Guido Reil
Guido Thorsten Reil (* 19. Januar 1970 in Gelsenkirchen) ist ein deutscher Politiker (AfD) und ehemaliger Bergmann. Für seinen Übertritt von der SPD zur AfD nach 26 Jahren Mitgliedschaft wegen seiner Kritik an der SPD-Politik während der Flüchtlingskrise erhielt er bundesweite Medienaufmerksamkeit. 2019 wurde er ins Europäische Parlament gewählt.[1]
Leben
Reil wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Als er fünf Jahre alt war, wurde sein Vater mit 31 Jahren zum Frührentner und Pflegefall.[2] Seit seinem Hauptschulabschluss mit 16 Jahren war er im Bergbau tätig, wo er zunächst eine Ausbildung zum Schlosser absolvierte.[3][4] Bis zu dessen Schließung 2018 arbeitete er als Steiger im Bergwerk Prosper-Haniel und war dort auch als Gewerkschafts- und Betriebsratsmitglied aktiv.[4][5] Reil ist mit einer Russin[6][7] verheiratet.[8]
SPD-Mitglied
Reils Vater und sein Großvater waren SPD-Mitglieder, er selbst trat mit 20 Jahren in die Partei ein. Dort war er von 2004 bis 2014 Vorsitzender des Ortsvereins Essen-Karnap.[9] Seit der Kommunalwahl 2009 war er Ratsherr für Karnap im Essener Stadtrat.
Als in Reils Stadtteil Essen-Karnap, der damals bereits einen hohen Migrantenanteil aufwies, Flüchtlinge untergebracht werden sollten, organisierte er als SPD-Mitglied Anfang 2016 eine Demonstration dagegen. Die damalige nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) intervenierte jedoch und erreichte die Absage der Veranstaltung.[5] Anfang Mai 2016 kandidierte Reil als stellvertretender SPD-Vorsitzender in Essen und verband seine Bewerbung mit der Forderung nach einer Kurswende in der Flüchtlingspolitik, womit er nach eigenen Angaben auch die SPD retten wollte. Kurz zuvor hatte er sich bereits in einem Interview kritisch geäußert und war als SPD-Parteirebell bundesweit in den Medien zitiert worden.[10] Nach einer heftigen Kontroverse mit dem Essener SPD-Vorsitzenden Thomas Kutschaty erhielt er jedoch nur 21,5 Prozent der Stimmen. Am 11. Mai 2016 trat Reil nach 26 Jahren Mitgliedschaft aus der SPD aus[10] und im Juli 2016 in die AfD ein.[11] Er begründete den Schritt damit, nicht mehr zu ertragen, wie sich seine Partei der Realität verweigere.[4][5][8][11][12][13][6][14][15]
AfD-Mitglied
Guido Reil wurde für die anstehende Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2017 auf Platz 26 der AfD-Landesliste gesetzt und absolvierte eine Reihe von Wahlkampfauftritten im Ruhrgebiet.[16][17][18] Während des Wahlkampfs verübten Unbekannte Anschläge auf Reils Haus und das Auto seiner Ehefrau.[19][20][21] Reil trat in den Talkshows Hart aber fair und Markus Lanz auf.[22][23][24] Als Direktkandidat des Wahlkreises 65 Essen I-Mülheim II erhielt er 13,35 Prozent der Stimmen. Die AfD erhielt 13,11 Prozent der Zweitstimmen.[25] In seinem Wohnort Essen-Karnap entfielen 20,3 Prozent und im Stadtteil Vogelheim 22,1 Prozent der Zweitstimmen auf die AfD, die dort vor der CDU zweitstärkste Partei wurde, in Altenessen und Bergeborbeck jeweils mehr als 15 Prozent.[26][27][28]
Bei der Bundestagswahl im September 2017 trat Reil im Bundestagswahlkreis Essen II an. Auf ihn entfielen 15,8 Prozent der Erst- und auf seine Partei 15 Prozent der Zweitstimmen im Wahlkreis. Ein Bundestagsmandat erhielt er erwartungsgemäß nicht.[29][30]
Auf dem 7. Bundesparteitag der AfD in Hannover vom 2. bis 3. Dezember 2017 wurde Reil als dritter Beisitzer mit 55,53 % der Delegiertenstimmen in den Bundesvorstand der Partei gewählt.[31][32] In seiner Bewerbungsrede beschrieb er die „Entdämonisierung“ der AfD als seine Aufgabe. Der Partei würden zu Unrecht antidemokratische Umtriebe vorgeworfen, sie stehe jedoch auf dem Boden der freiheitlichen Grundordnung. Seine Themen im Bundesvorstand seien Arbeit und Soziales, das Ruhrgebiet solle „zur Herzkammer der AfD“ werden.[33]
