467-923X.12995 (wiley.com [abgerufen am 7. Juli 2021]).
- Labour: Ed Miliband returns to Labour shadow cabinet. Abgerufen am 6. April 2020 (englisch).
- Grossbritannien. Neuer Labour-Chef entschuldigt sich. In: juedische-allgemeine.de 5. April 2020.
- Labour’s Rebecca Long-Bailey sacked in anti-Semitism row. Abgerufen am 25. Juni 2020 (englisch).
Rebecca Long-Bailey sacking reignites Labour turmoil over antisemitism. Abgerufen am 25. Juni 2020 (englisch).
Maxine Peake’s bizarre George Floyd claim. Abgerufen am 25. Juni 2020 (englisch).
Labour leader Sir Keir Starmer sacks Rebecca Long-Bailey over 'antisemitic conspiracy theory' article. Abgerufen am 27. Juni 2020 (englisch). - YouGov: Public back Keir Starmer's decision to sack Rebecca Long-Bailey but do not agree Boris Johnson should stand by Robert Jenrick. Abgerufen am 26. Juni 2020 (englisch).
Labour anti-Semitism row: Keir Starmer 'stands by' Long-Bailey sacking. Abgerufen am 30. Juni 2020 (englisch). - Labour party: Kate Green appointed as shadow education secretary. Abgerufen am 30. Juni 2020 (englisch).
- Keir Starmer presses Boris Johnson over 'big gap' in test and trace. Abgerufen am 24. Juni 2020 (englisch).
- Was Johnsons Regierung von Deutschland lernen will. Abgerufen am 22. April 2020.
- Keir Starmer: pulling down Edward Colston statue was wrong. Abgerufen am 8. Juni 2020 (englisch).
- Bettina Schulz: Die zerrissene Partei. In: ZEIT ONLINE. Abgerufen am 10. Juli 2021.
- "Keir Starmer's first shadow cabinet reshuffle is a bigger gamble than many realise". New Statesman, 10. Mai 2021, abgerufen am 10. Juli 2021 (englisch).
- Ronan Burtenshaw: Keir Starmer Is Dragging Down the Labour Party. In: Jacobin. Abgerufen am 7. Juli 2021 (amerikanisches Englisch).
- Michael Krätke: Großbritannien - Das Beißen verlernt. In: der Freitag. Abgerufen am 10. Juli 2021.
- Keir Starmer concedes Labour has lost the trust of working people. 7. Mai 2021, abgerufen am 10. Juli 2021 (englisch).
- Starmer: Labour has 'lost the trust of working people' after crippling Hartlepool defeat. Abgerufen am 10. Juli 2021 (englisch).
- Keir Starmer: The sensible radical. New Statesman, 31. März 2020, abgerufen am 10. Juli 2021 (englisch).
- Keir Starmer calls for end to 'scandal' of spiralling student debt. The Guardian, 11. Februar 2020, abgerufen am 10. Juli 2021 (englisch).
- "Keir Starmer opens up on foreign policy and conversations with Barack Obama". New Statesman, 21. Januar 2021, abgerufen am 10. Juli 2021 (englisch).
- John Rentoul: Keir Starmer faces a problem all of his own making over corporation tax. 27. Februar 2021, abgerufen am 10. Juli 2021 (englisch).
- Ken Loach: Keir Starmer ist wie Mr. Bean als Stalin. In: Jacobin. Abgerufen am 22. August 2021.
- After Corbyn, UK Labour elects Keir Starmer, Zionist with Jewish wife, as leader. The Times of Israel, 4. April 2020, abgerufen am 4. April 2020 (englisch).
- Labour leadership winner: Sir Keir Starmer. BBC News, 4. April 2020, abgerufen am 4. April 2020 (englisch).
- Sir Keir Starmer involved in road collision with cyclist. BBC News, 27. Oktober 2020, abgerufen am 7. November 2020 (englisch).
- Sir Keir Starmer, Honorary Fellow. St Edmund Hall, Oxford, abgerufen am 6. April 2019 (englisch).
- The New Year Honours List 2014 – Higher Awards. (PDF) assets.publishing.service.gov.uk, abgerufen am 6. April 2019 (englisch).