Karlos
Karlos ist ein Drama von Tankred Dorst, das am 6. Mai 1990 unter der Regie von Dieter Dorn in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wurde.[1]
Spanien vom 8. Juli 1560 bis zum 24. Juli 1568: Der Infant Karlos verliert den Kampf gegen den verhassten Vater König Felipe und stirbt.
Inhalt
Anlässlich des 15. Geburtstages des buckligen Infanten hat Felipe, Herrscher über ein „Weltkönigreich“, den Staatsrat, den Großinquisitor[2] und Alba gerufen. Probeweise sollen die Herren – für diese Sitzung nur – den Befehlen des Thronfolgers gehorchen. Der König will den Sohn erziehen und auf sein Amt vorbereiten. Karlos verspottet die ehrwürdigen Herren und befiehlt, der Wilde soll freigelassen werden. Der Wilde wurde aus Amerika gebracht und hängt, an Händen und Füßen gefesselt, von der Decke herab. Der Rat sträubt sich gegen den Ordre.
Einer Hure, der Kahlen Anna, erzählt Karlos aus seinem Leben. Die Mutter starb bei seiner Geburt. Karlos' Stiefmutter, die Königin von Schottland, ist auch schon verstorben. Die Zukunft des Infanten scheint gesichert. Sobald er vor aller Welt – gemeint sind sämtliche europäische Gesandten bei Hofe – seine Zeugungsfähigkeit bewiesen hat, soll er die 13-jährige Prinzessin Ysabel von Valois, Tochter der Katharina von Medici, heiraten.
Karlos wird vor dem Haus der Hure schwer kopfverletzt vom Pflaster – scheinbar tot – aufgelesen. Der Wunderheiler Fray Diego, ein halbverwester Eremit, erweckt den Infanten wieder zum Leben.
Karlos ist enttäuscht. Sein Vater heiratet ihm die begehrenswerte Kindfrau Ysabel weg.
Der König ist betrübt. Karlos hat anscheinend Geschlechtsverkehr mit seiner Frau Ysabel und konspiriert zudem mit dem niederländischen Gesandten Egmont. Der Großinquisitor weiß Rat. Eine Spionin, als Ysabel verkleidet, soll die Umsturzpläne eruieren.
Juan d'Austria, ein Freund des Infanten, hat bei Lepanto[A 1] an der Spitze der Flotte der Heiligen Liga die Türken besiegt. Karlos hat eine homoerotische Neigung zu dem Sieger von Lepanto. Doch der Großinquisitor schickt ihm einen falschen Austria ins Bett. Karlos bringt den Doppelgänger um. Der Großinquisitor, nicht faul, schickt dem Infanten eine falsche Ysabel.
„Ich bin der Gott meiner Entscheidungen!“[3] ruft Karlos bei einem umstürzlerischen Treffen unter vier Augen Egmont zu. Der pragmatische Niederländer will den Infanten auf den Boden der tagespolitischen Tatsachen holen. Vergeblich.
Karlos öffnet den Käfig des Wilden. Der Amerikaner soll den Escorial in die Luft sprengen. Das Unternehmen scheitert. Der König verhaftet den Sohn. Karlos wird in seinem Zimmer eingesperrt. Dem Infanten gelingt ein absonderlicher Suizid. Karlos tötet sich mit einer Überdosis Hasenpastete und Eiswasser.
Form
Wenn Hensel[4] die „irrealen Bilder“[5] in dem Stück – „prallvoll mit Handlung“[6] – anspricht, könnte unter anderen folgendes „Theaterfutter“[7] gemeint sein.