Der New York Times gegenüber erklärte Reil später, es gebe Pläne für den Aufbau einer bundesweiten AfD-nahen Gewerkschaft, und kündigte eine Revolution insbesondere in der Automobilindustrie an.[34]
Für die Europawahl 2019 wurde Reil auf Listenplatz 2 der AfD hinter Jörg Meuthen gewählt.[35] Sein Ziel sei die „Rettung des Ruhrgebiets“, was nicht von Essen oder Düsseldorf aus, sondern nur in Berlin oder Brüssel möglich sei, da die EU immer neue Kompetenzen an sich reiße.[36][37]
Konflikt mit Arbeiterwohlfahrt
Nach Reils Übertritt zur AfD betrieb der Essener Kreisverband der SPD-nahen Arbeiterwohlfahrt (AWO) seinen Ausschluss. Reil war dort seit 25 Jahren Mitglied und einer der Initiatoren eines Seniorenbus-Fahrdienstes gewesen. Im Februar 2017 bestätigte das Schiedsgericht des AWO-Bezirks Niederrhein, im Oktober 2017 das Bundesschiedsgericht die zunächst befristete Aussetzung seiner Mitgliedschaft für ein Jahr. Reil habe sich unter anderem grundlegend kritisch über die Integrationsfähigkeit von Menschen aus arabischen Kulturen und den Zuzug von Sinti und Roma in Gelsenkirchen geäußert, was „rassistisch“ sei. Mit derartigen Aussagen habe er sich „bewusst in einen unüberbrückbaren Widerspruch zu Grundwerten der AWO gesetzt“. Der endgültige Ausschluss sei noch abzuwenden, wenn er „binnen Jahresfrist selbstkritisch von seinen Ansichten abschwöre“.
Reil selbst sah in den ihm vorgeworfenen Aussagen lediglich eine Beschreibung der Realität. Er gab an, Mitglied der AWO bleiben und weiterhin persönlich das Seniorenbus-Projekt unterstützen zu wollen. Den Grundwerten des Verbands fühle er sich weiterhin verbunden, deshalb wolle er nun den zivilrechtlichen Weg beschreiten.[38][39][40][41]
Rechtsstreit mit Arbeitgeber
Zeitlich zusammenfallend mit dem Beginn seines Engagements bei der AfD[29] begann ein Konflikt zwischen Reil und seinem Arbeitgeber RAG (ehemals Ruhrkohle AG), der ihn zwar weiterhin als Steiger beschäftigte, ihn aber seine alte Abteilung nicht mehr führen ließ. Stattdessen wurde er als Seilfahrtaufseher eingesetzt, wobei er nach eigenen Angaben wenig zu tun hatte und wegen wegfallender Schichtdienste monatlich rund 2000 Euro weniger verdiente. Reil sah darin eine Degradierung wegen seines Parteiübertrittes und erhob Klage vor dem Arbeitsgericht Herne. Die Anwältin der RAG erklärte, „gesundheitliche Einschränkungen“ und die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers seien Grund für die Versetzung gewesen.
Reil erklärte vor Gericht, neben finanziellen Einbußen und Frustration, weil er eine verpönte Handlangertätigkeit erledigen müsse, die stundenlangen Leerlauf bedeute, führe sein neuer Einsatzort zu mehr gesundheitlichen Beschwerden als sein alter. Die Richterin bezweifelte, dass der neue Einsatz auch „vertragsgerecht“ sei, und riet zu einer gütlichen Einigung, da sonst ein aufwendiges Verfahren drohe. Die Vertreterin der RAG sagte eine Prüfung zu.[42]
Ingewahrsamnahme vor Mai-Demonstration
Als Reil an einer Demonstration zum 1. Mai 2018 in Essen teilnehmen wollte, wurden er und Personenschützer, die ihn begleiteten, von der Polizei angehalten. Bei einem der Sicherheitsleute wurde Pfefferspray gefunden, dessen Mitführung bei Demonstrationen verboten ist. Die Polizei erteilte deshalb der gesamten Gruppe einen Platzverweis. Reil widersetzte sich mit Worten und wurde daraufhin in Polizeigewahrsam genommen. Eine Anwaltskanzlei erhob später in Reils Auftrag schwere Vorwürfe und kündigte eine Klage vor dem Verwaltungsgericht auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahmen an. Der Ausschluss des Sicherheitsmitarbeiters sei gerechtfertigt gewesen, nicht jedoch der Ausschluss der ganzen Gruppe. Die Polizeiaktion sei unverhältnismäßig, über die Fortsetzung der Ingewahrsamnahme hätte richterlich entschieden werden müssen. Die Polizei widersprach, der Eingriff sei berechtigt gewesen.[43][44]
Spenden aus der Schweiz
Im Juli 2017 wurde bekannt, dass Reil im Wahlkampf Geld oder Leistungen von Spendern aus der Schweiz angenommen hatte. Die Annahme von Spenden aus dem Nicht-EU-Ausland ist deutschen Politikern verboten, ausgenommen sind unter anderem Spenden von Einzelspendern bei weniger als 1000 Euro. In der Zeit als Kandidat der AfD-Landesliste für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2017 und AfD-Direktkandidat in Essen nahm er die Hilfe der Schweizer PR-Agentur Goal in Anspruch. Die von Alexander Segert geführte Agentur hatte angeboten, seinen Wahlkampf mit Plakaten in seinem Wahlkreis im Essener Norden zu unterstützen. Die Agentur hatte erklärt, die Kosten seien gedeckt, aber nicht von wem. Reil erteilte der Goal AG eine „Nutzungserlaubnis“ und schickte Fotos von sich in die Schweiz.[45] Es kam zu einer juristischen Sanktionierung.[46][47]
Buch
- Wahrheit statt Ideologie: Was mir auf der Seele brennt, Berns photographie Verlag, Essen 2017, ISBN 978-3-932177-22-4.
Weblinks
- Literatur von und über Guido Reil im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Offizieller Internetauftritt von Guido Reil
- Guido Reil auf afd.nrw
- Guido Reil in der Abgeordneten-Datenbank des Europäischen Parlaments
Einzelnachweise
- Alphabetisches Verzeichnis aller Gewählten - Der Bundeswahlleiter. Abgerufen am 27. Mai 2019.
- Frédéric Schwilden: Guido Reil: Der traurigste Mann der AfD. In: welt.de. 13. Mai 2019, abgerufen am 15. Mai 2019.
- Radio Essen Bus-Wahl-Talk mit Guido Reil (AfD). 102.2 Radio Essen, 20. September 2017, abgerufen am 9. Februar 2018 (Video auf YouTube).
- Fabian Klask: Herr Reil schwenkt um. In: Die Zeit. 24. November 2016, abgerufen am 29. Januar 2019.
- Florian Gathmann: SPD-Kommunalpolitiker "Meine Partei spielt der AfD in die Karten". In: Spiegel online. 27. Januar 2016, abgerufen am 29. Januar 2019.
- Thomas Schmelzer: AfD im Ruhrgebiet: Guido Reils Rachefeldzug gegen die SPD, Wirtschaftswoche, 9. Mai 2017.
- Florian Gathmann: "Meine Partei spielt der AfD in die Karten". In: Spiegel Online. Spiegel-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG, 27. Januar 2016, abgerufen am 10. Mai 2020.
- Reinhard Kowalewsky: Erst SPD, jetzt AfD: Der Seitenwechsler. In: RP Online. 9. September 2016, abgerufen am 29. Januar 2019.
- Denis Gollan: Karnaper SPD wählt neuen Vorstandsvorsitzenden. In: Nord-Anzeiger, 31. März 2014.
- Frank Stenglein: Essener Ratsherr Guido Reil tritt aus der SPD aus, waz.de, 11. Mai 2016
- Frank Stenglein, Wolfgang Kintscher: Essener Ex-SPD-Ratsherr Guido Reil will der AfD beitreten, WAZ, 1. Juli 2016.
- Ida Haltaufderheide: Obwohl er das ausgeschlossen hatte: SPD-Aussteiger wechselt zur AfD, Focus online, 14. Juli 2016.
- Robert Pausch: Wie zwei Genossen durch die AfD zu Rivalen wurden, Der Tagesspiegel, 12. Mai 2017.
- Matthias Kolb, Benedikt Peters: Landtagswahl: Endspurt im Rennen um Nordrhein-Westfalen, Süddeutsche Zeitung, 14. Mai 2017.
- Moma-Reporter: Sogar im Pott laufen der SPD die Wähler davon (Memento des Originals vom 1. Oktober 2017 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. , ARD-Morgenmagazin, 16. Mai 2017 (zu Guido Reil von 00:01:14 bis 00:02:28).