Karlos beißt Egmont einen Finger ab. Und der halbverweste Heilige tritt auf. Der Allgemeinzustand der sprechende Leiche ist wirklich schlecht – (Bild 17, „Feuersegel“). Schließlich ist die Kahle Anna schwanger. Geburtshelferin Ysabel kommt nicht vorwärts. Das neue Wesen, das sich ausgerechnet den mütterlichen Hals als Geburtskanal gewählt hat, sieht wie eine Kröte aus. Tankred Dorst hat auch eine Reihe von hübschen Einfällen. Etwa, wenn Karlos dem Gespräch unter Staatsmännern nicht länger folgen soll, lässt ihm der König ein Tuch über den Kopf werfen. Doch die nächste kalte Dusche prasselt sogleich auf den schwergeprüften Zuschauer hernieder. Der König liegt klagend über dem Kadaver seines Lieblingspferdes. Karlos hat das Reittier – nach Fleischermanier – abgeschlachtet. Bei mancher sprachlicher Ausgeburt stutzt der Zuschauer. Als Karlos den falschen Austria umgebracht hat, trennt er den Kopf vom Rumpf der Leiche und spottet: „Zeig mir deinen Schwanz, Kopf! Ich sehe dir zu, wie er schwillt.“[8] Und Karlos strebt eine neue Sprache an: Anstelle der Wörter sollen Taten stehen.[9]
Bei all dem oben angesprochenen Wunderlichen sagt der Katholik Karlos dem Protestanten Egmont auch größere Wahrheiten: Gott sei ungerecht. Gerechtigkeit sei eine protestantische Erfindung.[10]
Anachronismen dürfen nicht fehlen. Karlos ist von Spionen des Vaters umzingelt. Er wird aus dem Blattwerk nahe stehender Bäume heraus fotografiert.[11] Und der „Zoo“[12], in den der Amerikaner gehöre, lässt beim ersten Hinhören an einen Anachronismus denken.
Inszenierungen
- Bekes weist mit drei Bühnenfotos auf Inszenierungen hin:
- Uraufführung München[13],
- 1991, Schauspiel Bonn, Regie: Peter Palitzsch[14] (mit Hans Falár in der Titelrolle und Carmen-Renate Köper als Anna)
- Ulrich Matthes als Karlos[15].
Rezeption
- Wolfgang Höbel am 14. Mai 1990 im Spiegel: „Der Dichter am Klassenziel“
- 28. April 2005: Über Detlef Altenbecks Coburger „Karlos“-Inszenierung
Literatur
Ausgaben
- Tankred Dorst: Karlos. Ein Drama. Mitarbeit Ursula Ehler. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990, Erstausgabe, 111 Seiten. ISBN 3-518-40216-1.
- Karlos. Ein Drama. S. 297–362 in Tankred Dorst. Wie im Leben wie im Traum und andere Stücke. Mitarbeit Ursula Ehler. Werkausgabe 5 (Inhalt: Eisenhans.[16] Der verbotene Garten. Ich, Feuerbach. Grindkopf. Korbes. Karlos. Wie im Leben wie im Traum). Nachwort: Georg Hensel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1990 (1. Aufl.), ISBN 3-518-40217-X (Verwendete Ausgabe).
Sekundärliteratur
- Peter Bekes: Tankred Dorst. Bilder und Dokumente. edition spangenberg, München 1991, ISBN 3-89409-059-6
- Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): text + kritik Heft 145: Tankred Dorst. Richard Boorberg Verlag, München im Januar 2000, ISBN 3-88377-626-2
- Gero von Wilpert: Lexikon der Weltliteratur. Deutsche Autoren A–Z. Stuttgart 2004, ISBN 3-520-83704-8, S. 126, linke Spalte
Weblinks
- 8. April 1990, Inszenierung Schauspielhaus Bonn: Foto der Kahlen Anna
- Anno 1990, Literaturkurs Burggymnasium Altena
- Herbst 2005: Theater Hannover
Anmerkung
- Wie es scheint, liegt ein Fall von dichterischer Freiheit vor. Austria siegte bei Lepanto erst reichlich drei Jahre nach Karlos' Tode.
Einzelnachweise
Teilweise in spanischer Sprache
- Erken bei Arnold, S. 87, linke Spalte, vorletzter Eintrag
- span. Fernando Valdés Salas
- Verwendete Ausgabe, S. 347, 21. Z.v.o.
- Hensel im Nachwort der verwendeten Ausgabe, S. 439, 3. Z.v.u. bis S. 442, 14. Z.v.u.
- Hensel im Nachwort der verwendeten Ausgabe, S. 441, 8. Z.v.u.
- Hensel im Nachwort der verwendeten Ausgabe, S. 442, 22. Z.v.o.
- Hensel im Nachwort der verwendeten Ausgabe, S. 442, 20. Z.v.o.
- Verwendete Ausgabe, S. 338, 13. Z.v.u.
- Verwendete Ausgabe, S. 345, 17. Z.v.u.
- Verwendete Ausgabe, S. 349, 8. Z.v.o.
- Verwendete Ausgabe, S. 332, 9. Z.v.u.
- Verwendete Ausgabe, S. 306, 16. Z.v.o.
- Bekes, S. 76, Foto: Oda Sternberg
- Bekes, S. 77, Foto: Stefan Odri
- Bekes, S. 78, Foto: Kai-Uwe Rosseburg
- siehe auch Eisenhans (Film)