- Ruhrpott-Genossen liebäugeln mit der AfD (Memento vom 7. November 2017 im Internet Archive), Länderspiegel, ZDF, 13. Dezember 2016
- Ehemaliges SPD-Mitglied macht Wahlkampf für die AfD, Video-Beitrag, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. März 2017
- Timo Steppat: SPD vor Landtagswahl : Die Verteidigung der Herzkammer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Mai 2017.
- Christina Hahn: Anschlag auf Haus und Auto von Essener AfD-Politiker, WeltN24, 21. April 2017.
- Haus von Essener AfD-Politiker Reil beschmiert, WDR, 21. April 2017.
- Jennifer Schumacher, Frank Stenglein, Jörg Maibaum: Haus von AfD-Politiker Guido Reil beschmiert, Auto demoliert, WAZ, 21. April 2017.
- Guido Reil bei Markus Lanz, 20. September 2016, Youtube-Mitschnitt
- Guido Reil bei Hart aber fair, 5. September 2016, Youtube-Mitschnitt
- Frank Lübberding: TV-Kritik: Hart aber fair : Sind die Bürger überfordert - oder die Kanzlerin?, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. September 2016.
- Landtagswahl 2017: So hat der Wahlkreis 65 Essen I gewählt, WAZ, 14. Mai 2017.
- Christian Parth: Die rechte Hochburg Ruhr, Frankfurter Rundschau, 16. Mai 2017.
- AfD erreicht in zwei Essener Stadtteilen über 20 Prozent, General-Anzeiger, 16. Mai 2017.
- Besuch im Guido-Reil-Land: Warum die AfD im Essener Norden so erfolgreich war, DerWesten, 15. Mai 2017
- Frank Stenglein: Kein Mandat – Guido Reil will nun in den AfD-Bundesvorstand, WAZ, 25. September 2017.
- Bundestagswahl – So hat der Wahlkreis 119 Essen II gewählt, WAZ, 25. September 2017.
- Alice Weidel als Beisitzerin in AfD-Vorstand gewählt, Zeit online, 3. Dezember 2017.
- Essener Guido Reil in AfD-Bundesvorstand gewählt, wdr.de, 3. Dezember 2017
- Essener Guido Reil in den AfD-Bundesvorstand gewählt, WAZ, 3. Dezember 2017.
- Katrin Bennhold: Workers of Germany, Unite: The New Siren Call of the Far Right, New York Times, 5. Februar 2018.
- Essener Reil auf AfD-Listenplatz zwei für die Europawahl, WeltN24, 17. November 2018.
- Daniel Sobolewski: „Brüssel ist ein Irrenhaus!“ Guido Reil erklärt Kandidatur für das Europa-Parlament – und plant eine eigene „Sendung mit der Maus“, DerWesten, 6. Oktober 2018.
- W. Kintscher: AfD-Frontmann Guido Reil kandidiert fürs Europa-Parlament, Neue Ruhr Zeitung, 23. September 2018.
- Moritz Küpper: AWO will AfD-Mitglied loswerden, Deutschlandfunk, 15. Dezember 2016.
- Frank Stenglein: Awo-Bundesschiedsgericht bestätigt Ausschluss von Guido Reil, WAZ, 16. Oktober 2017.
- Christina Hahn: AfD-Landtagskandidat darf nicht mehr für die Awo arbeiten, WeltN24, 17. Februar 2017.
- AfD-Mann Guido Reil spricht von „Awo-Volksgerichtshof“, WAZ, 20. Oktober 2017.
- Wolfgang Kintscher: Guido Reil kontra RAG: „Er steht da und wartet auf Arbeit“, Neue Ruhr Zeitung, 17. Januar 2018.
- Matthias Biesel: Essener AfD-Mann Guido Reil erhebt in Anwalts-Schreiben Vorwürfe gegen die Polizei, DerWesten, 17. Mai 2018. Das darin verlinkte anwaltliche Schreiben ist hier veröffentlicht (PDF-Datei).
- Jürgen von Polier, Daniel Sobolewski: Bei Demo zum 1. Mai in Essen: AfD-Politiker Guido Reil in Polizeigewahrsam genommen, DerWesten, 1. Mai 2018.
- Marcus Bensmann, Justus von Daniels: AfD zahlt fragwürdige Wahlkampfspende für Vorstand Reil bislang nicht zurück. Correctiv, 24. August 2018, abgerufen am 29. Januar 2019.
- Sabine am Orde: Bundestag ahndet illegale Parteispende: AfD bekommt teuren Strafbescheid. In: Die Tageszeitung: taz. 16. April 2019, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 7. Juli 2021]).
- Illegale Parteispenden: AfD muss mehr als 400.000 Euro Strafe zahlen. Abgerufen am 7. Juli 2021.